Transformation von Innen

Der entstörte Mensch - zu dem neuen Buch von Petra Bock
Rezension: Winfried Kretschmer

Das alte, etablierte Denken passt nicht mehr zu unserer Wirklichkeit. Es ist aus der Zeit gefallen. Weil es die Menschen in ihrer Entfaltung behindert. "Was brauche ich, was brauchen andere, was braucht Leben, um sich zu entfalten?" - das könnte die Leitidee eines neuen Paradigmas sein, schlägt eine Autorin vor. Und sagt: "Die große Veränderung, die wir brauchen, fängt in jedem Einzelnen von uns an."

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Es braucht ein neues Denken. Ein Denken, das der neuen, hyperkomplexen Realität im 21. Jahrhundert gerecht wird. Das ist leicht gesagt und wurde schon vielfach proklamiert. Im Grunde aber fangen die Probleme damit erst an. Was meint neues Denken? Und was ist Denken überhaupt? Die Frage ist nicht banal, sondern führt mitten hinein in die Grundfragen menschlicher Wahrnehmung und Erkenntnis. 

Schon wenn wir in der Alltagssprache von Denken reden, ist klar, was gemeint ist. Denken ist die Tätigkeit des Verstandes. Sein Gegenstand sind Gedanken, die begrifflich formuliert werden. Es geht um Erkenntnisse und Schlussfolgerungen, die in begründbarer und nachvollziehbarer Form ausgedrückt werden. Nicht um Gefühle, Empfindungen, Assoziationen, innere Bilder, wie sie etwa bei der Beschäftigung mit Musik, Kunst, Literatur und Natur entstehen. Denken meint also den diskursiven Gebrauch des Verstandes. Es steht in der Tradition des westlichen Rationalismus und grenzt sich ab von irrationalen Motiven und Gefühlen. Denken ist rationales Denken: begrifflich, abstrakt, begründbar und damit intersubjektiv nachvollziehbar.


Denken, schnell und langsam


Aber wissen wir nicht schon lange, dass der Mensch eben kein rein rationales Wesen ist, sondern Gefühle eine entscheidende Rolle spielen? Mehr noch, dass Gefühle den Verstand eher beherrschen als der Verstand die Gefühle, wie der Hirnforscher Gerhard Roth einmal geschrieben und damit einen tiefgreifenden Wandel in der wissenschaftlichen Erkenntnis beschrieben hat? Denn im Denken über das Denken hat sich ein grundlegender Wandel vollzogen. Die Dominanz rationalen Denkens wurde infrage gestellt; die dogmatische Annahme, jeder Mensch denke rational und logisch, geriet ins Wanken. 

Bestehen aber blieb die grundlegende Dichotomie des westlichen Rationalismus: die zwischen Verstand und Gefühl. Sie beinhaltet zugleich eine Hierarchie: Gegenüber den schwer nachvollziehbaren, weil unbewussten - eben irrationalen - Prozessen ist das rationale Denken die höhere Instanz. Seine Aufgabe ist es nicht zuletzt, emotional bedingte Fehlschlüsse und Wahrnehmungsfehler zu korrigieren. Diese Dominanz zeigt sich nicht zuletzt darin, dass die wachsende Erkenntnis über die beherrschende Rolle unseres intuitiven, automatischen Wahrnehmungsapparates in der rationalen Sprache der Wissenschaft formuliert ist. So fußt diese Erkenntnis eben auf dieser Trennung zwischen Gefühl und Verstand, zwischen dem Reich der Emotionen und dem des rationalen Denkens. Eine unauflösbare Paradoxie, weil nur die Sprache Gründe darstellen kann. 

Entscheidend dazu beigetragen, die Fehler und Fehlschlüsse unseres Wahrnehmungsapparates aufzudecken, haben die Forschungsarbeiten von Daniel Kahneman und Amos Tversky. Ihre Idee, dass unser Denken anfällig ist für systematische Fehler, ist heute weitgehend anerkannt. Und Kahneman war es auch, der die Dichotomie, verbunden mit der (zumindest implizit noch bestehenden) Dominanz der Ratio aufgebrochen hat. Thinking, Fast and Slow. Schnelles Denken, langsames Denken. Dieser Buchtitel ist ein Meilenstein. Er sagt unmissverständlich: Alles ist Denken: die schnellen, intuitiven, im Unbewussten ablaufenden Prozesse ebenso wie das langsame Abwägen von Gründen in der Ratio. Zusammen erst ergeben sie menschliches Denken. Bekanntlich unterscheidet Kahneman (basierend auf der langjährigen gemeinsamen Forschung mit dem früh verstorbenen Amos Tversky) - zwei mentale Systeme, System 1 und System 2. 

System 1 arbeitet automatisch, schnell, unbewusst, weitgehend mühelos und ohne willentliche Steuerung; sein Metier ist das schnelle Denken. System 2 hingegen ist zuständig für die anstrengenden mentalen Aktivitäten. Es ist logisch, berechnend, bewusst und langsam. System 1 ist erklärtermaßen der "Held" von Kahnemans Buch. Es will die fantastische Leistung dieses Denkapparates würdigen - trotz der Wahrnehmungsfehler, die dieser systematisch produziert. Und es bricht mit der Dichotomie. Zugunsten der Vorstellung einer Interaktion zweier Systeme.


Gestörtes Denken


Der langen Einführung kurzer Sinn: Die Forderung nach einem neuen Denken bezieht sich zuallermeist auf das rationale Denken. Doch wer ein neues Denken fordert, muss beide Systeme im Blick haben, nicht nur das langsame, rationale Denken. Es braucht ein ganzheitliches, umfassendes Modell der Wirklichkeitskonstruktion. Ein Modell, das unsere Sicht der Welt rekonstruiert und den Wandel dieser Weltsicht in der Zeit darstellt. Eben das ist der Ansatz von Petra Bock. Das ist das Thema ihres neuen Buches Der entstörte Mensch. 

Petra Bock ist Politikwissenschaftlerin und arbeitet als Managementberaterin und Executive Coach in Berlin. Als Autorin ist sie vor allem durch eine erfolgreiche Reihe von vier Büchern zum Thema "Mindfuck" bekannt geworden. Mindfuck, das sind für Bock Denkmuster, mit denen wir uns selbst behindern und "uns den Zugang zu unserem eigentlichen Potenzial versperren". Dieser Gedanke findet sich nun in erweiterter Form auch in Der entstörte Mensch. Bock begreift diese blockierenden Denkmuster als "gestörtes Denken". Dieses verhindere letztlich, dass Menschen ihr vollständiges Potenzial ausschöpfen und wie erwachsene Menschen handelten. Diese Entfaltung, die von den dominierenden alten Denkmustern verhindert wird, bildet dann auch den Kern eines neuen Denkens, das die Autorin erreichen will. Dessen Grundgedanke: "Ich schlage vor, menschliches Denken und Verhalten danach zu beurteilen, ob es Entfaltung auf individueller und kollektiver Ebene ermöglicht oder blockiert, ob es störend oder entstörend wirkt." 

Die Autorin kann sich in ihrer Arbeit auf ein breites Erkenntnisfundament stützen. Ihre wissenschaftliche Ausbildung gibt ihrem Denken eine sichere Leitlinie, die unzähligen Coachinggespräche, die sie geführt hat, bilden die tiefe Quelle des Verstehens. Was Bock schreibt, ist sehr nah dran an den Menschen, ihrem Denken, Fühlen und Handeln. Dieses tiefe Verständnis ist unmittelbar spürbar.  

In ihrem Buch umreißt sie das alte Paradigma und seine Logik, entwirft ein neues, der Zeit angemessenes Leitbild, das an seine Stelle treten soll, und beschreibt den Wandel zu dieser neuen Denkweise. Diese Schritte sollen im Folgenden kurz referiert werden. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Konzeption des Paradigmas.


Eine Leittheorie über das Leben


Bocks Beobachtung zufolge denken Menschen in bestimmten Mustern. Diese Denkmuster "sind in unserer mentalen Welt als Frames gespeichert, also nicht nur mit Gedanken, sondern auch mit Gefühlen, Bildern, Erinnerungen und daraus abgeleiteten Erwartungen verbunden", schreibt sie. "Frames funktionieren einfach und sind zugleich komplex." Sie gehören zum schnellen Denken. Diese Muster des Denkens und Fühlens folgen wiederum einer Leittheorie: einem grundlegenden Paradigma oder in anderen Worten einer "fundamentalen Konstruktion von Sinn und Wirklichkeitserwartung", die grundlegende Annahmen über das Leben trifft und in der die einzelnen Denkmuster wie in einem Rahmen aufgehängt sind. 

Bock geht dabei über eine konstruktivistische Annahme hinaus. Menschen konstruieren nicht nur ihre Wirklichkeit, sondern sie konstruieren sie nach einem bestimmten Bauplan. Diesen Bauplan nennt Bock Fundamentalparadigma. Ausführlich zitiert: "Die vorbewusst geglaubten Prämissen und die Logik dieses mentalen Bauplans bestimmen darüber, was wir wahrnehmen, wie wir es wahrnehmen wie wir es interpretieren. Es beginnt bei der Wahrnehmung unseres Selbst, unserer inneren Vorgänge und erstreckt sich ebenso auf die äußeren Vorgänge und die Welt, die wir als äußere Welt wahrnehmen. Die Struktur dieses Bauplans, also des derzeitigen Fundamentalparadigmas, triggert und steuert auch unsere Gefühle, unsere Konstruktion von Sinn, Bedeutung, Wert - schlichtweg allem, was sich in unserer mentalen Welt geistig, emotional und körperlich abspielt." Dieses Fundamentalparadigma beinhaltet eine Vorstellung über Sinn und Zweck des Lebens an sich.


Ein Paradigma, das uns in unserer Entfaltung behindert


In drei Schritten entfaltet sich im Buch der Gedankengang: 

Gestörtes Denken. Das heute vorherrschende Paradigma konzipiert Leben als Überleben. Dieses Denken strebt nach Eindeutigkeit, Sicherheit, Konstanz und Stabilität. Es "funktioniert bipolar, hierarchiebildend und linear-kausal". Nach diesem Denken gibt es also immer zwei Alternativen, von denen eine richtig, und deren Zusammenhang linear und kausal ist. Im alten Denken ist die Frage: "Wer ist besser? Wer steht höher? Wer darf zuerst? Wer hat den Vorrang? Wer sagt, wo es langgeht? Oder aber: Wer ist schuld? Wer muss haften? Wer muss bestraft werden? Altes Denken ist vergleichend, bewertend, simplifizierend und zwingt uns permanent dazu, Entscheidungen zu treffen." Und permanente Entscheidungen verursachen Stress. Die Autorin identifiziert sieben "Störungsframes", die in Stress, Aggression oder Depression münden: Katastrophendenken, Bewertung, Druck, Misstrauen, Selbstverleugnung, ein Festhalten an starren Regeln und Übermotivation. Dieses alte Denken aber passt nicht mehr zu unserer Wirklichkeit, sagt Bock. 

Aus der Zeit gefallen. Hier setzt ein zentrales Argument der Autorin an: Demnach folgt menschliches Denken heute einem Paradigma, das aus einer Epoche der menschlichen Zivilisation stammt, die soeben zu Ende geht. Es ist ein Leitbild, ein Denkmuster, das aus der Zeit gefallen ist. "Wir orientieren uns mental an einem Paradigma, das uns unsere Gegenwart weder verstehen noch bewältigen lässt." Es "ist anachronistisch geworden, weil es uns … in zu niedrigen Entwicklungsstufen unseres humanen Potenzials hält". Der Mindfuck-Gedanke: Weil es uns in unserer Entfaltung behindert. Nach dem technischen brauche es nun den menschlichen Fortschritt, proklamiert die Autorin. Das aber verlangt eine andere Logik: die der Potenzialentfaltung. 

Das Entfaltungsparadigma. Als Paradigma eines neuen Denkens biete sich Entfaltung an, sagt Petra Bock. Die Leitfrage laute: "Was brauche ich, was brauchen andere, was braucht Leben, um sich zu entfalten?" Allein schon diese Frage lenkt den Blick auf die Vielfalt. Denken wird mehrdimensional und prozesshaft statt bipolar, linear und kausal. Und nicht zuletzt bilde die Frage nach der Potenzialentfaltung die Grundlage einer einfachen Ethik für das Anthropozän. Der Coachingansatz wiederum bildet den Wegweiser für den Wandel zum neuen Denken. Bock konzipiert diesen als "Inner Change", als "Transformation von Innen", als "Prozess der bewussten Selbstaufklärung". Das Buch bietet dazu auf 15 Seiten eine sehr persönlich gehaltene Anleitung zur Selbstentstörung in Form eines Selbstcoachings. Welche Werte und Kompetenzen in dem neuen Paradigma entscheidend werden, entwickelt die Autorin in sieben Entfaltungsframes, die - ebenso wie die sieben Störungsframes - die Denkmuster der zeitgenössischen Diskurse um die Entwicklung von Menschen, Organisationen und Gesellschaften spiegeln und abbilden. Neugierde und Mut, Selbstgewissheit, Präsenz und Achtsamkeit, Aufmerksamkeit, Großzügigkeit und Fairness, Fantasie und Kreativität, Vertrauen und Orientierung am Sinn bilden einige der Koordinaten für einen neuen inneren Kompass, der Orientierung in einer sich wandelnden Welt geben soll.


Nicht ohne System 1


Petra Bock ist ein großartiges Buch gelungen, das souverän aktuelle Zeitströmungen erspürt, verdichtet und in ein schlüssiges Konzept einer großen Transformation gießt. Vor allem macht dieses Buch deutlich, dass die Entwicklung eines neuen Denkens auf halbem Wege (oder früher schon) stehen bleibt, wenn sie sich allein auf die Ebene rationalen Denkens konzentriert. Ohne System 1 geht gar nichts - weder bei der Konstruktion von Paradigmen und Leitbildern, die eben auch Bilder, Erinnerungen und Motive umfassen, noch bei der Weiterentwicklung als Person. Diese "Transformation von Innen" anzunehmen und sein Leben neu auszurichten, ist der Appell dieses Buches: "Die große Veränderung, die wir brauchen, fängt in jedem Einzelnen von uns an." 


Zitate


"Denkmuster … sind in unserer mentalen Welt als Frames gespeichert, also nicht nur mit Gedanken, sondern auch mit Gefühlen, Bildern, Erinnerungen und daraus abgeleiteten Erwartungen verbunden. Frames funktionieren einfach und sind zugleich komplex." Petra Bock: Der entstörte Mensch

"Im alten Denken gibt es nur zwei Alternativen. Wer ist besser? Wer steht höher? Wer darf zuerst? Wer hat den Vorrang? Wer sagt, wo es langgeht? Oder aber: Wer ist schuld? Wer muss haften? Wer muss bestraft werden? Altes Denken ist vergleichend, bewertend, simplifizierend und zwingt uns permanent dazu, Entscheidungen zu treffen." Petra Bock: Der entstörte Mensch

"Aus Sicht unseres Denkens ist die Zeit aus den Fugen geraten. In Wirklichkeit aber ist unser Denken aus der Zeit gefallen." Petra Bock: Der entstörte Mensch

"Wir orientieren uns mental an einem Paradigma, das uns unsere Gegenwart weder verstehen noch bewältigen lässt." Petra Bock: Der entstörte Mensch

"Das zweidimensionale, vertikale Schema des alten Denkens passt nicht mehr zu unserer Wirklichkeit. Das alte Paradigma stimmt nicht mehr." Petra Bock: Der entstörte Mensch

"Es gibt nichts Richtiges im falschen Mindset. Es gibt keine Lösung, es gibt keine Befreiung, es gibt keine Veränderung innerhalb des Rahmens unseres bisherigen Denkens." Petra Bock: Der entstörte Mensch

"Ich schlage vor, menschliches Denken und Verhalten danach zu beurteilen, ob es Entfaltung auf individueller und kollektiver Ebene ermöglicht oder blockiert, ob es störend oder entstörend wirkt." Petra Bock: Der entstörte Mensch

"Inner Change heißt, sich selbst und die Welt mit anderen Augen zu betrachten. Was wir aber mit anderen Augen betrachten, verstehen und behandeln wir auch anders." Petra Bock: Der entstörte Mensch

"Die große Veränderung, die wir brauchen, fängt in jedem Einzelnen von uns an." Petra Bock: Der entstörte Mensch

"Es kommt doch auf uns, den Menschen an." Petra Bock: Der entstörte Mensch

"Nach dem technischen brauchen wir jetzt den menschlichen Fortschritt." Petra Bock: Der entstörte Mensch

 

changeX 03.07.2020. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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Quellenangaben

Zum Buch

: Der entstörte Mensch. Wie wir uns und die Welt verändern. Droemer Verlag, München 2020, 320 Seiten, 20 Euro (D), ISBN 978-3-426-27691-4

Der entstörte Mensch

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Autor

Winfried Kretschmer
Kretschmer

Winfried Kretschmer ist Chefredakteur und Geschäftsführer von changeX.

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