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Spezialisierung, sprachlos

Funktionale Spezialisierung wird zum Bumerang für moderne Gesellschaften - ein Essay von Josef Naef.

Wir erleben eine immer weiter gehende funktionale Ausdifferenzierung der modernen Gesellschaft. Doch hochgradig spezialisierte soziale Systeme entwickeln einen Tunnelblick. Gemeinsames, Übergeordnetes, Zusammenhängendes verliert an Bedeutung: Werte, Gesellschaft, Gemeinwohl. Nur wenn sie die Sprachlosigkeit zwischen den Systemen überwinden, können moderne Gesellschaften ihre Potenziale entfalten.

Nachdem viele Staaten ihre Banken und Konzerne mit insgesamt 15 Billionen Euro vor dem Kollaps gerettet und damit das Schlimmste abgewendet haben, zeigen sich bereits die nächsten dunklen Wolken am Horizont. Diesmal sind es ganze Staaten, die mit einem Eine-Billion-Euro-Hilfsprogramm vor dem Kollaps gerettet werden müssen. Doch ist es sehr fraglich, ob sich die Wirtschaftsprobleme durch solche gigantischen Hilfspakete lösen lassen. Die entscheidende Frage ist deshalb, ob die Krise als Chance für ein Umdenken genutzt wird. Dazu müssen wir uns klar werden, was die jüngste Finanz- und Wirtschaftskrise verursacht hat. 

Ganz oben auf der Liste der üblichen Erklärungsversuche stehen die Gier der Manager und falsche Anreizsysteme. Doch zeigt diese Ursachenfindung vor allem eine große Oberflächlichkeit. Zu fragen wäre vielmehr: Warum wurden solche Anreizsysteme überhaupt entwickelt? Und: Wie ist es möglich, dass der einst angesehene und eher konservativ eingestellte Bankberuf sich so sehr verändern konnte, dass viele Banker den Anreizen folgten und dabei selbst vor kriminellen Handlungen nicht zurückschreckten? Oder: Weshalb sind Topmanager derart realitätsfremd geworden, sodass sie allen Ernstes davon überzeugt sind, das Hundertfache eines normalen Angestelltengehaltes zu verdienen?  

Zwar lässt sich mit den Phänomenen "Gier" und "falsche Anreizsysteme" ein für die meisten Menschen nachvollziehbarer Zusammenhang konstruieren. Mehr ist damit aber nicht geleistet. Und vor allem verspielt diese vereinfachte Ursachenbenennung die Chance, die Problematik tiefer zu begreifen und so andere, für die Gesellschaft keineswegs weniger gravierende Ursachen in den Blick zu bekommen.


Funktionale Spezialisierung als Treiber gesellschaftlicher Entwicklung


Die Ursachenanalyse eines zumindest partiell versagenden Wirtschaftssystems ist zweifellos schwierig und muss letztlich wohl Stückwerk bleiben. Nichtsdestotrotz lässt sich ein tief liegender Ursachenkomplex von einer beträchtlichen gesellschaftlichen Bedeutung herausheben: Die funktionale Spezialisierung - die Soziologen sprechen von funktionaler Ausdifferenzierung.  

Was ist damit gemeint? Der Moralphilosoph Adam Smith hat vor mehr als 200 Jahren auf die enormen Produktivitätsvorteile der Arbeitsteilung hingewiesen. Sie ermöglicht es, dass eine gewählte oder zugewiesene Aufgabe mit hoher Qualität und Effizienz erfüllt werden kann, während Aspekte, die nicht zum Aufgabenbereich gehören, ausgeblendet werden. Die fortschreitende funktionale Spezialisierung erlaubt eine vormals ungeahnte Gleichzeitigkeit in der Bereitstellung von Gütern und Dienstleistungen. In der Automobilindustrie, wo nicht selten mehrere Hundert Zulieferer Komponenten für ein einzelnes Fahrzeug fertigen, zeigt sich sehr klar, welches Ausmaß die funktionale Spezialisierung inzwischen erreicht hat. Hier sind die Autoproduzenten mit ihrer großen Zahl von Zulieferbetrieben im Rahmen einer Just-in-time-Produktion verknüpft. Wenn aber zum Beispiel Toyota und Chrysler mehrere Hunderttausend Autos zurückrufen müssen, zeigt sich zugleich, wie anfällig für Störungen diese moderne Form der Arbeitsorganisation mittlerweile geworden ist. 

Weil durch die funktionale Spezialisierung die Effektivität deutlich gesteigert werden kann, nimmt zugleich die Komplexität bei der Funktionserfüllung zu. Damit ist es nur eine Frage der Zeit, bis sich eine noch tiefere Spezialisierung aufdrängt. Die voranschreitende funktionale Spezialisierung, die mittlerweile sämtliche Gesellschaftsbereiche erfasst hat, hat zu beinahe unglaublichen technologischen Entwicklungen und Produktivitätssteigerungen geführt. Sie ist die Grundlage des Wohlstands in den ökonomisch fortgeschrittenen Weltregionen. Gleichzeitig aber ist sie eine, wenn nicht gar die entscheidende, Ursache des partiellen Versagens des Weltwirtschaftssystems. Warum? Es lassen sich mehrere Ursachenbündel benennen.


Der Tunnelblick - Nebenfolgen zunehmender Spezialisierung


Zunehmende Abhängigkeit: Durch die funktionale Spezialisierung hat sich die gegenseitige Abhängigkeit sozialer Systeme massiv verschärft. Diese Abhängigkeit tritt dann besonders zutage, wenn ein System versagt. Abstrakt gesagt sind in diesem Fall die anderen sozialen Systeme gezwungen, auf das Versagen des Teilsystems zu reagieren, ohne jedoch dessen Versagen kompensieren zu können - denn die Ursache liegt ja außerhalb der eigenen Spezialisierung. Gerät beispielsweise ein großes Unternehmen in eine Krise, drohen viele kleine Zulieferer mit in den Strudel gerissen zu werden, ohne selbst Einfluss auf diese Ursache nehmen zu können. Man mag das als Resultat einer hochgradig arbeitsteiligen Ökonomie hinnehmen, problematischer ist indessen die zunehmende Abhängigkeit zwischen den Gesellschaftssystemen Wirtschaft, Politik, Wissenschaft, Bildung und Massenmedien.
Wenn beispielsweise das Wirtschaftssystem sich immer weiter spezialisiert, dann muss das Bildungssystem darauf reagieren. Es tut dies mit einem längst nicht mehr überschaubaren Angebot von CAS-, DAS- und MAS-Lehrgängen. Aber damit kann es das Versagen des Wirtschaftssystems hinsichtlich ganzheitlicher Gesellschaftsbezüge nicht ausgleichen; im Gegenteil, durch die eigene Spezialisierung trägt es selbst noch dazu bei. Ein anderes Beispiel: Die Politik, deren Aufgabe die Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Ordnung ist, muss Maßnahmen ergreifen, wenn das Wirtschaftssystem seine Funktion nicht den Erwartungen gemäß erfüllt. Weil es in seiner Aufgabenerfüllung jedoch vom Wirtschaftssystem abhängig ist, tut sich das politische System außerordentlich schwer mit der Etablierung von wirkungsvollen gesetzlichen Anreizen, die Unternehmen in die Schranken weisen könnten. Stattdessen werden "systemrelevante" Bankinstitute und Unternehmen trotz miserabler Managementleistungen mithilfe von Staatsgeldern gerettet - in der Konsequenz bleibt das Wirtschafts- und Finanzsystem damit nicht nur "ungestraft", sondern erhält darüber hinaus gar noch die Legitimation, seinen eingeschlagenen Kurs fortzusetzen.  

Wachsender Konkurrenzdruck: Die funktionale Spezialisierung hat wie gesagt zu unglaublichen technologischen Entwicklungen und Produktivitätssteigerungen geführt. In den ökonomisch fortgeschrittenen Weltregionen geht es längst nicht mehr um die Frage, wie die Menschen mit ausreichend Produkten und Dienstleistungen zu versorgen sind, sondern wie mit der Überproduktion umzugehen ist, die aufgrund der fortgeschrittenen Marktsättigung in fast allen Branchen eingetreten ist. Die Globalisierung bietet dabei nur bedingt Entlastung. Denn diese schafft nicht nur neue Absatzmärkte, sondern verschärft zugleich den Konkurrenzkampf der Unternehmen, die in der Konsequenz versuchen, mit strategischen Fusionen die Zahl der "schädlichen" Konkurrenten zu reduzieren, mit stillschweigenden Preisabsprachen die Konsumentenpreise hochzuhalten, mit exorbitanten Managementgehältern Führungspersonen allein für die Interessen des Unternehmens zu gewinnen, mit immer raffinierteren Werbemethoden potenzielle Kunden gezielt zu Käufern zu machen oder den Druck an die Mitarbeiter und Führungspersonen weiterzugeben, indem sie Anforderungen und Belastungen ständig nach oben schrauben.  

Umstellung auf eine kurzfristige Erwartungsperspektive: Noch vor wenigen Jahrzehnten herrschte vor der Veröffentlichung der Jahresbilanzen eine gewisse Spannung. Mittlerweile sind Jahresberichte bloß noch von formaler Bedeutung, denn längst konzentrieren sich die Finanzanalysten auf die Quartalsbilanzen. Im Gleichschritt hat sich das Verhalten der Anleger verändert. Nach dem Soziologen Richard Sennett hielten institutionelle Anleger im Jahre 2000 ihre Aktien im Durchschnitt gerade mal noch 3,8 Monate im Portefeuille, während im Jahre 1965 die durchschnittliche Anlagezeit immerhin noch 46 Monate betrug.
Diese Umstellung auf eine kurzfristige Erwartungsperspektive ist von hoher gesellschaftlicher Relevanz. Im Bereich des Politischen verhindert sie die nachhaltige Lösung komplexer Probleme. Das heißt: Bei dringlichen Problemen wie bei der Zerstörung unserer natürlichen Grundlagen oder bei zunehmender politischer Instabilität werden nicht Ursachen bekämpft, sondern bloß Symptome. Getan wird, was einen kurzfristigen politischen Erfolg verspricht, nicht, was langfristig notwendig ist. Auch in der Wirtschaft fordert der Trend zu einem immer kurzfristigeren Denken seinen Tribut. So wird es zunehmend schwieriger, die Forderungen der vor allem an der schnellen Steigerung des Aktienwertes interessierten Investoren mit einer verantwortungsbewussten Unternehmensführung in Einklang zu bringen. In der Konsequenz muss der für die kurzfristigen Erfolge geschuldete Preis - beispielsweise Arbeitslosigkeit und Working Poor, mangelhafte Produktqualität und mangelnde Sicherheitsvorkehrungen - vor allem durch jene Menschen bezahlt werden, die am kurzfristigen Erfolg kaum teilhaben konnten.  

Die Relevanz persönlicher Netzwerke: In einer funktional spezialisierten Gesellschaft zeigen sich - soziologisch ausgedrückt - die sozialen Systeme in gewisser Weise füreinander geschlossen. Zwar bestehen zwischen ihnen strukturelle Verbindungen und Abhängigkeiten, dennoch bestimmt allein die Funktionslogik der einzelnen sozialen Systeme, wie diese strukturellen Verbindungen und Abhängigkeiten im eigenen sozialen System gestaltet werden. Bei dieser Art von geschlossenen, das heißt nicht wirklich steuerbaren, sozialen Systemen gewinnen persönliche Netzwerke an Bedeutung. Sie sind in ausgezeichneter Weise in der Lage, den eigentlich geschlossenen Zugang in fremde soziale Systeme zu öffnen. Weil die Beziehungen in persönlichen Netzwerken emotional geprägt sind, eröffnen sie die Chance, bei anderen Menschen die Bereitschaft zu fördern, einen Sachverhalt mit anderen Augen zu sehen.
Neben den vielen Vorteilen, die persönliche Netzwerke zweifellos haben, zeigt sich in hochgradig spezialisierten Systemen aber auch eine Bedenklichkeit: nämlich die strenge Selektion. Menschen, die weniger kontaktbegabt sind, die den Small Talk nicht besonders schätzen, die an nachhaltigen Problemlösungen interessiert sind und lieber bescheiden und zurückgezogen leben, als das stark eigeninteressierte persönliche Netzwerk zu pflegen, haben gewichtige Nachteile im Wettbewerb um wichtige gesellschaftliche Funktionen. Mit der keineswegs trivialen Konsequenz, dass der Tendenz nach jene Personen hochrangige Funktionen in Politik und Wirtschaft innehaben, die ihre Klugheit vor allem für das eigene Fortkommen, weniger jedoch für das Gemeinwohl verwenden. 

Dekadenz der Verantwortung: In der funktional spezialisierten Gesellschaft ist es den einzelnen Gesellschaftssystemen, zum Beispiel Politik, Wissenschaft oder Wirtschaft, überlassen, wie der Begriff "Verantwortung" verwendet wird. Versteht man unter diesem Begriff erstens die Zuständigkeit für ein bestimmtes Aufgabengebiet, zweitens die kritische Rechenschaftsablegung über das Gelingen der entschiedenen Maßnahmen sowie drittens die Bereitschaft, Konsequenzen auf sich zu nehmen, wenn die Folgen negativ ausfallen, dann zeigt sich bei einem Großteil der Eliten in der Wirtschaft und Politik eine Dekadenz im Umgang mit der Verantwortung. Und zwar in dem Sinne, dass zwar die Macht für Entscheidungsbefugnisse - mit all den damit verbundenen Vorteilen - angenommen wird, nicht aber die selbstkritische Rechenschaftsablegung und noch weniger die Bereitschaft, bei Fehlentscheidungen und bei fehlerhaftem Verhalten die notwendigen Konsequenzen zu ziehen. Die schwerwiegende Konsequenz: Unsorgfältige Entscheidungen mit hohen politischen und unternehmerischen Risiken werden eingegangen, für deren Folgen letztlich die normalen Bürger aufkommen müssen. 

Der Tunnelblick: Funktionale Spezialisierung bedeutet, dass Subsysteme wie Unternehmen und Organisationen in erster Linie ihrer eigenen Funktionslogik folgen. Die Gefahr dabei ist, dass sie die Logik des Gesamtsystems aus den Augen verlieren - mit der für die Gesellschaft schwerwiegenden Konsequenz, dass ganzheitliche Werte wie Wahrheit, Moral, Verantwortung, Gerechtigkeit, Freiheit, Gemeinwohl und Gemeinsinn an Bedeutung verlieren. Beispielsweise geht es den politischen Parteien in allererster Linie darum, ihre Machtbasis zu vergrößern, während gewinnmaximierende Unternehmen sich für gesellschaftlich hoch relevante Probleme wie Ungerechtigkeit bei den Einkommen, Etablierung von ausschließlich materiellen Anreizsystemen, Jugendarbeitslosigkeit, Armut, Ausbeutung natürlicher Ressourcen, Gesundheitsgefährdung nicht zuständig sehen - falls sie diese Probleme überhaupt noch wahrnehmen. Funktional spezialisierte soziale Systeme entwickeln einen Tunnelblick.


Wir halten an Orientierungsideen fest, bis sie versagen


Funktionale Spezialisierung bietet einen Ansatz, oftmals unzusammenhängend erscheinende gesellschaftliche Entwicklungen zu begreifen und zu erklären. Dennoch bleiben grundlegende Fragen offen. Zwei davon lauten: Weshalb kann es überhaupt zur Bildung eines Tunnelblicks kommen? Und zweitens: Warum sehen wir nicht die Gefahren, die mit der fortschreitenden funktionalen Spezialisierung verbunden sind? Hierauf Antworten zu finden verlangt, sich mit der Art und Weise zu beschäftigen, wie wir Erkenntnisse gewinnen.  

Jede menschliche Erkenntnis hängt untrennbar mit den subjektiven Charakterzügen, Erfahrungen, Orientierungsideen, Interessen, Gewohnheiten und Zielsetzungen des erkennenden Menschen zusammen. Der Wissenschaftstheoretiker Karl Popper schreibt im Buch Das Ich und sein Gehirn: "Wir beobachten nur das, was unsere Probleme, unsere biologische Situation, unsere Interessen, unsere Erwartungen und unsere Handlungsprogramme bedeutsam machen." Weil die Menschen vorwiegend in Gemeinschaften leben, bedeutet dies erstens: Soziale Systeme wie Unternehmen, Verwaltungsräte, Geschäftsleitungen, Arbeitsgruppen, politische Parteien, wissenschaftliche Forschungsinstitute, aber auch Familien, Peergroups und Freundeskreise prägen uns hinsichtlich unserer Erkenntnis. Anders gesagt: Soziale Systeme übertragen ihre spezifische Funktionslogik auf das menschliche Zweck-Mittel-Denken und sorgen so in der Tendenz für ein entsprechend der Funktionslogik eingeschränktes Erkenntnisvermögen.  

Und es bedeutet zweitens: Das, was wir als "die Welt" auffassen, ist eine subjektiv geprägte Wirklichkeit, die mit der Wirklichkeit anderer Menschen möglicherweise nur wenig gemeinsam hat. Wenn Topmanager die Betroffenheit vieler Menschen über die exorbitanten Lohn- und Bonuszahlungen oder über die etablierten Anreizsysteme nicht verstehen, dann hängt dies in allererster Linie damit zusammen, dass ihr Erkenntnisvermögen durch funktional spezialisierte soziale Systeme geprägt ist, in denen moralische Werte und ganzheitliche Ideen wie Wahrheit, Freiheit, Gemeinwohl und Gemeinsinn nur noch von marginaler Bedeutung sind. Banker und Topmanager sind nicht geldgierig zur Welt gekommen, vielmehr sind sie der Gewinnmaximierung ihres Unternehmens gefolgt und haben den geldwerten Erfolg als kaum mehr hinterfragte letzte Orientierungsidee für sich selbst übernommen.  

Weil uns der subjektive Erkenntnisprozess nicht deutlich genug bewusst ist - die weltbekannten chilenischen Neurobiologen Humberto Maturana und Francisco Varela bezeichnen in ihrem Buch Der Baum der Erkenntnis unsere Unwissenheit über das menschliche Erkenntnisvermögen als einen der größten Skandale überhaupt -, versuchen wir der Tendenz nach unsere (vermeintlich objektiven) Erkenntnisse zu bestätigen. Mit der fatalen Idee, Gewissheiten zu erlangen. Anders gesagt: Anstatt eine kritische Einstellung gegenüber unseren subjektiven Erkenntnissen einzunehmen, um so mögliche Irrtümer in unserem Denken zu erkennen und zu revidieren, betrachten wir gleichlautende Meinungen als ein Indiz für die Richtigkeit unseres Standpunktes.  

Die Konsequenz: Wir halten an unseren Handlungskonzepten und handlungsanleitenden Orientierungsideen so lange fest, bis sie versagen. Und da wir schleichende Veränderungen nicht wirklich gut zu erkennen vermögen, braucht es sogar ein massives Versagen. Nicht selten denken Führungskräfte, die beinahe alles der beruflichen Karriere untergeordnet haben, über ihre Einstellung zum Leben erst dann ernsthaft nach, wenn sie mit schwerwiegenden gesundheitlichen Störungen oder mit dem Verlust der Halt gebenden sozialen Beziehungen konfrontiert sind. Unternehmen wird die Gefahr einer allzu tiefen Spezialisierung erst dann bewusst, wenn der Überblick über das Ganze nicht mehr gewährleistet ist und sich gewaltige Probleme hinsichtlich ihrer Qualität und Reputation auftun. Und nicht zuletzt hält das für die soziale Ordnung zuständige politische System an seinen politischen Ideen so lange fest, bis der Druck so groß geworden ist, dass ohne Anpassung oder Aufgabe bestimmter Ideen der Machtverlust droht.  

Nicht zuletzt wegen der mittlerweile sehr tiefen funktionalen Spezialisierung ist die subjektive Wirklichkeit der Menschen so heterogen wie nie zuvor in der Geschichte der Menschheit. Um unsere tunnelähnlichen subjektiven Wirklichkeiten für die Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung zu sensibilisieren, ist eine kritische Einstellung gegenüber den eigenen Erkenntnissen und Orientierungsideen sowie eine kritische Kommunikation darüber von überragender Wichtigkeit.


Die Krise als Chance?


Nach dem Mathematiker und Metaphysiker Alfred North Whitehead stehen der Menschheit entweder Fortschritt oder Niedergang offen. Letzterer ist nach Whitehead unausweichlich, wenn wir das Abenteuer neuer Ideen nicht wagen und stattdessen an Orientierungsideen festhalten, die nicht mehr der aktuellen gesellschaftlichen Situation entsprechen. Es kommt dann zu einem Verfallsprozess obsolet gewordener Ideen.  

Vermag die Krise, deren Symptome bislang ausschließlich bekämpft wurden, eine Irritation auszulösen, die ein Umdenken bei den Eliten in Wirtschaft und Politik bewirkt? Skepsis ist angebracht.  

Obgleich die Finanz- und Weltwirtschaftskrise vielen Menschen ein entfesseltes und teilweise enthemmtes Wirtschaftssystem vor Augen geführt hat, konnte sie bei einem Großteil der Eliten in Wirtschaft und Politik kein Bewusstsein für eine - meines Erachtens dringend notwendige - Neuorientierung wecken. Dass sich die ökonomischen und gesellschaftlichen Verhältnisse in den letzten Jahrzehnten dramatisch verändert haben und die fortlaufenden Produktivitätssteigerungen, die erschreckende Marktsättigung, die ständige Zunahme des Konkurrenzdruckes oder die weiter voranschreitende Spezialisierung enormen gesellschaftlichen Zündstoff liefern, wird jedenfalls nicht ausreichend erkannt. Es spricht nicht für die Wirtschaftselite, dass sie die Krise nicht zum Anlass für ein Umdenken in Richtung einer verantwortungsbewussten Unternehmensführung nimmt. Obgleich das Systemrisiko der Unternehmensgiganten in aller wünschenswerten Deutlichkeit sichtbar geworden ist, sind hochrangige Politiker nicht bereit, ihre sklavische Haltung gegenüber den großen Unternehmen aufzugeben und dem globalen Wirtschaftssystem ein Äquivalent in der Form von globalen Regeln entgegenzusetzen. Solange Wirtschaftsführer mit der Drohung des Wegzugs ihres Unternehmens das politische System erpressen können, wird der internationale Standortwettbewerb durch die großen Unternehmen hemmungslos ausgenützt - allerdings nicht zum Wohle der breiten Bevölkerungsschicht.  

Das Wirtschaftssystem und das politische System vermochten sich strukturell derart zu koppeln, dass deren Exponenten sich selbst bei schweren Krisen schadlos halten können. Bei einer Entlassung erhalten Topmanager trotz eines ungenügenden Leistungsausweises eine hohe Abfindung und auch nicht selten bald wieder eine Anstellung; hochrangige Politiker verbleiben weitgehend unabhängig von ihrer politischen Leistung an der Macht und profitieren im schlimmsten Fall immer noch von einer lebenslangen hohen Pension und von lukrativen Wirtschaftsmandaten. Deshalb sollten wir uns nicht darauf verlassen, dass die Krise ein Umdenken bei den Eliten in Wirtschaft und Politik bewirkt.


Es liegt an uns!


Ob die Krise als Chance genutzt werden kann, ob es gelingt, die eigenorientierten funktionalen Gesellschaftssysteme durch eine verbindende gesellschaftliche Vision zu "bändigen", hängt deshalb vor allem von uns ab: Das heißt von der ganz "normalen" Bevölkerung, von jeder einzelnen Person. Unser Einfluss, sei es beispielsweise beim Konsumieren, Investieren, aber auch bei politischen Wahlen, ist nicht so klein, wie wir das gemeinhin - oft als Ausrede - vorgeben. Aber solange sich die breite Bevölkerung kaum um politische Belange kümmert, materielle Ziele und Ideen unkritisch über alle anderen setzt und einen kurzsichtigen dummen Egoismus pflegt, sollten wir nicht erstaunt sein, wenn bei einem Großteil der Eliten in Wirtschaft und Politik die Begriffe "Gemeinwohl" und "Gemeinsinn" längst zu Plattitüden verkommen sind.
 


changeX 03.09.2010. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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Autor

Josef Naef
Naef

Dr. phil. Josef Naef ist Professor für Wirtschaftsphilosophie und Wirtschaftsethik an der Fachhochschule Bern. Er vertritt die Philosophie des Kritischen Rationalismus von Karl Popper und Hans Albert. Sein Buch Wirtschaftsliberalismus ist im Herbert Utz Verlag erschienen.

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