Sie lesen diesen Artikel kostenlos
Vielen Dank für Ihr Interesse! Sie rufen diesen Beitrag über einen Link auf, der Ihnen einen
freien Zugang ermöglicht. Sonst sind die Beiträge auf changeX unseren Abonnenten vorbehalten, die mit
ihrem Abo zur Finanzierung unserer Arbeit beitragen.
Wie Sie changeX nutzen können, erfahren Sie hier: Über uns
Wir wünschen viel Spaß beim Lesen!
Ordnung unwahrscheinlich
Was ist Komplexität? Was macht sie aus? Die Schwierigkeit dabei: Es gibt keine Beschreibungstraditionen, an die ein zeitgemäßes Verständnis von Komplexität anknüpfen könnte. Der Soziologe Armin Nassehi versucht es trotzdem. Und entwickelt eine dichte, ihrerseits komplexe Beschreibung gesellschaftlicher Komplexität. Eine Zusammenfassung.
Komplexität ist das Grundthema von Armin Nassehis neuem Buch. Es handelt davon, wie Komplexität diagnostisch auf den Begriff gebracht werden kann: Was bedeutet Komplexität? Wie kann ein soziologisch fundierter, für die Beschreibung von Gesellschaft tragfähiger Komplexitätsbegriff aussehen?
Nassehis Arbeitsdefinition erinnert noch stark an die Standarddefinition in Systemtheorie und Kybernetik: "Komplex ist eine Situation dann, wenn sie mehrere andere Zustände annehmen kann, das heißt, wenn es zwischen einem Ereignis A und einem Ereignis B keine notwendige oder eineindeutige Beziehung geben muss." Davon ausgehend entwickelt der Autor eine dichte, ihrerseits komplexe Beschreibung gesellschaftlicher Komplexität.
Die wesentlichen Elemente von Komplexität sieht Nassehi in vier Punkten. Hier eine Zusammenfassung.
Die vier wesentlichen Elemente von Komplexität
1. Perspektivendifferenz
Komplexitätssteigerung besteht nicht einfach darin, dass Weltbilder komplexer werden, sondern dass "unterschiedliche Kategorien sich nebeneinander etablieren, die nicht aufeinander abbildbar sind". Unterschiedliche Bereiche in der Gesellschaft bilden sich heraus, "die die Welt mit ihrer je eigenen Logik, mit einem je eigenen Blick wahrnehmen und sich darin bewegen". Das bedeutet, dass eine Situation gleichzeitig mehrere Zustände annehmen und es für denselben Sachverhalt unterschiedliche Interpretationen geben kann. Unterschiedliche Perspektiven stehen nebeneinander, eine "Mehrfachcodierung der Wirklichkeit" etabliert sich. Polykontexturalität nennt das Roland Günther. Das bedeutet, so Nassehi, "dass es offensichtlich keine Instanz, keinen Ort, keine Perspektive, keine Unterscheidung, keinen Beobachterstandpunkt, keine Sprecherposition und keine Autorität gibt", die für alle Kontexturen gleichermaßen gültig wäre.
2. Verteilte Intelligenz
Komplexität erfordert verteilte Intelligenz. Eine moderne Gesellschaft kann ihre Komplexität nur bewältigen, wenn sie auf eine zentrale Steuerungsinstanz verzichtet. Koordination erfolgt nicht zentral, sondern mit jeweils unterschiedlichen Perspektiven an den Schnittstellen selbst. Die Gesellschaft zerfällt in unterschiedliche Regelkreise, die je nach ihren eigenen Maßgaben reagieren. Interdependenzunterbrechungen haben sich zwischen den unterschiedlichen Logiken etabliert. Die Folge: Die einzelnen Logiken und Funktionen werden voneinander unabhängig und orientieren sich zunehmend an sich selbst. "Dies ermöglicht erst jenen unwahrscheinlichen Komplexitätsaufbau und jene weltgeschichtlich völlig neue Dynamik, die die Moderne auszeichnet." Es finden also mehrere Koordinationen nebeneinander statt, die ihrerseits wieder koordiniert werden müssen. Was die Komplexität wiederum erhöht.
3. Ordnung als Postrationalisierung
Komplexität bedeutet, dass Ordnung unwahrscheinlich wird. Sie ist letztlich nur aus sich selbst heraus erklärbar, sie wird selbstreferenziell. Das heißt wiederum, dass Ordnung nur im Nachhinein - ex post - verstanden, erklärt und begründet werden kann. Das meint Postrationalisierung. Deshalb kann man Ordnung, so Nassehi, nicht vorwärts, sondern nur rückwärts verstehen. Aus der Perspektive der Ordnung wird gar nicht sichtbar, "wie unwahrscheinlich diese Ordnung ist - denn wir leben ja in ihr".
4. Optionssteigerung
Die Interdependenzunterbrechung hat es den Funktionssystemen ermöglicht, sich geradezu sprunghaft zu entwickeln. Die unterschiedlichen Logiken "können sich wechselseitig nicht mehr kontrollieren, weil sie die Erfolgsbedingungen ihrer selbst nur noch in sich selbst finden und damit ihre eigenen Optionen radikal steigern. Einfach ausgedrückt: Sie müssen sich immer weniger um die anderen Logiken kümmern und können deshalb hypertroph wachsen."
Nichts mehr aus einem Guss
Wirklich verständlich wird gesellschaftliche Komplexität aber wahrscheinlich erst, wenn man sie mit der überkommenen Beschreibungstradition von Gesellschaft kontrastiert: "Wir stellen uns eine wohlgeordnete Gesellschaft üblicherweise so vor, dass die unterschiedlichen Logiken, Interessen, Intelligenzen und Problemlösungskompetenzen irgendwie kooperativ aufeinander bezogen sind, dass diese also dadurch integriert werden, dass sie im Sinne einer Arbeitsteilung Rücksicht aufeinander nehmen, sich zugunsten des Ganzen einschränken könnten. Genau das aber scheint immer weniger vorausgesetzt werden zu können." Nichts ist mehr aus einem Guss.
Für die Gestaltung von Gesellschaft bedeutet das: Es fehlt "so etwas wie ein Hebel", um auf ein komplexes System zugreifen zu können. Weil die Intelligenz verteilt ist und die Gesellschaft in Regelkreise zerfällt, die nach ihrer eigenen Logik reagieren, entstehen Rückkoppelungseffekte, die "einen direktiven Zugriff auf die Gesellschaft ausschließen".
Gestaltung von Gesellschaft erfordert eine Umkehrung der Perspektive: "Ordnung ist nicht Voraussetzung, sondern Resultat von Praxis."
changeX 19.03.2015. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
Artikeltags
Ausgewählte Beiträge zum Thema
Die letzte Stunde der Wahrheit - Armin Nassehis grundlegendes Werk über Komplexität zur Rezension
Zum Buch
Armin Nassehi: Die letzte Stunde der Wahrheit. Warum rechts und links keine Alternativen mehr sind und Gesellschaft ganz anders beschrieben werden muss. Murmann Publishers, Hamburg 2015, 344 Seiten, 20 Euro, ISBN 978-3-86774-377-8
Buch bestellen bei
Osiander
genialokal
Amazon
Autor
Winfried KretschmerWinfried Kretschmer ist Autor, Redakteur & Macher bei changeX.
weitere Artikel des Autors
Soziale Innovationen erweitern das Innovationspotenzial einer Gesellschaft - ein Interview mit Jürgen Howaldt und Christoph Kaletka zum Interview
Zuhören - das neue Buch von Bernhard Pörksen zur Rezension
Verkörperte Gefühle - zum richtungsweisenden Buch von Thomas Fuchs zur Rezension