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Lasset uns spielen

Gamification - wenn das ganze Leben zum Spiel wird
Essay: Nora S. Stampfl, Illustration: Axel Pfaender

Computerspiele bahnen sich ihren Weg ins reale Leben: Punkte sammeln, Highscores ergattern, in höhere Levels vorstoßen - das sickert zunehmend in den Alltag ein. Auch abseits digitaler Spiele. Weil kaum etwas Menschen mehr motiviert als spielen, werden Prinzipien aus Computerspielen in spielferne Systeme integriert. Als Anreiz zum Crowdsourcing. Als Modell kollektiven Problemlösens. Und auch als spielerischer Schubser hin zum erwünschten Verhalten. Die "Spielifizierung" des Lebens ist bereits im Gange.

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Den Abwasch gemacht? Zehn Punkte! Hund Gassi geführt? Zehn Punkte! Sport getrieben? Zehn Punkte! Jeder Moment in unserem Leben wird zum Spiel, weil wir Punkte sammeln, Trophäen erkämpfen, Missionen erfüllen und dafür Belohnungen und Status erhalten, uns mit anderen messen und unseren Fortschritt stets präsentiert bekommen. Genauso stellt sich GreenGoose vor, Aktivitäten des täglichen Lebens zum Spiel zu machen, um den inneren Schweinehund zu besiegen: Das Unternehmen verkauft einen kleinen Aktivitätssensor, der an allen möglichen Gegenständen befestigt werden kann - von der Zahnbürste über die Hundeleine bis zum Sportgerät. Nach Registrierung auf der Webseite des Unternehmens beginnt man, Punkte zu sammeln - wann immer der Sensor eine Aktivität meldet, wächst das Punktekonto. Wenn wir für den täglichen Sport, das Staubsaugen oder Wäschewaschen Punkte erhalten und auf der Rangliste nach oben klettern, so das Kalkül von GreenGoose, fällt auch die ungeliebteste Aufgabe nur noch halb so schwer.  

Ähnliches verspricht EpicWin: Wie in jedem Videospiel erschafft man sich in diesem Online-Spiel als Erstes einen nach eigenem Geschmack und Belieben aussehenden Avatar und legt sodann die Liste der "Quests" an - Einkaufen, Kochen, Putzen und die ganze restliche Hausarbeit werden solcherart in einen abenteuerlichen Kampf gegen den Alltag umfunktioniert, und schon geht alles leichter von der Hand. Prokrastination und Aufschieberitis finden endlich ein Ende, denn man will schließlich Punkte sammeln und sich einen Spitzenplatz auf der Rangliste sichern.  


Spielifizierung des Lebens


Was wie Zukunftsmusik klingt, drängt bereits in die Realität: Spiele schleichen sich mehr und mehr ins reale Leben ein. Das Sammeln von Punkten für die Ausführung bestimmter Aufgaben, das Emporklettern auf Ranglisten, das Jagen nach Schätzen und sonstigen fantastischen Elementen, die wir sonst nur aus Videospielen kennen, ist nicht länger der virtuellen Welt vorbehalten. Solche Erscheinungen lösen sich vom Bildschirm und finden immer öfter ihren Weg in unsere Welt - dank Smartphones, Digitalkameras, Sensoren und dem zunehmend mobilen Internet.  

Diese Allgegenwart von Technologie zusammen mit der Kraft von Spielen, Menschen zu motivieren und in ihren Bann zu ziehen, sind die vorrangigen Gründe, warum wir heute immer häufiger - sowohl online als auch offline - bei den verschiedensten Aktivitäten vom Einkaufen über Ausbildung und Arbeit bis zum Reisen auf Mechanismen treffen, die Videospielen entliehen sind: Punkte, Levels, Wertungen und Ranglisten, zu meisternde Aufgaben und Belohnungen. Dieser Transfer von Spielmechanismen auf nicht spielerische Umgebungen wird als "Gamification" bezeichnet - wir erleben eine einzigartige "Spielifizierung" des Lebens.  

Gamification ist eine schlagkräftige neue Strategie, wenn es um die Beeinflussung und Motivation einzelner oder Gruppen von Menschen geht. Indem Elemente und Mechanismen von Spielen auf Aktivitäten angewandt werden, die typischerweise nicht als Spiel betrachtet werden, soll das Verhalten von Menschen verändert werden. Dabei macht sich die Strategie die menschliche Neigung zum Spielen zunutze.


Der spielerische Weg zur Problemlösung


Die Anwendungsbereiche sind vielfältig: In der Unternehmenswelt beginnt man soeben die Vorteile von Gamification zu erkennen, um Kundenengagement und -loyalität zu steigern oder Mitarbeiter und Partner auf höhere Leistungsniveaus zu heben. Nicht länger sollen Preisnachlässe, Geschenke oder Gehaltssteigerungen zur Zielerreichung führen, sondern indem den Beteiligten das Erringen von kleinen Siegen in Aussicht gestellt wird.  

Aber nicht nur in der Wirtschaftswelt kann die Idee zu neuen Lösungen führen, auch in vielen anderen Bereichen bringt die Anleihe beim Gaming neue Denkprozesse und Verhaltensänderungen in Gang, wie etwa im Gesundheitsbereich (Diätprogramme, Raucherentwöhnung, Ansporn zu mehr Fitness …), im Bildungsbereich (E-Learning, neue Trainingsmethoden …) oder in Politik und Regierung (Bildungsreform, Klimawandel, Sozialstaatsreform …). In den vielfältigsten Fällen verspricht der spielerische Weg zur Problemlösung bessere Ergebnisse.  

Denn Spiele sind der realen Welt in mancherlei Hinsicht weit überlegen. Weil sie spannender und aufregender sind, besseres und unmittelbares Feedback geben, einen stärkeren sozialen Zusammenhalt schaffen und Menschen fortwährend in Erstaunen versetzen und neugierig machen. Sie geben Menschen befriedigende Arbeit und vermitteln die Erfahrung, Fähigkeiten zu besitzen und etwas wirklich gut zu können. Der Erfolg von Spielen gründet zu einem großen Teil auch auf deren Eigenart, den Spielern das Gefühl zu geben, Teil eines größeren Ganzen zu sein.


Spiele sind perfekte Belohnungssysteme


Gespielt wird seit eh und je: Schach, Dame und Backgammon; Mikado und Domino; Olympische Spiele, die Fußballmeisterschaften und Stierkämpfe; Pong, Tetris, Pacman und World of Warcraft - die Welt der Spiele ist so vielfältig wie wandlungsfähig. Immer wieder entsteht Neues, angepasst an den Lauf der Zeit. Gespielt wird von jedermann überall, das Spiel zieht sich durch alle Epochen und Kulturkreise. Spiele sind die Quelle menschlicher Kreativität als auch Ausgangspunkt der Entwicklung des Selbst. Auch wenn Spiele oftmals als bloßes Nebenprodukt in der kindlichen Entwicklung abgetan werden, als verzichtbarer Teil der Tagesgestaltung oder sinnloser Zeitvertreib: Spiel ist keine Spielerei!  

Spielen gehört untrennbar zum menschlichen Leben. Diese immense Bedeutung des Spiels für den Menschen und die Tatsache, dass der Mensch von Natur aus ein spielendes Wesen ist, sind die Gründe, warum Gamification solch große Potenziale innewohnen. Spielen macht den Menschen glücklich, weswegen es kaum ein besseres Mittel zur Motivation gibt. Spiele sind perfekte Belohnungssysteme, sie stacheln zu Handlungen an, die ansonsten vielleicht unterblieben.  

Dazu kommt heute noch, dass eine ganze nachwachsende Generation von Kindheitstagen an in virtuelle Welten eintaucht und mit Computerspielen groß wird. Spielen ist der mit Computerspielen groß gewordenen Generation Gaming zweite Natur, längst ist Spiel nichts mehr, was mit dem Entwachsen der Kindertage abgelegt wird. Spielen ist Bestandteil des Lebens, die Grenzen zwischen Spiel und "Ernst" fallen.  

Die Generation Gaming hat eine spielerische Perspektive auf alle Bereiche ihres Daseins. Gamification scheint eine logische Folge dieses neuen Ausblicks auf das Leben. Die Vertreter der Generation Gaming wollen ihrer spielerischen Perspektive entsprechend angesprochen werden. Dies wird Wirtschaft und Gesellschaft verändern: Je mehr die spielende Generation ins Arbeitsleben eintritt, Verantwortung in Unternehmen übernimmt und selbst zum Kunden wird, werden spielerische Elemente in all diese Bereiche einkehren. Sie sind mit dem Joystick in der Hand aufgewachsen, haben damit Armeen befehligt, Städte gebaut und Fantasiewelten erobert - und nun erwartet diese Generation Beteiligung. Sie ist es gewohnt, mitzumachen und Neues auszuprobieren. Daher ist nicht länger Aufmerksamkeit, sondern Engagement das knappe Gut der neuen Ökonomie der Partizipation. Und Gamification wird das Schmiermittel dieser neuen Ökonomie werden, denn nichts hat so starke Kraft, zum Mitmachen zu bewegen, wie Spiele.


Massenhaft Gratisarbeit: Gamification und Crowdsourcing


Das Internet hat sich zum Mitmach-Netz gewandelt, in dessen Fahrwasser Crowdsourcing eine immer prominentere Stellung einnimmt. Menschen wollen heute - vor allem im Internet - mitreden und mitgestalten. Es kommt heute vor allem auf Interaktivität an. Und nicht zuletzt die sozialen Medien verstärken noch den Hang zum Mitmachen, die Lust, sich zu beteiligen: Überall entstehen Netzwerke, die von der Partizipation der Massen leben. Wir haben es längst nicht mehr mit einer Aufmerksamkeitsökonomie zu tun - bloße Aufmerksamkeit zu erreichen ist nicht mehr genug, heute geht es darum, Menschen zum Mitmachen zu bewegen, deren Energie, Zeit, Arbeits- und Denkkraft zu erreichen, um letztlich ihr Engagement zu ernten. Denn Unternehmen und Kunden ziehen immer mehr an einem Strang, sie treffen sich nicht erst auf einem anonymen Markt, sondern Kunden sind von Anfang an involviert, wissen Bescheid und verlangen ein Mitspracherecht.  

Unternehmen, die die Weisheit der Vielen für sich arbeiten lassen, muss daran gelegen sein, große, stabile Communitys zu schaffen, die in ihrer Gesamtheit fähig sind, wertvolle Daten, Ideen oder Inhalte zu kreieren. Dazu muss das Angebot so gestaltet werden, dass die Crowd es als mitmachenswert empfindet und ihr Engagement darauf verwendet. Hier stehen Unternehmen heute vor einem speziellen Problem: Je mehr Crowdsourcing-Modelle ins Leben gerufen werden, desto schwieriger wird es für das einzelne Unternehmen, das Engagement von Nutzern auf sich zu lenken, denn aufseiten der Nutzer steht nur ein beschränktes Maß an Zeit, Arbeitskraft und Interesse zur Verfügung. Immer mehr Möglichkeiten zur Online-Kollaboration tun sich auf, gleichzeitig bleibt das Potenzial persönlichen Engagements konstant. Der Wettbewerb um die Beteiligung der Menschen im Mitmach-Web nimmt stetig zu.  

Um das Engagement der Menschen für das eigene Angebot nutzbar zu machen, gilt es, emotionale Anreize zur Beteiligung zu schaffen. Die weitaus mächtigste Währung ist heute nicht Geld, sondern positive Emotion: Sich stolz und clever zu fühlen ist heute oftmals ausreichender Lohn für die Beteiligung. Unternehmen müssen daher umdenken: Galt es längste Zeit als unumstößliches Prinzip, dass Geld als Gegenleistung für Arbeit die höchste Motivation ist, lehrt uns die Realität nun das exakte Gegenteil: Diejenigen Projekte der Massenkollaboration weisen die höchste Beteiligung auf, die ohne finanzielle Kompensation auskommen - man denke nur an den unglaublichen Erfolg der Online-Enzyklopädie Wikipedia.  

In dieser Situation greifen immer mehr Unternehmen auf die Integration von Spielmechanismen in ihre Crowdsourcing-Plattformen zurück, denn nichts ist besser geeignet, um positive Emotionen zu schaffen und Menschen im Gegenzug zur Partizipation zu verleiten, als Spiele. Gespielt wird aus den unterschiedlichsten Gründen: die Erfahrung eines Abenteuers und der damit verbundene Adrenalinschub, eine geistige Herausforderung und das Gefühl, diese zu bewältigen und zu beherrschen, oder einfach die Suche nach Erholung und Abwechslung vom Alltag.


Arbeiten, ohne dass es sich so anfühlt


Durch die große Macht von Spielen, Menschen zu motivieren, verspricht Gamification im Bereich des Crowdsourcing besonderes Potenzial zu entfalten. Indem Arbeitsaktivitäten als Spiel gestaltet werden, sollen Personen animiert werden, Arbeit zu leisten, die sich nicht wie Arbeit anfühlt.  

Sehr erfolgreich darin, die wahren Arbeitsaufgaben so zu verschleiern, dass der Spieler den Eindruck gewinnt, tatsächlich ein Computerspiel zu spielen, ist beispielsweise die finnische Nationalbibliothek mit "Digitalkoot". Vordergründig geht es darum, Maulwürfe zu retten, indem die Spieler Brücken bauen und dadurch verhindern, dass die Tiere in den Abgrund stürzen. Das Erscheinungsbild unterscheidet sich in nichts von dem gewöhnlicher Computerspiele. In Wirklichkeit aber helfen die Spieler dabei, die elektronischen Archive der Bibliothek nach Fehlern zu durchsuchen. Das Prinzip ist denkbar einfach: Spieler erhalten Wörter präsentiert und müssen die richtige Buchstabenfolge eintippen. Bei korrekter Eingabe wird der Brücke ein weiteres Teilstück hinzugefügt, das der Maulwurf gefahrlos betreten kann, andernfalls hält die Brücke nicht und der Maulwurf stürzt ab. Die präsentierten Wörter stammen allesamt von Millionen von Seiten aus Zeitungen und Magazinen, die durch automatisierte Texterkennung digitalisiert wurden. Da solche Verfahren fehleranfällig sind, weil sich Maschinen bei der Umwandlung von Bild in Text schwertun, braucht es das menschliche Auge, um Fehler auszumerzen.  

Auch die Wissenschaft nutzt die enorme Energie und Problemlösungskraft, die Menschen in Computerspiele stecken, für ihre Zwecke. Foldit ist ein Beispiel dafür, wie auch komplexe wissenschaftliche Probleme durch die "Crowd" bearbeitet werden. Das von Forschern der University of Washington entwickelte Massively Multiplayer Online Game (MMOG) hat zum Ziel, dem Rätsel der Proteinfaltung auf die Spur zu kommen. Dem Spieler wird ein Proteinmodell angezeigt, das er auf verschiedene Arten manipulieren kann. Zug um Zug wird der Energiezustand des Proteins kalkuliert, wofür Punkte vergeben werden. Die Spieler können Teams bilden und jederzeit ihre Resultate in der Einzel- oder Gruppenwertung vergleichen. Die so hergestellten Proteine sollen Wissenschaftlern dabei helfen, herauszufinden, wie die langen Ketten von Aminosäuren, aus denen Proteine bestehen, sich zu ihrer spezifischen dreidimensionalen Struktur falten. Zwar könnten die Aufgabe des Proteinfaltens auch Computer erledigen, jedoch sind Menschen darin viel schneller, weil sie beim Spielen ein Gespür dafür entwickeln, wie ein "gutes" Protein auszusehen hat.  

Es existieren noch eine Unmenge solcher Anwendungen, bei denen Spiele eingesetzt werden, um massenhaften Input aus der Internetgemeinde zu erhalten, um so zeitaufwendige und daher kostspielige Aufgaben zu bewältigen, die andernfalls wahrscheinlich niemals in Angriff genommen würden. Crowdsourcing hat damit einen gewaltigen Einfluss darauf, wie Aufgaben heute erledigt werden und welches Potenzial Unternehmen anzapfen können. Mit dem Erfolg der vielen Crowdsourcing-Projekte wird die Bedeutung dieser neuen Organisationsform von Arbeit in Zukunft sicherlich weiter zunehmen.  

Die hier stellvertretend aufgeführten Beispiele zeigen, wie Gamification den Erfolg von Crowdsourcing noch steigern kann, indem noch mehr Menschen zum Mitmachen gewonnen werden. Das Angebot von Unterhaltung und Spiel wird so zu einer neuen Währung im Austausch gegen Arbeitskraft.


Spiele sind soziale Aktivitäten des Problemlösens


Es liegt im Wesen von Spielen begründet, dass sich diese neuen Fähigkeiten der Zusammenarbeit in der Online-Gaming-Welt bilden. Denn Spiele - sowohl digitale als auch herkömmliche - sind soziale Aktivitäten des Problemlösens. Schon Albert Einstein wusste, Jahrzehnte bevor das erste Videospiel existierte: "Das Spiel ist die höchste Form der Forschung." Denn beim Spielen sind Aufmerksamkeit und Denkvermögen aller Spieler auf das gemeinschaftliche Meistern der spielerischen Herausforderung gerichtet, welche zumeist visuell-räumlicher, psychologischer und strategischer Art ist. Der Netzwerkeffekt moderner Computerspiele hebt die soziale Problemlösungsaufgabe noch auf ein höheres Niveau. Denn immerzu steht beim Online-Spiel eine Unmenge an Mitspielern zur Kollaboration bereit.  

Weil in unserer Gesellschaft Gaming bereits derart weitverbreitet ist und ein immenses Maß an Zeit in Computerspiele investiert wird, liegt die Frage nahe: Soll die für Spiele aufgebrachte enorme Energie und Zeit weiterhin alleinig in Fantasy-Welten fließen, um dort zu reinen Unterhaltungszwecken fantastische Geschichten weiterzuspinnen? Oder ist es nicht vielmehr denkbar, diese Ressourcen auf die Lösung von Problemen der realen Welt anzuwenden, um die Gesellschaft, in der wir leben, zu verbessern? Etwa das Schul- oder Gesundheitswesen voranzubringen, der Energieversorgung neue Impulse zu geben oder Lebensumstände in weniger privilegierten Regionen der Erde zu verbessern.  

So zeigt etwa das New Yorker Unternehmen Recyclebank, wie durch die Anwendung verschiedenster Spielmechanismen umweltbewusstes Verhalten gefördert werden kann. Mit der "Green Your Home Challenge (GYHC)" gelang es Recyclebank, die Nutzer zu Verhaltensweisen zu bewegen, die einen positiven Unterschied für die Umwelt ausmachen. Dabei ging es um die Vorstellung und Umsetzung von grünen Maßnahmen im eigenen Haus, die durch Spielmechanismen wie zum Beispiel Preise, die je nach erreichtem Level zu gewinnen waren, Leaderboards zur Statusverfolgung oder Punkte für die Weiterempfehlung befördert werden sollten. Auch das Wissen um umweltfreundliches Verhalten mehrte sich bei den Teilnehmern, und ein großer Teil gab zu Protokoll, auch nach Teilnahme bei GYHC die gelernten Maßnahmen weiterverfolgen zu wollen. Recyclebank belohnt seine Nutzer mit Coupons oder Rabatten für umweltbewusstes Verhalten. "Gaming for Good" nennt das Unternehmen die Strategie, Menschen in Richtung Nachhaltigkeit zu schubsen, indem Spaß und Unterhaltung geboten werden.  

Einen spielerischen Anreiz für umweltschonendes Verhalten zu geben ist auch das Ziel von SimpleEnergy, das die Teilnehmer in einen Wettbewerb um geringeren Stromverbrauch schickt. Dabei werden die Verbrauchsdaten öffentlich gemacht, und für Stromeinsparungen gibt es dann Punkte, eine gute Platzierung auf den Bestenlisten und Gewinne.


Schlüsselressource im Kampf gegen die Probleme der Welt


Die Spieldesignerin Jane McGonigal (2011) geht noch einen Schritt weiter. Sie ist überzeugt, dass Spiele zu einer Schlüsselressource im Kampf gegen die unmittelbar anstehenden Probleme dieser Welt werden. Mit einer Reihe von MMOGs hat sie gezeigt, dass Spiele Menschen dazu bringen können, selbstlos für einen größeren Zweck zusammenzuarbeiten, um Echte-Welt-Probleme zu lösen.  

In Evoke wird etwa an Lösungen getüftelt, um die Nahrungsmittelsicherheit zu erhöhen, den Zugang zu sauberer Energie zu verbessern und Armut zu reduzieren. Im Laufe des Spielgeschehens gegründete Unternehmen existieren noch heute, wie etwa die Initiative "Libraries Across Africa", ein Franchisesystem, das lokale Unternehmer dabei unterstützt, kostenlos zugängliche Gemeindebibliotheken einzurichten. In World Without Oil wurde die kollektive Intelligenz von Spielern auf das Problem der globalen Ölknappheit gerichtet. Während des Spiels wurde eine weltweite Ölkrise simuliert und nach den Ursachen geforscht. Die Spieler hatten während des Spiels Zugriff auf Echtzeit-Ölpreise und -Verfügbarkeiten und erhielten Informationen über ihren Einfluss auf regionale Ökonomien, Gesellschaften und Lebensqualität. Aufgrund dieser Informationen entwickelten die Spieler Szenarien, wie die Krise sie persönlich betreffen und sich in ihrer jeweiligen Umgebung bemerkbar machen würde. Erfahrungen wurden ausgetauscht und Vorschläge gemacht, wie wir unsere Ölabhängigkeit überwinden könnten. Als Ergebnis des Spiels existiert heute ein immenses, online zugängliches Archiv der von den Spielern erarbeiteten Ausblicke und Lösungen.  

Um die Bildung von Zukunftsszenarien geht es auch in McGonigals Spiel Superstruct: Während der sechswöchigen Spieldauer sollen sich die Spieler ins Jahr 2019 versetzen und den großen Zukunftsfragen nachgehen. Spielerisch sollen sich die Teilnehmer mit verschiedensten Problemen (Ausbreitung von Pandemien, Nahrungsmittelkrisen, große Wanderungsbewegungen infolge von Kriegen, Klimakatastrophe oder Wirtschaftszusammenbrüchen, Datensicherheit, Kampf um Öl) auseinandersetzen, diese systematisch erforschen und Lösungen finden, um das menschliche Zusammenleben zukunftstauglich zu gestalten.  

Ob solche Spiele letztendlich wirklich die Weltprobleme lösen, soll dahingestellt bleiben, aber eines erreichen sie garantiert: Sie bringen Probleme unserer Gesellschaften ins Bewusstsein der Menschen, fachen Debatten und Auseinandersetzungen an und sind auf diese Weise ein großer erster Schritt auf dem Weg zu ihrer Lösung. Solche Spiele schaffen es, weltumspannend Kommunikation und Kollaboration auszulösen, sodass ein gemeinsamer Nachdenkprozess losgetreten wird.


Auf dem Weg in die verspielte Gesellschaft?


Eröffnet Gamification uns also eine Zukunft, in der spielerisch globale Herausforderungen gemeistert werden, alle Menschen hoch motiviert arbeiten, weil auch die langweiligste Aufgabe gleichbedeutend mit Spaß ist und Routinetätigkeiten so gut wie nicht mehr existieren? Oder sieht die Zukunft mit Gamification nicht doch ein wenig düsterer aus, weil Technik so verführerisch wird, dass sie uns letztendlich kontrolliert und unser fortwährendes Spielen einen "großen Bruder" ohne Unterlass mit Daten füttert, Informationen über unser Verhalten, unsere Wünsche, unser tiefstes Inneres allzeit abrufbar werden? Werden Spiele so allgegenwärtig werden, dass unser Leben von Überwachung, Kontrolle und Manipulation regiert wird?  

Denn eines muss man sich immer vor Augen halten: Elektronische Spiele erzeugen einen gewaltigen Datenschatten. EpicWin und GreenGoose sind perfekte Beispiele dafür, wie Spiele auch vielerlei Einblicke in das Privatleben bieten können. Wie sieht der Tagesablauf aus, wird Sport getrieben, wofür interessiert sich jemand? All dies verraten Spieler ganz nebenbei beim Spielen.  

Jesse Schell, Professor an der Carnegie Mellon University in Pittsburgh sowie Gründer von Schell Games, sieht eine Zukunft, in der wir immerzu, jede Sekunde unseres Lebens in gewisser Weise spielen. Als "Gamepocalypse" (Schell 2010) bezeichnet er seine Vision, in der es für jede nur erdenkliche Aktivität Punkte zu verdienen gibt, die dann gegen Vergünstigungen verschiedenster Formen - von der Steuergutschrift bis zum Gratisprodukt - eingetauscht werden können. Denn sobald Unternehmen eine Technologie zur Hand haben, die die Nutzung von Produkten feststellen kann, werden Unternehmen natürlich daran arbeiten, (potenzielle) Kunden zu motivieren, die Produkte zu benutzen, um Ersatzkäufe zu forcieren.


Nudge: der Schubs hin zum erwünschten Verhalten


So werden morgens beim Zähneputzen Punkte gesammelt. Genauso gibt es auf dem Weg zur Arbeit Punkte zu verdienen, wenn wir statt des Autos die öffentlichen Verkehrsmittel nehmen, weil die Stadtregierung möglichst viele Autos aus der Innenstadt verbannen möchte. Steigen wir dann eine Station früher aus und gehen zu Fuß, so belohnt unsere Krankenkasse wiederum solches Verhalten mit ein paar Punkten, die dann gegen Rabatte auf die Versicherungsprämie eingewechselt werden können. Kommen wir pünktlich zur Arbeit, steigt auch dadurch unser Punktekonto, und eine ordentliche Portion Extrapunkte sammelt ein, wer jeden Tag pünktlich war. Damit beschreibt Schell eine Welt, in der die Vergabe von Punkten unser Verhalten diktiert, weil Spiele ein perfektes Belohnungssystem sind, das uns anstachelt, bestimmte Dinge zu tun oder zu unterlassen. Der kleine Schubs hin zum erwünschten Verhalten.  

Gamification bedeutet letztlich eine Modifikation von Anreizsystemen: Nicht mehr Zuckerbrot und Peitsche, sondern intrinsische Motivation soll Menschen zu bestimmten Handlungen veranlassen. Werden wir in einer Welt der Spiele aber noch wissen, wann wir selbstbestimmt agieren und wann wir manipuliert sind? Werden wir überhaupt noch merken, dass wir spielen, dass Gamification am Werk war, um uns ganz bestimmte Verhaltensweisen abzuringen?  


Literatur 

McGonigal, Jane (2011): Reality Is Broken: Why Games Make Us Better and How They Can Change the World. New York  

Schell, Jesse (2010): "When games invade real life". DICE Summit 2010. URL: http://www.ted.com/talks/jesse_schell_when_games_invade_real_life.html. Stand: 02.05.2012  

Links siehe Spalte rechts.  

Illustration: Axel Pfaender, www.axelpfaender.com 



Zitate


"Spiele sind perfekte Belohnungssysteme, sie stacheln zu Handlungen an, die ansonsten vielleicht unterblieben." Nora S. Stampfl: Lasset uns spielen

"Nicht länger Aufmerksamkeit, sondern Engagement ist das knappe Gut der neuen Ökonomie der Partizipation." Nora S. Stampfl: Lasset uns spielen

"Unternehmen müssen umdenken: Galt es längste Zeit als unumstößliches Prinzip, dass Geld als Gegenleistung für Arbeit die höchste Motivation ist, lehrt uns die Realität nun das exakte Gegenteil: Diejenigen Projekte der Massenkollaboration weisen die höchste Beteiligung auf, die ohne finanzielle Kompensation auskommen." Nora S. Stampfl: Lasset uns spielen

"Soll die für Spiele aufgebrachte enorme Energie und Zeit weiterhin alleinig in Fantasy-Welten fließen, um dort zu reinen Unterhaltungszwecken fantastische Geschichten weiterzuspinnen? Oder ist es nicht vielmehr denkbar, diese Ressourcen auf die Lösung von Problemen der realen Welt anzuwenden, um die Gesellschaft, in der wir leben, zu verbessern?" Nora S. Stampfl: Lasset uns spielen

 

changeX 03.05.2012. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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Zum Buch

: Die verspielte Gesellschaft. Gamification oder Leben im Zeitalter des Computerspiels. Verlag Heinz Heise, Haar bei München 2012, 128 Seiten, 14.90 Euro, ISBN 978-3-936931-77-8

Die verspielte Gesellschaft

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Autorin

Nora S. Stampfl
Stampfl

Nora S. Stampfl studierte Wirtschaftswissenschaften in Österreich (Mag. rer. soc. oec.) und den USA (MBA). Sie arbeitet als Unternehmensberaterin und Zukunftsforscherin in Berlin. Den Arbeitsschwerpunkten strategische Unternehmensführung, gesellschaftlicher Wandel und Zukunftsfragen widmet sie sich auch als Autorin.

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