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Immer hinterfragen

Fragen heißt Eintauchen in den Problemraum - ein Gespräch mit Jochen Gürtler
Interview: Winfried Kretschmer

Zu schnell zu Lösungen zu kommen, kann fatal sein. Wenn man nämlich die Fragestellung nicht richtig verstanden hat. Da ist es ratsam, zunächst die richtigen Fragen zu stellen: Was ist überhaupt die Frage? Was ist das zu lösende Problem? Iteratives Eintauchen in den Problemraum nennt das unser Gesprächspartner. Und zeigt, wie’s geht.

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Unternehmen entwickeln nicht selten Lösungen für Fragestellungen, die sie falsch verstanden haben. Sagt Jochen Gürtler, Design Thinker, Innovations-Coach, Redner und Buchautor.
 

Herr Gürtler, haben Sie eine gute Einstiegsfrage für ein Interview zum Thema "Fragen"? 

Das ist eine gute Frage ...
 

... fragen wir so: Gibt es beim Design Thinking einen besonderen Ansatz, um gute Fragen zu formulieren? Fragen Sie anders? 

Zuallererst fragen wir überhaupt einmal, beziehungsweise hinterfragen die uns gestellte Frage. In unseren Design-Thinking-Projekten investieren wir am Anfang viel Zeit, um die Frage respektive das zu lösende Problem besser zu verstehen. Das ist ein ganz wichtiger Schritt, der oftmals ausgelassen wird. Zu oft machen wir uns sofort daran, nach der Lösung suchen. Aber es ist meist effektiver, schon viel früher anzusetzen und erst einmal herauszufinden, worum es eigentlich geht: Was ist überhaupt die Frage? Was ist das zu lösende Problem?
 

Was heißt das - dieser Schritt wird ausgelassen? 

Na ja, typischerweise läuft es in Firmen doch so, dass das Management sagt: "Hier, macht mal das und das", und alle rennen los - ohne eine klare Vorstellung von dem Problem zu haben, um das es eigentlich geht. 

Wir haben in Design-Thinking-Workshops eine wunderbare Einstiegsübung mit der Aufgabe, die ideale Geldbörse zu gestalten. Klingt auf den ersten Blick vielleicht trivial und wenig herausfordernd, aber bei dieser Übung erkennt man schnell, wie unklar die Aufgabe gestellt ist. Denn was eine ideale Geldbörse ist, ist natürlich eine extrem unscharfe Frage. Was heißt "ideal"? Möglichst billig in der Herstellung? Möglichst klein? Möglichst bunt? Möglichst flexibel? Und abgesehen davon, für wen soll diese Geldbörse dann ideal sein? Für den Hersteller? Für den Besitzer? Für den Taschendieb? 

Offensichtlich taugt diese Frage also nicht wirklich als Startpunkt, und die Gefahr ist groß, dass am Ende aufgrund dieser Unklarheiten eine Lösung entsteht, die eben nicht das eigentliche Problem löst.
 

So läuft es tatsächlich in Unternehmen? 

Die Teilnehmer unserer Workshops sagen, dass sie solch unscharfe Fragen tatsächlich von ihrer Arbeit kennen. Sie bauen dann irgendetwas und finden am Ende heraus, dass der Auftraggeber eigentlich etwas ganz anderes gemeint hat. Dann passen Problem und Lösung nicht zusammen, weil die Frage schon völlig falsch gestellt und verstanden wurde. 

Im Design Thinking investiert man daher viel Zeit, um herauszufinden, wer die Nutzer sind und was deren Wünsche, Bedürfnisse und Probleme. Wir entwickeln echte Empathie für unsere potenziellen Nutzer und deren Lebenssituation, und basierend darauf formulieren wir dann Fragen, in denen der Nutzer im Zentrum steht. 

Um bei dem Beispiel der Geldbörse zu bleiben, wird dann zum Beispiel aus dem Wunsch nach der "idealen Geldbörse" der Auftrag an uns als Design Thinker, für die 16-jährige Luisa, die sehr modebewusst ist und ihr Outfit jeden Tag neu zusammenstellt, eine möglichst flexible Geldbörse zu gestalten, die Luisa jeden Tag an ihr Outfit anpassen kann. Interessanterweise haben wir noch herausgefunden, dass Luisa heute meist nur ihre Bahnkarte und ihre EC-Karte in der Geldbörse hat. Eine zusätzliche Information, die uns beim Gestalten der perfekten Lösung für Luisa helfen kann.
 

Man dringt zum Kern des Problems vor, indem man zunächst einmal die Nutzersicht einzunehmen versucht? 

Ganz genau. Am Anfang versucht das Team herauszufinden: Welches Verständnis haben wir von dieser Frage? Wie verstehen wir diesen Satz? Wahrscheinlich interpretiert jeder Einzelne basierend auf seinem Hintergrundwissen oder aus seiner Expertise heraus die Fragestellung ganz unterschiedlich. Es gibt verschiedene Methoden, wie man das klären kann. 

In der zweiten Phase geht man dann raus und versucht vom Nutzer zu lernen, was er eigentlich braucht. Indem man beispielsweise Interviews mit ihm macht, indem man ihn in den für die Fragestellung relevanten Kontexten beobachtet oder indem man Dinge auch selber ausprobiert.
 

Was bedeutet das fürs Fragenstellen? 

Es geht darum, einen Dialog mit dem Gesprächspartner zu führen. Also nicht nur vorbereitete Fragen abzuhaken, sondern ihn dazu zu bringen, Geschichten zu erzählen und seine Emotionen zu schildern.
 

Ist eine Frage umso besser, je schärfer und konkreter sie ist? 

Es kommt auf den Kontext an. Ich habe da zwei Bilder vor mir: In ganz einfachen Fällen stellen wir die Frage und kennen vielleicht schon die Antwort. "Was ist fünf plus fünf?" können wir direkt beantworten, da braucht es keine weitere Klärung des Problems mehr. 

Bei Innovationsthemen hingegen sind meist weder die Frage und schon gar nicht die Antwort so einfach und eindeutig. Die Frage ist weniger eine Frage, sondern mehr ein sehr unscharfer Problemraum. Und genau diesen gilt es dann zu Beginn besser zu erforschen und zu verstehen, um herauszufinden, welche unterschiedlichen (Problem-)Aspekte darin schlummern: Unterschiedliche Stakeholder zum Beispiel mit unterschiedlichen Interessen und vielleicht auch widersprüchlichen Anforderungen und Bedürfnissen, die dann vielleicht wiederum voneinander abhängen, sich mit der Zeit ändern können oder die wir in der Gesamtheit gar nicht erfassen können. Und so weiter.  

Eine Ist-Analyse ist hier super spannend und hilfreich. Denn bevor ich anfange, eine Lösung zu bauen, kann ich dem Auftraggeber zurückspiegeln: "Wir haben uns in der ersten Projektphase darangemacht, den Status quo zu verstehen. Dabei haben wir ganz unterschiedliche Aspekte gefunden. Lieber Auftraggeber, welchen Aspekt sollen wir uns denn genauer anschauen?"
 

Haben Sie ein Beispiel? 

Da fällt mir ein Projekt für eine Agentur in Berlin ein, die ein Gründungsprogramm für junge Menschen anbietet. Die Ausgangsfrage war: "Wie könnte man den Gründungsprozess durch Softwarelösungen unterstützen?" Auch sehr unscharf natürlich.  

Wir sind dann sehr tief eingestiegen, haben uns den Gründungsprozess angeschaut, haben mit den Gründern und mit anderen Stakeholdern gesprochen. Heraus kam, dass es unterschiedliche Probleme gab, die teilweise mit Software zu tun hatten, aber teilweise auch mit rein organisatorischen Dingen in der Firma. Zum Beispiel gab es dort einen Co-Working-Bereich, der baulich nicht gut organisiert war und nicht recht funktioniert hat. Die Frage war also nicht nur unscharf, sondern auch viel zu eng gestellt.
 

Man entwickelt also aus der Problemstellung oder Ausgangsfrage weitere Fragestellungen? 

Absolut. Dabei ist es ganz wichtig, immer mit dem Auftraggeber zu validieren: "In welche Richtung sollen wir gehen?" Beim Beispiel mit den Gründungsprozessen wäre die nächste Frage: "Sollen wir uns nun mit dem Co-Working-Space beschäftigen oder doch mit anderen Themen?" Dieses iterative Eintauchen in den Problemraum hilft wunderbar dabei, sich mit dem Auftraggeber zusammen schrittweise der eigentlichen Fragestellung anzunähern.
 

Und erst dann, wenn man tief genug in den Problemraum eingetaucht ist, kann man die richtige Frage finden und dafür eine Lösung entwickeln? 

Im Extremfall findet man sogar heraus, dass es eigentlich überhaupt kein Problem gibt, das die Mühe einer Lösung wert ist. Zum Beispiel, weil es bereits gute Lösungen gibt. Oder weil man eine Lösung für ein vermutetes Problem anbieten möchten, die aber kein Mensch braucht.
 

Die genaue Bestimmung der Fragestellung kann manchmal die Antwort überflüssig machen? 

Diese Möglichkeit ist immer gegeben. Wenn man das Problem verstanden hat, sollte man sich noch einmal grundlegend überlegen: Setzen wir das Projekt vielleicht komplett anders auf als ursprünglich geplant? Oder machen wir vielleicht sogar gar nicht weiter?  

Der zweite Schritt ist dann, zu prüfen: Wenn es einen Bedarf gibt für die Lösung des Problems, sind die Nutzer auch bereit, dafür Geld zu bezahlen? Wenn nicht, kann man sich das Projekt ebenfalls schenken.  

Der dritte Schritt ist dann die Überlegung: Kann man es skalieren? Kann man damit ein Business entwickeln, mit dem man Geld verdienen kann? Diese drei Schritte zusammen schützen Projekte davor, sich zu verrennen.
 

Wie geht man bei dem allerersten Schritt vor? Gibt es bestimmte Methoden, wie man zu Fragen kommt? 

Es gibt da wie immer kein allgemeingültiges Geheimrezept; in Design-Thinking-Projekten setzen wir dafür oft zwei Methoden ein: Die eine nennt sich Creative Reframing und die andere ist das Charetting.  

Beim Creative Reframing geht es darum, dieselbe Sache unter verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten. Bei dem Trivialbeispiel Geldbörse könnte man unterschiedliche Interpretationen diskutieren: "Was heißt für uns ideal - bezüglich Größe, bezüglich Kosten, bezüglich Design, bezüglich Übersichtlichkeit?"  

Das Team legt sich dann gemeinsam auf eine oder zwei Interpretationen fest. Damit kann man dann wieder zum Kunden gehen, um das zu verifizieren. Oder man startet den Research-Part. Das bedeutet, zum Endnutzer zu gehen und herauszufinden, ob überhaupt Bedarf besteht. Wenn sich herausstellt, dass man die falschen Aspekte ausgewählt hat, geht man wieder in eine andere Richtung. Das kann und sollte man sehr iterativ machen.
 

Und was ist Charetting? 

Da gibt es unterschiedliche Varianten. Die gängigste ist, an einem Whiteboard die Fragestellung zu schreiben und darunter eine Art Tabelle aufzubauen. In die erste Spalte schreibt man für gewöhnlich die Nutzer beziehungsweise Nutzerkontexte, die man in der Gruppendiskussion findet. In die zweite Spalte kommen potenzielle Probleme dieser Nutzer. Dann könnte man sich in einem dritten Schritt auch schon Lösungen überlegen. Aber das kann auch verwirren, weil wir ja noch gar keine Lösungen finden, sondern erst einmal das Problem verstehen wollen.
 

Wie könnte so ein Whiteboard-Anschrieb zum Beispiel bei der Geldbörse-Aufgabe aussehen? 

Oben drüber steht die Aufgabe: "Gestalte die ideale Geldbörse! In der ersten Spalte könnten als mögliche Nutzer Teenager stehen. Oder alte Leute, die vielleicht nicht mehr recht mit Kleingeld hantieren können.  

Dann pickt das Team sich eine Nutzergruppe und einen Nutzerkontext heraus, die spannend klingen, zum Beispiel die Rentner, und überlegt sich für diese mögliche Probleme: In der zweiten Spalte steht dann etwa, dass sie den Geldbeutel gar nicht mehr aufkriegen, weil ihre Hände so zittrig sind. Oder sie verlieren ihn ständig. Oder sie können die Münzen nicht mehr unterscheiden. Oder was auch immer.  

Wir haben uns also aus dem riesigen Problemraum eine viel fokussiertere Frage herausgepickt: Es geht jetzt um Rentner, die Probleme mit dem Kleingeld haben. Wir haben als Team die Hypothese aufgestellt, dass das ein Problem ist. Und jetzt gehen wir auf die Straße oder ins Altenheim, reden mit Rentnern und untersuchen, ob das wirklich der Fall ist. Also auch hier ein sehr iteratives Vorgehen.
 

Es gibt ja Fragen ganz unterschiedlicher Qualität. Was würden Sie sagen, woran erkennt man eine gute Frage? 

Für Fragestellungen im Rahmen von Design-Thinking-Projekten gilt zuallererst: Die Lösung sollte nicht schon in der Frage impliziert sein. Wenn einer den Auftrag formuliert: "Bau mir eine App für Reisende der Deutschen Bahn!", dann ist darin schon vorgegeben, dass eine App die richtige Lösung für die Probleme von Bahnreisenden ist. Das kann sein, vielleicht gibt es aber auch noch ganz andere Lösungen.  

Im Unternehmenskontext sind Fragen oft zu geschlossen, zu viele Randbedingungen sind vordefiniert. Da muss man dafür kämpfen, dass die Fragestellung offen genug ist. An der Uni dagegen muss man aufpassen, dass die Fragestellung nicht zu offen wird. Dort gibt es Forschungsprojekte mit Fragestellungen im Stil von "Verbessere die Welt" oder so. Darin kann man sich natürlich auch verlieren.
 

Haben Sie so was wie eine Lieblingsfrage? 

Eine Lieblingsfrage? Da fällt mir spontan eigentlich nur das "Warum?" ein. Bei Interviews, wenn wir rausgehen und mit Leuten reden oder überhaupt zu lernen versuchen, gibt es die goldene Regel: "Frag fünfmal: Warum?" Wie die Kinder immer: "Warum? Warum? Warum? ..." Das ist meine Lieblingsfrage. Neugierig sein ist ja eine ganz wichtige Eigenschaft, nicht nur für einen Design Thinker, sondern auch beim Fragen.
 

Zur Person: Jochen Gürtler ist studierter Informatiker, Gestalttherapeut, Business Coach und Lehrbeauftragter an der School of Design Thinking am Hasso-Plattner-Institut in Potsdam. In seiner Rolle innerhalb des Design and Co-Innovation Center der SAP plant und moderiert er Design-Thinking-Workshops und -Trainings, begleitet Kunden bei der Einführung von Design Thinking und unterstützt Co-Innovationsprojekte. Zudem ist er freiberuflicher Innovations-Coach, Redner und Buchautor. 


Zitate


"Was ist überhaupt die Frage? Was ist das zu lösende Problem?" Jochen Gürtler: Immer hinterfragen

"Die Lösung sollte nicht schon in der Frage impliziert sein." Jochen Gürtler: Immer hinterfragen

"Im Unternehmenskontext sind Fragen oft zu geschlossen, zu viele Randbedingungen sind vordefiniert." Jochen Gürtler: Immer hinterfragen

"Sich Lösungen zu überlegen, kann auch verwirren, weil wir erst einmal das Problem verstehen wollen." Jochen Gürtler: Immer hinterfragen

"Problem und Lösung passen oft nicht zusammen, weil die Frage schon völlig falsch gestellt und verstanden wurde." Jochen Gürtler: Immer hinterfragen

"Im Design Thinking entwickeln wir echte Empathie für unsere potenziellen Nutzer und deren Lebenssituation, und basierend darauf formulieren wir dann Fragen, in denen der Nutzer im Zentrum steht." Jochen Gürtler: Immer hinterfragen

 

changeX 23.01.2015. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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Autor

Winfried Kretschmer
Kretschmer

Winfried Kretschmer ist Chefredakteur und Geschäftsführer von changeX.

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