Entoderweder

Nonbinär ist die Rettung - Michael Ebmeyers Kritik des binären Denkens
Rezension: Winfried Kretschmer

Die Genderdebatte hat das Nonbinäre auf die gesellschaftliche Tagesordnung gesetzt und zum Gegenstand einer Emanzipationsbewegung gemacht. Und sie weist zugleich über sich hinaus. Denn sie sei ein Modell für die mögliche Überwindung des binären Schemas. Des Denkens in Entweder-oder-Kategorien. Ein Autor nimmt die Genderdebatte zum Anlass für eine Kritik des binären Denkens.

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Dem reißerischen Titel zum Trotz ist die These dieses Büchleins durchaus interessant. Hebt sie doch die Debatte um Geschlechteridentitäten auf eine allgemeinere Ebene und ordnet sie zugleich ein in ein generelles Denkmuster: dass wenigstens einer von zwei gegensätzlichen Sachverhalten besteht - ein Mensch zum Beispiel also nur das eine oder andere sein könne: männlich oder weiblich, weiß oder farbig - aber nichts Drittes, nichts dazwischen. Kurz gesagt: "das Denken in Oppositionen, in Dichotomien, in festen Gegensatzpaaren", das binäre Prinzip. 

Die Genderdebatte habe das Nonbinäre auf die gesellschaftliche Tagesordnung gesetzt und zum Gegenstand einer Emanzipationsbewegung gemacht, schreibt Michael Ebmeyer. Und sie weise zugleich über sich hinaus: Sie sei "ein Modell für die mögliche Überwindung des binären Schemas". Das ist das Ziel des Autors. Was er tut, ist verdienstvoll: Ebmeyer wendet das binäre Schema ins Grundsätzliche, rückt das zugrundeliegende Denkmuster ins Blickfeld und stellt es infrage: das Denken in Entweder-oder-Kategorien.


Plädoyer für das Nonbinäre


Sein Buch ist "ein Plädoyer für das Nonbinäre, für subversives Denken und antiautoritäres Handeln". Michael Ebmeyer rekonstruiert die Debatte über das Nonbinäre als neue Welle der Dekonstruktion im Sinne des Philosophen Jacques Derrida. Und er erinnert an den Anarchismus, der sich dem binären Schema grundsätzlich verweigert hat. Der nicht fragte, wer herrschen solle, sondern Herrschaft grundsätzlich in Zweifel gezogen hat. Dass der Anarchismus mit seinem Vertrauen auf Selbstorganisation und Subsidiarität einen Weg aus dem binären Schema weisen und eine entsprechende Praxis beisteuern könnte, ist ein wichtiger Hinweis auf eine vielfach vergessene Denkrichtung. 

Zugleich aber verengt der Fokus auf die Frage der Herrschaft die Perspektive. So ist es sicher richtig, bei der Analyse des binären Musters bis zu den Wurzeln abendländischen Denkens vorzustoßen, wie Ebmeyer es tut. Jedoch bleibt er dabei bei dem antagonistischen Gesellschaftsmodell der antiken griechischen Sklavenhaltergesellschaft stehen, bei den Herrschaftsverhältnissen. Dabei wäre der Schritt hin zur Philosophie nur kurz. Er führte zur Begründung der klassischen Logik in der altgriechischen Philosophie. Es ist der Satz vom ausgeschlossenen Dritten, der das binäre Prinzip in der Tiefenstruktur des Denkens verankert hat. Jedes Ding kann nur eines sein oder das andere. Entweder-oder als Grundprinzip der Wahrnehmung. 

Mit seinem Fokus auf Genderfragen und Herrschaft bekommt das Buch auch den Wandel hin zum Sowohl-als-auch in Abkehr vom binären Entweder-oder nicht in den Blick. Denn beeinflusst und angeregt vom Aufstieg der Systemtheorie zeichnet sich vor allem in der Organisationsberatung bereits seit Längerem eine Abwendung von starren Denkmustern hin zu einer offeneren, systemischen Weltsicht ab (erinnert sei hier vor allem an die wegweisenden Bücher von Bernhard von Mutius). Die Konjunktur von Begriffen wie Ambivalenz, Ambiguität, Kontingenz, Unbestimmtheit, Unschärfe, Unvorhersehbarkeit bei der Beschreibung einer sich wandelnden Welt illustriert dies deutlich. In Anbetracht des Verlags ist diese Lücke verwunderlich.


Weiterdenken


Diese beiden Einwände wären zugleich die Ansatzpunkte für ein Weiterdenken: die Einordnung in einen vorhandenen Diskursstrang auf der einen und eine kritische Aufarbeitung der Grundlagen westlicher Logik auf der anderen Seite. Hier gilt es weiterzudenken. Ganz im Sinne des Schlussgedankens in Ebmeyers Essay: "Das binäre Schema, entstanden aus dem Kummer darüber, dass nicht alles eins ist, aus dem Drang, die Vielfalt unter ein Kommando zu zwingen, und aus dem Bedürfnis, die Komplexität der Welt auf ein schlichtes Prinzip zurückzuführen, trägt den Wunsch nach seiner Überwindung immer schon in sich. Tun wir ihm und uns den Gefallen, so gut wir können." 


Zitate


 

changeX 29.11.2023. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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Quellenangaben

Zum Buch

: Nonbinär ist die Rettung. Ein Plädoyer für subversives Denken. Carl-Auer Verlag, Heidelberg 2023, 85 Seiten, 14 Euro (D), ISBN 978-3-8497-0507-7

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Autor

Winfried Kretschmer
Kretschmer

Winfried Kretschmer ist Chefredakteur und Geschäftsführer von changeX.

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