Wegweiser im Coaching-Dschungel
Esoteriker, Abzocker und Narzissten findet man ebenso wie Geistliche, Psychologen und Studierte mit Unizertifikat in der Tasche. Geschätzte 300.000 bis 400.000 Coachs bieten hierzulande ihre Dienste an. Die Szene ist kaum überschaubar. Ein neuer Ratgeber schafft Orientierung.
Sie haben es nicht einfach, die Chefs von heute. Sie müssten zum Wohlgefallen ihrer Vorgesetzten performen, ihre Mitarbeiter sensibel führen und dabei auch noch mit sich selbst im Reinen sein. Ein hochgradig schwieriger, wenn nicht unmöglicher Balanceakt - zu dem nur die wenigsten von sich aus imstande seien. "Bekommt eine Frau das Attribut dominant zugeschrieben", so Erik Lindner in seinem neuen Buch, "wird ihr unterstellt, sie habe ihre weibliche Seite dem Aufstiegsehrgeiz geopfert. Gilt ein Mann als sensibel, dann steht er schnell im Ruf, ein schwacher Chef zu sein." Die Folge: Stress, Blockaden, Fehlreaktionen.
Ein professioneller Coach könne da helfen, so der Autor. Vorausgesetzt, er lässt seine Klienten durch Fragetechniken selbst Handlungsalternativen entdecken. Ratschläge zu erteilen sei tabu. "Beraten gehört nach der reinen Lehre nicht ins Coaching, das Beste ist, wenn der Klient die Lösung in sich selbst findet, ohne vom Coach in eine bestimmte Richtung gedrängt worden zu sein." Das ist die hohe Kunst. Nur wenige beherrschen sie.
Mit Coachingwahn hat Lindner ein kluges Buch geschrieben, einen fundierten Ratgeber, um sich als Suchender im Coaching-Dschungel besser zurechtzufinden. Denn der Titel "Coach" ist nicht geschützt. Jeder kann sich so nennen.
Die Nachfrage steigt
Um einen Eindruck zu vermitteln, wer sich alles auf dem Markt tummelt, versucht es Lindner mit einer Typologie: Neben dem ehemaligen Unternehmensberater oder Manager fände man auch den studierten Psychologen und Psychotherapeuten, den Personaler, den Geistlichen, den einen oder anderen Esoteriker, Abzocker und Narzissten sowie jede Menge Uniabsolventen mit teuer erkauftem Coaching-Zertifikat, Businessplan und Gründerkredit in der Tasche.
300.000 bis 400.000 Coachs bieten mittlerweile ihre Dienste an, 8.000 gehören zum harten Kern, der sich nach Lindners Einschätzung in den kommenden Jahren verdoppeln wird. Die Nachfrage steigt und 350 Ausbildungseinrichtungen im deutschsprachigen Raum schulen bereits die neue Generation. Ein einheitliches Curriculum gibt es nicht, lediglich einen bunten Strauß an Methoden - Lindner erklärt die bekanntesten: Transaktionsanalyse (TA), Neurolinguistisches Programmieren (NLP) und Inneres Team von Friedemann Schulz von Thun.
Wer übers Internet versucht, einen passenden Coach zu finden, wird vermutlich scheitern. Anders als beim Blick in den nächtlichen Himmel, so der Autor, wo altbekannte Sternbilder mühelos erkannt werden können, wächst die im Internet abgebildete Coaching-Galaxie exponentiell und bildet an den Rändern immer weitere, zum Teil chaotische Elemente aus. Alles und jedes wird mit dem modischen Label versehen. So gibt es Aufräum-Coachs, die Ordnung ins turbulente Leben ihrer Klienten bringen wollen, ebenso wie Tantra-Coaching, Hypnose-Coaching oder Pferde-Coaching. Gerade in Berlin entwickle sich ein ausuferndes Coaching-Prekariat mit Stundensätzen von 50 Euro.
Psychotherapie des Gesunden
Doch lange hält sich Lindner mit den Exoten der Branche nicht auf. Lieber nennt und zitiert er bekannte Coachs wie Wolfgang Looss, Uwe Böning, Sabine Asgodom, Claudia Daeubner, Anselm Bilgri und Michael Bordt. Und wer sie sich nicht leisten kann? Lindner weist darauf hin, dass zumindest die großen Unternehmen einen Pool an ausgesuchten Coachs haben. Doch im Grunde gilt immer: ausprobieren. Ausbildung, Wissen, Erfahrung, Reputation - schön und gut, doch auch das Zwischenmenschliche muss stimmen. Und das Gefühl dafür vorhanden sein: bis hierher und nicht weiter.
Die größte Gefahr gehe nicht von Scientologen aus oder anderen Sektierern, die angeblich als Coachs getarnt auf Mitgliederjagd gehen - denkbar, aber nicht belegt, so Lindners Einschätzung -, sondern von Scharlatanen, Schaumschlägern und Alleskönnern, die ihre "fachliche Kompetenz maßlos überschätzen". "Coaching ist Psychotherapie des Gesunden", zitiert Lindner die Berliner Psychiaterin Isabella Heuser. Alle anderen Hilfesuchenden gehörten auf die Couch.
changeX 30.05.2011. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
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Zum Buch auf der Verlagsseitewww.ullsteinbuchverlage.de/econ/...
Zum Buch
Erik Lindner: Coachingwahn. Wie wir uns hemmungslos optimieren lassen. Econ Verlag, Berlin 2011, 238 Seiten, 18 Euro, ISBN 978-3-430201018
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Heike LittgerHeike Littger ist selbständige Journalistin und wohnt in Mountain View, Kalifornien. Sie schreibt als freie Autorin für changeX.