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Ein Dogma stirbt

Warum das Ende des Wirtschaftsliberalismus naht
Essay: Josef Naef

Die vergangenen 250 Jahre haben gezeigt: Nur weil es der Wirtschaft gut geht, geht es der Gesellschaft noch lange nicht gut. Die Elite hält zwar an der Gleichung "unternehmerische Freiheit = Wohlstand" nach wie vor fest. Doch die Unstimmigkeiten werden zunehmend deutlich. Höchste Zeit, neu zu rechnen.

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Geht es der Wirtschaft gut, geht es uns allen gut. Wohl jeder kennt diesen Slogan. Er steht für die Grundidee unseres liberalen Wirtschaftssystems. Danach muss man der Wirtschaft Freiheiten gewähren. Nur dann erblüht der Unternehmergeist und die Unternehmen sind in der Lage, sowohl bestehende als auch neue Bedürfnisse zu befriedigen, Arbeitsplätze und Steuereinnahmen zu generieren, ja den gesellschaftlichen Wohlstand und die Zufriedenheit der Menschen zu steigern. 

In den vergangenen 250 Jahren haben sich verschiedene Theorien zum Wirtschaftsliberalismus herausgebildet. Was auffällt: Jede Theorie sah ein Korrektiv vor - damit die Förderung und Stärkung des Unternehmergeistes mithilfe von Freiheit auch tatsächlich dem Gemeinwohl und der Zufriedenheit der Menschen zugutekommt - Ethik, Weitsicht, eine ordnende Ratio. In der Praxis hat das jedoch nicht funktioniert. Die gesellschaftlichen Probleme, die der Wirtschaftsliberalismus verursacht hat, waren und sind immens. Insofern lautet meine These: Auch wenn die Elite aus Wirtschaft und Politik am derzeit herrschenden Wirtschaftsmodell festhält - ein Paradigmenwechsel ist bereits im Gang. Und mit der gesellschaftlichen Durchdringung der vierten industriellen Revolution wird die Zeit des Wirtschaftsliberalismus zu Ende gehen. Der heute kaum hinterfragte Konnex zwischen der Förderung des Unternehmergeistes mithilfe von Freiheit einerseits und der Steigerung des Gemeinwohls und der Zufriedenheit der Menschen andererseits wird seine Kraft als selbstverständliches Denk- und Handlungsmuster dann verloren haben.


Klassischer Liberalismus - Ethik als Korrektiv


Mit dem Werk The Wealth of Nations, erschienen 1776, begründete der schottische Moralphilosoph Adam Smith die moderne Volkswirtschaftslehre. Smith lebte in der Zeit des Deismus. Nach dieser Religionsphilosophie hat Gott die Welt geschaffen, greift jedoch nicht mehr in das Weltgeschehen ein. Gott als der Gütige, Vollkommene und Allmächtige wollte sicher kein Elend auf der Welt, folglich müssen die Menschen die Schöpfungsideen falsch verstanden haben. Nach den Untersuchungen von Smith hat Gott die Menschen mit zwei handlungswirksamen Neigungen ausgestattet, nämlich mit Egoismus und mit ethischen Gefühlen. Diese beiden Neigungen führen zu einem Gleichgewicht - das ist die unsichtbare Hand des Adam Smith, nämlich die List Gottes! -, und zwar mit dem Ergebnis des bestmöglichen gesellschaftlichen Wohlstandes. Damit die Idee des Gleichgewichts jedoch überhaupt zum Tragen kommen kann, muss den Menschen Freiheit gewährt werden. Freiheit ist in diesem Kontext als natürliche beziehungsweise göttliche Freiheit zu verstehen. 

Zur Veranschaulichung drei Zitate aus dem Werk Theorie der ethischen Gefühle:  

"Da alle Ereignisse in dieser Welt durch die Vorsehung eines weisen, mächtigen und guten Gottes gelenkt werden, können wir versichert sein, dass alles, was geschieht, darauf abzielt, das Wohlergehen und die Vervollkommnung des Ganzen zu befördern." 

"Von einer unsichtbaren Hand werden sie dahin geführt, beinahe die gleiche Verteilung der zum Leben notwendigen Güter zu verwirklichen, die zustande gekommen wäre, wenn die Erde zu gleichen Teilen unter alle ihre Bewohner verteilt worden wäre; und so fördern sie, ohne es zu beabsichtigen, ja ohne es zu wissen, das Interesse der Gesellschaft und gewähren die Mittel zur Vermehrung der Gattung." 

"Mag man den Menschen für noch so egoistisch halten, es liegen doch offenbar gewisse Prinzipien in seiner Natur, die ihn dazu bestimmen, an dem Schicksal anderer Anteil zu nehmen, und die ihm selbst die Glückseligkeit dieser anderen zum Bedürfnis machen, obgleich er keinen anderen Vorteil daraus zieht, als das Vergnügen, Zeuge davon zu sein." 

Smith Klassischer Liberalismus mit Ethik als Korrektiv hat jedoch, wie wir heute wissen, nicht zu dem von ihm erwarteten Gleichgewicht und dem nach seiner Theorie daraus resultierenden bestmöglichen gesellschaftlichen Wohlstand geführt. Die Lange Depression zwischen 1870 und 1890, aber auch konkurrierende Theorien wie der Frühsozialismus, der Marxismus und die Historische Schule führten zu einer Erneuerung der wirtschaftsliberalen Theorie.


Neoklassik - Vernunft als Korrektiv


Die Werke zur Grenznutzenlehre von William Stanley Jevons und Carl Menger können als der Beginn des neoklassischen Paradigmas betrachtet werden. Die Grenznutzenlehre bewirkte die Abkehr von der objektiven Wertlehre des Klassischen Liberalismus. Das heißt, den vornehmlich durch Arbeit produzierten Gütern kommt kein objektiver Wert mehr zu, sondern bloß noch ein subjektiver, und zwar in Abhängigkeit von den individuellen Besitzverhältnissen. Die Grenznutzenlehre führte zum Ende der politischen Ökonomie, da die Frage nach der gerechten (politischen) Verteilung nun aufgrund der subjektiven Bewertung der einzelnen Güter sehr viel schwieriger wurde. Fortan standen nicht mehr die Verteilungs-, sondern die Tauschprozesse im Zentrum der ökonomischen Untersuchungen.  

Noch sehr viel stärker als Adam Smith orientierten sich die Neoklassiker am Gleichgewichtsdenken. Ähnlich einem physikalischen System soll das Wirtschaftsgeschehen mithilfe von mathematischen Methoden exakt bestimmbar gemacht werden. Da nun die Tauschprozesse im Zentrum stehen, musste ein Modell für die Berechenbarkeit und Prognostizierbarkeit der Tauschprozesse seitens der Wirtschaftsakteure entwickelt werden. Es entstand das theoretische Konstrukt des Homo oeconomicus. Nach diesem Modell maximieren Wirtschaftsakteure ihren Eigennutzen, indem sie sich an den eigenen Präferenzen einerseits und den Restriktionen wie beispielsweise Zeit, Geld oder Fähigkeit andererseits orientieren. Rationales Denken, hinreichende Informationen, Willensstärke, zielführendes Urteilsvermögen, intelligente Selbstbeschränkung sowie Nachhaltigkeit in der Denkweise werden implizit angenommen. Irrationalität, Willensschwäche, fehlende Informationen sowie ethische, soziale und ästhetische Bedürfnisse werden zwar nicht verneint, jedoch gleichwohl explizit ausgeklammert, wie der Ökonom Gebhard Kirchgässner in seinem Buch Homo oeconomicus schreibt. Denn mit dem Einbezug dieser Phänomene hätte die Eigennutzen-Maximierung eine psychologische Komponente erhalten, mit der Konsequenz, dass ein mathematisch stimmiges Gleichgewichtsmodell kaum je hätte erreicht werden können. Da die Eigennutzen-Maximierung auf der Basis von gegenseitigem Nutzengewinn bei den freien Tauschhandlungen zustande kommt, sind Letztere mit dem Gemeinwohl verträglich.  

Der Erste Weltkrieg, die Oktoberrevolution 1917 in Russland und die außerordentlich wuchtige Weltwirtschaftskrise Ende der 1920er-Jahre markierten das vorläufige Ende des wirtschaftsliberalen Zeitalters. Die neoklassische Theorie vermochte ihr theoretisches Kernelement - die Idee eines Gleichgewichts durch Selbstregulation auf der Basis der durch die Vernunft geleiteten Menschen nach dem Modell des Homo oeconomicus - nicht mehr aufrechtzuerhalten. Um Massenarbeitslosigkeit, schlechte Versorgungslage, hohe Inflationsraten und Verteilungsprobleme zu bekämpfen, vertraute man nicht mehr den wirtschaftsliberalen Ideen, sondern der politischen Gestaltung des Wirtschaftssystems. Und mit dem Erscheinen der "General Theory" von John Maynard Keynes bekamen die politischen Interventionen in den Marktprozess die theoretischen Grundlagen.


Neoliberalismus - Ordo als Korrektiv


Der Begriff "Wirtschaftsliberalismus" war durch die Niederlage des Kapitalismus zu einem Schimpfwort geworden. Die geistigen Wortführer einer reinen Marktwirtschaft waren in den frühen 1930er-Jahren eine isolierte Minderheit, allerdings mit internationaler Besetzung und Ausrichtung. Diese Minderheit hatte die Absicht, mit einer verbesserten theoretischen Grundlage den Wirtschaftsliberalismus nicht nur wieder salonfähig, sondern auch zur führenden Wirtschaftspolitik zu machen. Es sollen sowohl die Mängel des Klassischen Liberalismus wie auch diejenigen der neoklassischen Theorie beseitigt werden. An einer Tagung in Paris im Jahre 1938 bekam diese neue wirtschaftsliberale Bewegung den Namen "Neoliberalismus", und im April 1947 kam es zu einem zehntägigen Treffen in Mont Pèlerin - ein Dorf auf dem gleichnamigen Höhenzug oberhalb Vevey -, bei dem die noch heute bestehende Mont Pèlerin Society (MPS) gegründet wurde. Im Zentrum der Diskussionen stand die Frage nach den Funktionen des Staates, damit das Marktsystem zusammen mit der Idee der individuellen Freiheit harmoniert. Das Kernproblem bestand also darin, einen Mittelweg zwischen individueller Freiheit und staatlicher Wirtschaftsordnung zu finden. Der gemeinsame Nenner der Neoliberalen war der Schutz eines auf Freiheit basierenden Wirtschaftssystems einerseits sowie der Kampf gegen Kollektivismus, Sozialismus und Kommunismus andererseits. Wichtige Vertreter waren Walter Eucken, Alexander Rüstow, Wilhelm Röpke, Alfred Müller-Armack, Karl Popper, Friedrich August von Hayek und Milton Friedman.  

Im Werk Grundsätze der Wirtschaftspolitik schreibt Eucken: "In den Wirtschaftsordnungen der industrialisierten Welt sollte eine ordnende Ratio zur Geltung kommen, die das bewältigt, was in der kleinen Eigenwirtschaft die Ratio des Leiters tagtäglich vollzieht." 

Rüstow betont im Buch Die Religion der Marktwirtschaft das Gleichgewicht zwischen Wirtschaft und ordnendem Staat: "Notwendig ist die Sicherung eines einsichtigen und haltbaren Gleichgewichts zwischen Staat und Privatwirtschaft, ein ‚abrutschfestes‘ Wirtschaftssystem, das nicht mit innerer Notwendigkeit zuletzt bei einer totalen Staatswirtschaft bolschewistischer Prägung enden muß." 

Wilhelm Röpke gibt in seinem Buch Die Lehre von der Wirtschaft zu bedenken, dass materielle Güter selbstverständlich wichtig und unentbehrlich sind, es letztlich jedoch um das sinnerfüllte Leben der Menschen geht. Nach ihm gilt es, "unsere Gesellschaft mit allen Mitteln vom Rausch der großen Zahlen, vom Kult des Kolossalen, von Zentralisierung, Überorganisation und Standardisierung, vom Pseudo-Ideal des ‚Noch größer und noch besser‘, von Vermassung und Mammutgebilden zu befreien und wieder auf das Natürliche, Menschliche, Spontane, Ausgeglichene und Mannigfaltige zurückzuführen".  

Im Jahre 1950 bekam der Neoliberalismus in Anlehnung an die Zeitschrift ORDO die Namensvariante "Ordoliberalismus" - Letzterer wird gelegentlich auch als Freiburger Schule oder als die deutsche Variante des Neoliberalismus bezeichnet. Mit der Bezeichnung "Ordoliberalismus" wollte man die Unterschiede in den theoretischen Positionen in Bezug auf das Verhältnis zwischen Staat und Wirtschaft kenntlich machen. Nach dem Ausscheiden wichtiger Vertreter des Ordoliberalismus aus der MPS bekam der angelsächsisch geprägte Neoliberalismus die Oberhand. Der österreichische Ökonom und Sozialphilosoph Friedrich August von Hayek war der wohl bekannteste und bedeutendste Vertreter des Neoliberalismus und verwarf die ordoliberale Idee, ethische und soziale Bedürfnisse mithilfe der Wirtschaftspolitik sicherzustellen. Die staatlichen Instanzen sollen sich zurückhalten, da seiner Ansicht nach die Informationen für eine gerechte und wohlstandsfördernde Inszenierung fehlen. Da die Wirtschaftsakteure ihre Entscheidungen nach dem individuellen Nutzen und Wissen fällen, werden nach von Hayek der Markt und der Preismechanismus für ein Entdeckungsverfahren sorgen, bei dem die richtigen Entscheidungen und Anpassungen evolutionär zustande kommen. Im Weiteren zeigt sich die Abkehr vom Ordoliberalismus bei Hayek im formalen beziehungsweise negativen Freiheitsverständnis.  

Von Hayek schreibt im Werk Die Anmaßung von Wissen: "Die liberale Auffassung von Freiheit ist oft als ein lediglich negativer Begriff beschrieben worden, und das zu recht. Wie Frieden und Gerechtigkeit bezieht sie sich auf die Abwesenheit eines Übels, auf eine Bedingung, die Möglichkeiten eröffnet, aber keine bestimmten Vorteile garantiert."  

Die Makroökonomie des Briten John Maynard Keynes wurde ab Mitte der 1960er-Jahre zunehmend kritisiert - vor allem von Ökonomen, die auf die Bedeutung der Geldmenge und ihrer Veränderung hinwiesen. Diese Ökonomen bekamen die Bezeichnung "Monetaristen". Mit dem Verlust des Einflusses des Keynesianismus in den 1970er-Jahren, der wegen des Fehlens einer theoretischen Grundlage für die Preisniveaustabilität kein probates Mittel gegen die Stagflation vorweisen konnte, gewann der Monetarismus sowohl als makroökonomische Wirtschaftstheorie wie auch als wirtschaftspolitisches Instrument immer mehr an Bedeutung. Und mit dem zunehmenden Einfluss des Monetarismus erlebte zugleich die Neoklassik mit dem Modell des Homo oeconomicus eine Renaissance, und zwar am auffälligsten im Postulat einer inhärenten Stabilität des privaten Sektors. Damit ist gemeint: Solange der private Sektor sich selbst überlassen bleibt, also nicht durch wirtschaftspolitische Eingriffe gestört wird, tendiert die Marktwirtschaft vor dem Hintergrund einer stabilen Geldnachfrage und mithilfe des Preismechanismus zum Gleichgewicht. Der Ordo-Gedanke des früheren Neoliberalismus wurde zugunsten der Steuerung der Geldmengenpolitik aufgegeben.  

Während bis in die 1970er-Jahre die Wirtschaftspolitik durch den Gedanken der sozialen Marktwirtschaft auf der Basis der ordoliberalen Theorien geprägt war, fand nun ein Paradigmenwechsel innerhalb des Neoliberalismus statt. In den Hochschulen gewann die Neoklassik mit der bereits früher gescheiterten Vernunft als Korrektiv wieder die Vorherrschaft in der Lehre. Den neoliberalen Thinktanks gelang es mithilfe von Schlagwörtern wie Liberalisierung, Deregulierung, Privatisierung, Freihandel und Steuersenkung, die Wirtschaftspolitiken zu durchdringen. Und die gesellschaftliche beziehungsweise soziale Verantwortung seitens der Unternehmen war fortan auf die Gewinnmaximierung ausgerichtet: "The Social Responsibility of Business is to Increase its Profits" lautet der Titel eines Essays von Milton Friedman, dem wohl bekanntesten Monetaristen, aus dem Jahre 1970. Der Neoliberalismus mit dem Ordo-Korrektiv war gescheitert, mit der Konsequenz, dass der volkswirtschaftliche Standortwettbewerb zunehmend ins Zentrum der Wirtschaftspolitik rückte.


Neoliberale Laissez-faire-Wirtschaftspolitik


Der Neoliberalismus ohne Ordo-Leitgedanken begann seinen Siegeszug in Großbritannien unter Margaret Thatcher und in den USA unter Ronald Reagan. Forscher des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung untersuchten 2009 anhand von Daten aus 21 OECD-Ländern die realisierten Liberalisierungsmaßnahmen im Zeitraum zwischen 1980 und 2005. Die Studie zeigt, dass die entwickelten Industriestaaten spätestens in den 1980er-Jahren in eine liberalisierungspolitische Phase eingetreten sind, in der die Länder nicht nur parallele Liberalisierungspolitik betrieben haben, sondern sich die staatliche Interventionspolitik betreffend immer ähnlicher wurden. Die Forscher gehen davon aus, dass die Liberalisierungsmaßnahmen im Dienste des Standortwettbewerbs noch längst nicht abgeschlossen sind. Den Nationalbanken obliegt es, die Geldmenge für die Erhaltung der Stabilität zu steuern, wobei die Steuerung der Geldmenge nur sehr beschränkt möglich ist, weil der überwiegende Teil des sich in Umlauf befindlichen Geldes nicht durch die Nationalbanken geschöpft ist, sondern durch die Geschäftsbanken. Die wirtschaftspolitische Maxime "Wachstum" gilt als das probate Mittel gegen Arbeitslosigkeit und die steigende Verschuldung. Die Politik pflegt eine Beruhigungsrhetorik, indem gravierende gesellschaftliche Probleme wie Umweltzerstörung, Vermögenskonzentration, "too big to fail", neue Armut in den ökonomisch fortgeschrittenen Volkswirtschaften, Zunahme der Arbeitslosigkeit trotz Wirtschaftswachstum, Gesundheitsgefährdung durch erodierende Arbeitsbedingungen, Verletzung von Gesetzen durch Konzerne im Rahmen eines ökonomischen Kalküls, Zunahme des intransparenten Wirtschaftslobbyismus, verheerende Verschmutzung der Weltmeere und Flussgewässer und Ausbeutung der natürlichen Ressourcen keinen gebührenden Platz auf der politischen Agenda bekommen. Betreffend Gesetzesdichte zeigt sich eine Dialektik zwischen Deregulierung und Regulierung. Die Regulierungsdichte und Bürokratie sind keineswegs weniger geworden, sondern haben im Gegenteil zugenommen. Die Veränderung der regulatorischen Struktur zugunsten der multinationalen Unternehmen führt nämlich zu unerwünschten Auswirkungen, die dann mit neuen Gesetzen bekämpft werden - leider handelt es sich hierbei ausschließlich um die Bekämpfung der Symptome.


Erst einmal noch weiter wie gehabt


Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass in jüngster Zeit die politischen Systeme nach der tief greifenden Liberalisierung nun versuchen, den Unternehmen gesellschaftliche Verantwortung nahezulegen - als ob die Geschichte uns nicht lehren könnte, dass sowohl Ethik als auch Vernunft nachweislich versagt haben. Die Wirtschaftspolitiker glauben, dass mit der maximalen Freiheit an die Adresse der Unternehmen das Gemeinwohl befördert werde - und versuchen dementsprechend alles zu verhindern, was die Freiheit von Unternehmen einschränken könnte. Und das, obwohl die gravierenden Probleme im Zusammenhang mit der neoliberalen Laissez-faire-Wirtschaftspolitik nicht kleiner, sondern größer werden. Aus mehreren Gründen wird ihnen das auch weiterhin gelingen. Erstens ist die Mainstream-Ökonomie, bestehend aus Neoklassik und Neoliberalismus, durch die Lehre an den Hochschulen bei den Führungspersonen der Wirtschaft sowie bei den politischen (Wirtschafts-)Verwaltungen gesellschaftlich gut abgestützt. Zweitens leisten die neoliberalen Thinktanks mit ihrer Propaganda für die freie Marktwirtschaft herausragende Arbeit. Drittens bedient die herrschende Wirtschaftspolitik unsere Neigung zum hedonistischen Lebensstil, mit der schnellen Lustbefriedigung im Zentrum, in beinahe perfekter Manier. Viertens sind die Menschen in den ökonomisch fortgeschrittenen Volkswirtschaften selbst von schwerwiegendsten Problemen (noch) nicht existenziell betroffen, so zum Beispiel hinsichtlich der Klimaerwärmung oder der Zerstörung der natürlichen Ressourcen. Fünftens sind die gesellschaftlichen Auswirkungen der neoliberalen Laissez-faire-Wirtschaftspolitik in vielen Fällen nur indirekt feststellbar, sodass der Zusammenhang mit der fehlgeleiteten Wirtschaftspolitik nicht offensichtlich wird - zum Beispiel bei der Vermögens- und Unternehmenskonzentration oder bei der exorbitanten Staats- und Privatverschuldung. Sechstens können sich Menschen gut auf neue Situationen einstellen, während wir schleichende Veränderungen nicht wirklich gut zu erkennen vermögen. So wird beispielsweise die Verschlechterung der Arbeitsbedingungen oder der Verlust wichtiger sozialer Beziehungen aufgrund der zunehmenden Zeitknappheit lange nicht bemerkt.  

Nichtsdestotrotz: Es mehren sich die Anzeichen, dass das Ende der neoliberalen Laissez-faire-Wirtschaftspolitik absehbar und der Paradigmenwechsel bereits im Gange ist. Die vierte industrielle Revolution wird das Wirtschaftssystem grundlegend verändern. In den meisten Arbeitsbereichen übernehmen Robotik und künstliche Intelligenz eine Vielzahl von Arbeiten, die vorher durch Menschen ausgeführt wurden. Studien von renommierten Forschungsinstituten, zum Beispiel von Oxford, gehen davon aus, dass innerhalb der nächsten Jahrzehnte die Hälfte der Arbeitsplätze verloren geht. Uneinig sind sich die Forscher über die Anzahl der Arbeitsstellen, die durch die neuen Technologien entstehen. Die Verweise auf die Vergangenheit, in der die Anzahl der neu geschaffenen Stellen jeweils größer war als die Zahl der Arbeitsplätze, die durch technologische Innovationen wegrationalisiert wurden, könnten sich als Trugschluss erweisen. Denn erstens ist die Projizierung der Vergangenheit in die Zukunft methodologisch gesehen sehr fragwürdig und zweitens wird das exponentielle Wachstum der Technologie unterschätzt. Und zwar, indem zu wenig erkannt wird, dass auch die neuen Tätigkeiten durch die technologischen Innovationen erledigt werden - zum Beispiel produzieren sich 3-D-Drucker selbst!  

Mit der vierten industriellen Revolution wird das Wirtschaftswachstum von der Beschäftigungsquote weitgehend entkoppelt sein. Die Frage, ob es den Menschen gut geht, wird unabhängig von der Frage "Wie geht es den Unternehmen?" beantwortet werden müssen. Die bereits heute sichtbare Auflösung des auf Vertrauen, Loyalität und Verantwortungsbewusstsein basierenden Verhältnisses zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber nimmt seinen Fortgang. Zu den bestehenden gravierenden gesellschaftlichen Problemen kommt nun also auch noch der Verlust von Arbeitsstellen in einer bislang unbekannten Dimension dazu. Dies wird das Fass zum Überlaufen bringen und der Zeit des Wirtschaftsliberalismus ein Ende setzen.


Der Geschichte einen Sinn geben


Die Theorien zum Wirtschaftsliberalismus sind mit Blick auf die menschliche Freiheit gescheitert. Nicht nur Sozialismus, Marxismus oder Kommunismus haben ihre Legitimation verloren, sondern auch der Wirtschaftsliberalismus. Sehr viele Menschen sind mit dem derzeit herrschenden Wirtschaftssystem nicht mehr zufrieden - die seit November 2014 offene Ausstellung "Geld" im Stapferhaus im schweizerischen Lenzburg besuchten bis Februar 50.000 Menschen. Im Rahmen einer Umfrage wurde den Besuchern genau die Frage gestellt: "Geht es der Wirtschaft gut, geht es uns dann allen gut?" - 53 Prozent beantworteten diese Frage mit "Nein"! 

Nach Karl Popper hat die Geschichte keinen inhärenten Sinn. Wir können ihr jedoch einen Sinn geben, indem wir aus den Fehlern lernen. Der Glaube, dass nach dem Wirtschaftsliberalismus keine neuen und besseren Theorien für das Wirtschaftssystem möglich sind, ist wissenschaftlich unhaltbar. Ob allerdings die heute etablierte Wissenschaft der Ökonomie den Paradigmenwechsel, der die gesamte (Welt-)Gesellschaft verändern wird, begleiten wird, ist fraglich. Zu sehr hat sich die Mainstream-Ökonomie mit ihrer Orientierung an einer Pseudo-Exaktheit und der Anlehnung an die Mathematik in eine Sackgasse manövriert. Drei gravierende Mängel der Mainstream-Ökonomie fallen dabei besonders auf: Erstens kämpft sie zwar gegen die Freiheitsbeschränkung seitens des Staates an die Adresse der Wirtschaftskonzerne, ignoriert aber die wirtschaftliche Macht- und Finanzkonzentration, obgleich dadurch die Freiheit anderer Wirtschaftsakteure, sei es der Konsumenten, der Arbeitnehmer, der Kleinunternehmer oder gar der politischen Systeme, bis zur Abhängigkeit beschränkt werden kann. Zweitens hat sich die Mainstream-Ökonomie nie um eine wissenschaftlich anerkannte Erkenntnistheorie bemüht. Sie betont die formale Handlungsfreiheit und beantwortet die Frage der Willensbildung mit dem empirisch unhaltbaren Modell des Homo oeconomicus - mit der Konsequenz, dass die Schwächen dieses Modells in der Gesellschaft nun ihren eklatanten Niederschlag finden. Drittens verletzt die Mainstream-Ökonomie die wissenschaftlichen Standards, allen voran diejenigen des Kritischen Rationalismus. An Theorien festzuhalten, obschon deren Mängel offensichtlich sind und das an diesen Theorien orientierte Handeln im Bereich der Umwelt sogar die menschliche Existenz bedroht, ist das sichere Zeichen einer Ideologie.


Die Elite ist ver-rückt und die Zukunft offen


Die Zukunft ist offen, aber zugleich auch die Nahtstelle zur Gegenwart. Neue Wirtschafts- und Gesellschaftstheorien werden von einem in der Bedeutung veränderten Freiheitsbegriff ausgehen. Nicht mehr Eigentum im Sinn des exklusiven Gebrauchs und Nutzens wird im Zentrum des Freiheitsverständnisses stehen, sondern die Möglichkeit des Zuganges zu den verschiedensten Plattformen für das tägliche Leben. Die den Tauschprozess primär unterstützende Kraft wird nicht mehr Wettbewerb, sondern Kooperation sein - übrigens durchaus nach dem biologischen Organismus, wie uns die Biologie, Genetik und Epigenetik lehrt. Während der materielle Wohlstand in den ökonomisch fortgeschrittenen Volkswirtschaften aller Wahrscheinlichkeit nach markant zurückgeht, wird die Sinnfindung im täglichen Dasein indessen bei sehr vielen Menschen eine Stärkung erfahren. 

Könnte es sein, dass die philosophisch-ethische Gesellschaftstheorie des Anarchismus ihre zu Unrecht erhaltene negative Konnotation verliert und erstmals in der modernen Geschichte die Entwicklung dahin gehend zu beeinflussen vermag, dass die Politik zwar (noch) geduldet wird, dass aber ein De-facto-Anarchismus die gesellschaftliche Wirklichkeit zumindest im Kleinräumigen prägt? Sehr viele Menschen glauben nicht mehr, dass die schwerwiegenden gesellschaftlichen Probleme durch die Elite aus Wirtschaft und Politik gelöst werden können. Letztere wird denn auch allenfalls noch von älteren Menschen als Autorität wahrgenommen. Zudem haben die global vernetzten Menschen mit ihrem praktisch unendlichen Zugriff auf Wissensdatenbanken eine noch nie da gewesene Machtposition inne, deren Tragweite heute gar noch nicht richtig erkannt wird.  

Für mich besteht kein Zweifel, dass die Voraussetzungen so gut sind wie noch nie zuvor, im Sinne einer Selbstorganisation - weitgehend ohne traditionelle politische Systeme und traditionelle Unternehmen - für Arbeit und Ordnung zu sorgen. Unser Bewusstsein wird zusehends dafür gestärkt, dass die gravierenden gesellschaftlichen Probleme allenfalls durch vielfältige Kooperationen von verantwortungsbewussten Menschen, die ihren gesunden Menschenverstand zu bewahren vermochten und nicht der Hybris verfallen sind, bekämpft werden können. Die Weisheit von Albert Einstein hat nach wie vor Gültigkeit: "Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind." 


changeX 15.07.2016. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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: Wirtschaftsliberalismus. Wird Freiheit zur Fata Morgana?. Herbert Utz Verlag, München 2014, 192 Seiten, 20 Euro, ISBN 978-3831641826

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Autor

Josef Naef
Naef

Dr. phil. Josef Naef ist Professor für Wirtschaftsphilosophie und Wirtschaftsethik an der Fachhochschule Bern. Er vertritt die Philosophie des Kritischen Rationalismus von Karl Popper und Hans Albert. Sein Buch Wirtschaftsliberalismus ist im Herbert Utz Verlag erschienen.

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