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Das Ende der Werkzeuge
Ein Gespräch mit Unternehmensberater und Buchautor Bolko von Oetinger.
Die Zukunft ist ungewiss. Alle Vorhersagen erscheinen zweifelhaft. Deshalb versagen alle gewohnten Methoden und Werkzeuge. Das ist die Zeit für Strategen, Philosophen und Denker. Anlässlich des Todestages von Carl Clausewitz sprach Winfried Kretschmer mit Bolko von Oetinger - jahrelang studierte er Leben und Werk des preußischen Kriegsphilosophen.
"Man sagt heute, die russische Armee
habe sich gegen Warschau in Bewegung gesetzt. Dann wird es bald die
letzte Entscheidung geben, der ich mit bangem Herzen entgegensehe.
Wenn ich sterbe, teure Marie, dann ist es in meinem Beruf." Das
schrieb der preußische General Carl von Clausewitz am 29. Juli 1831
an seine Frau Marie. Am 16. November 1831 war er tot. Nicht
gefallen, sondern von der Cholera dahingerafft. Vor seinem Aufbruch
in den Krieg hatte Clausewitz seine noch nicht abgeschlossenen
Manuskripte versiegelt - ein dickes Paket von Texten, in denen er
sich mit Strategie und Taktik der Kriegführung auseinander setzte.
Es blieb seiner Frau, die hinterlassenen Schriften zu
veröffentlichen. Die ersten drei Bände erschienen 1832 unter dem
Titel
Vom Kriege, ein Werk, das nachhaltigen Einfluss auf das
Denken über Krieg, Politik und Strategie ausübte. Die Gedanken von
Clausewitz zögen sich "wie ein unterirdischer Strom durch die
moderne Militärtheorie. Wir finden sie in den Schriften der
Marxisten-Leninisten und in den Abhandlungen Mao Tse-tungs ebenso
wieder wie in den neueren Arbeiten europäischer und amerikanischer
Generäle, Politikwissenschaftler und Militärhistoriker", schreiben
Bolko von Oetinger, Tiha von Ghyczy und Christopher Bassford in
ihrem in diesem Herbst erschienenen Buch
Clausewitz. Strategie denken. Der Ansatz der drei Autoren
erscheint kühn:
Vom Kriege als Wirtschaftsbuch, gedacht als
Entscheidungslehre für Wirtschaftsführer. "Ist Wirtschaft Krieg?",
dies und anderes fragte Winfried Kretschmer Bolko von Oetinger. Ein
Gespräch über Strategien für revolutionäre Zeiten.
Es ist sicher die falscheste Frage, vermutlich ist es aber die
Frage, die am häufigsten gestellt wird: Ist Wirtschaft Krieg?
Nein, es gibt zwei fundamentale Unterschiede zwischen
Wirtschaft und Krieg: Einmal ist Wirtschaft bemüht, Werte zu
schaffen. Im Krieg dagegen werden Werte zerstört. Zweitens hat
Wirtschaft immer einen Kundennutzen. Der Krieg kennt keinen
Kunden.
Warum beschäftigt sich ein Wirtschaftsbuch mit
Vom Kriege?
Der Krieg zeigt in einer Art Zeitkompression die gesamte
Palette strategischer Entscheidungen, die man vielleicht im Laufe
eines Wirtschaftslebens über zehn oder 20 Jahre fällt. Dadurch
treten die treibenden Kräfte und die ursächlichen Probleme klar
hervor. Der Krieg ist ein hervorragender Kontext, um über
Strategie nachzudenken.
Sie schreiben, Clausewitz habe das Wesen der Strategie
begriffen. Worin besteht ihr Wesen?
Ziel der Strategie ist es, so lange nachhaltigen Druck
auszuüben, dass man einen Vorteil daraus gewinnt. Ökonomisch
betrachtet geht es darum, ein wettbewerbliches Gleichgewicht
allmählich zu seinen Gunsten zu verändern, und zwar so, dass der
Wettbewerber zunächst nichts oder nur wenig davon merkt. Von
Clausewitz kann man sehr gut lernen, wie man das einfädelt und
zum Erfolg führt.
Aber dennoch: Laufen Sie nicht Gefahr missverstanden zu
werden, ähnlich wie Clausewitz mit seinem Diktum, Krieg sei die
Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln, häufig verkürzt
zitiert worden ist?
Natürlich besteht diese Gefahr, zumal die Wirtschaft voll
von Begriffen aus dem militärischen Bereich ist. Da ist von
Angriff und Verteidigung, von Übernahmeschlachten, von
Zusammenbrüchen, vom Kampf um Marktanteile die Rede. Aber diese
Analogie ist nicht richtig. Im Wettbewerb will man das
Gleichgewicht so weit verschieben, dass man das Marktgeschehen
beherrscht. Aber man will den anderen nicht vernichten.
Wenn der Krieg ein besonderer Fall von Strategie ist, wie kann
man es erklären, dass der Krieg so alt ist wie die Menschheit,
die Strategie in der Wirtschaft aber noch relativ jungen
Datums?
Das hängt zusammen mit der Entwicklung der Weltwirtschaft.
Nach dem Zweiten Weltkrieg bestand die Hauptaufgabe der
westlichen Volkswirtschaften allein darin, zu produzieren. Als in
den 60er, 70er Jahren die Märkte enger wurden und der
Verdrängungswettbewerb begann, entstand das Marketing. Und als
der Verdrängungswettbewerb noch härter wurde, richtete man
alle unternehmerischen Funktionen auf das nachhaltige
Stören des Marktes aus, da beginnt die Strategie. Nun setzt der
Kampf um den Konsumenten ein, nun geht es um Marktanteile,
Vorteile, Fähigkeiten, Überraschungen. Je heftiger die Märkte
aufeinander stoßen, desto wichtiger wird eine kluge
Strategie.
Worin liegt denn die Aktualität von Clausewitz? Warum sollte
man sich mit einem Buch beschäftigen, das nun annähernd 170 Jahre
alt ist?
Dieser Mann hat einen großen Umbruch - den Übergang vom
18. Jahrhundert in die Moderne - selbst miterlebt. Ihn
beschäftigte, wie Militärführer in einem totalen revolutionären
Wandel unter höchster Ungewissheit lebenswichtige Entscheidungen
treffen. Das ist der Transfer: Kann man aus seiner
Entscheidungslehre lernen, wie man in revolutionären Zeiten
Entscheidungen trifft? Denn auch wir erleben Brüche, die das
Leben sehr viel ungewisser machen. Wir leben in einer
technischen, ökologischen und politischen Revolution und wissen
nicht, wohin die Entwicklung führt. Zu lernen, wie man sich in
einer solchen Situation verhält, das ist der Wert von
Clausewitz.
Es geht also um den Umgang mit Risiko, mit Unsicherheit, mit
Ungewissheit?
Mit Risiko kann die Wirtschaft gut umgehen, man kann es
versichern, Rückstellungen bilden, in der Kalkulation
berücksichtigen. Womit wir nicht umgehen können, ist
Ungewissheit. Denn wir wissen nicht einmal, was für ein Ereignis
da eintreten wird, geschweige denn kennen wir dessen
Wahrscheinlichkeit. Dann müssen wir zum klaren und logischen
strategischen Denken zurückkehren, um im Nebel der Situation
Optionen auszumachen. Clausewitz leistet dabei eine gute
Hilfestellung.
Was kann man aus seiner Entscheidungslehre lernen? Denn unsere
Probleme sind doch wohl andere?
Er sieht Entscheidungen nicht als singuläre Ereignisse,
sondern als etwas, auf das der andere reagieren wird. Es ist ihm
eminent wichtig, dass die Strategie ein Wechselspiel zwischen
Wettbewerbern ist, das man stets neu analysieren muss, um dann
seinen Vorteil herauszuarbeiten. Diese Dynamik hat er ganz klar
erkannt. Das macht ihn so modern.
Wie sein dialektisches Denken. Er ist überzeugt, dass man
nur im Gegensatz erkennen kann: Ich kann die Kälte nur begreifen,
wenn ich die Wärme kenne, den Tag nur, wenn ich weiß, wie dunkel
die Nacht ist. Genauso kann man den Angriff nur austarieren, wenn
man die Verteidigung mitdenkt. Clausewitz legt Wert auf etwas,
das wir heute nicht mehr beherrschen, er fordert nämlich, diese
Polarität nicht in einer Synthese aufzulösen - also ein bisschen
Angriff und ein bisschen Verteidigung, ein bisschen Theorie und
ein bisschen Praxis. Nein: Im Denken sollten diese Polaritäten
als Spannungsfeld bestehen bleiben. Dieses Denken, nicht zu früh
einen Kompromiss zu suchen, sondern die Gegensätze offen zu
lassen, kann man in der Wirtschaft sehr gut anwenden.
Zum Beispiel?
Man ist gewöhnt, im Kunden den König zu sehen. In der
Clausewitz'schen Dialektik würde man sagen: Ja - aber hat er
nicht auch noch ein anderes Gesicht? Er vergleicht permanent
Preise, er führt mich vor, drückt, ärgert mich. Er ist nicht ein
etwas schwieriger König, sondern man muss ihn gleichzeitig als
Kunde und als Feind vergegenwärtigen. Und Clausewitz fordert: Lös
diesen Gegensatz nicht auf, sondern halte ihn simultan in diesen
beiden Extrempositionen - denn in der Spannung wirst du einen Weg
erkennen, den du vorher nicht gesehen hast. Ich glaube, das kann
man auf viele Situationen gut anwenden.
Aber selten bewegt sich das Denken so frei. Meist sind es doch
Standardsituationen, die nach Schema F aus Lehrbuch X bewältigt
werden.
Wir haben Strategie in den letzten Jahren
instrumentalisiert. Reengineering, Benchmarking, Balanced
Scorecard, Sigma Six, Total Quality und Supply Chain Management -
für alles gibt es Methoden und Werkzeuge, und wir glauben, damit
könnten wir ein Unternehmen beinahe wie an einem Steuerpult
führen. Das funktioniert vielleicht, solange man es mit stabilen,
sich wiederholenden Situationen zu tun hat. In dem Augenblick
jedoch, wo die Kurve nicht mehr geradlinig verläuft, sondern ein
revolutionärer Umbruch, ein Phasensprung eintritt, funktionieren
die gesamten Instrumente nicht mehr. Das ist das Ende der
Werkzeuge.
Der 11. September hat ja schlagartig vor Augen geführt, was
Ungewissheit bedeutet. Ähnliches gilt für den Crash der New
Economy. Was kann uns Clausewitz für den Umgang mit Ungewissheit
sagen?
In Umbruchphasen fällt es schwer, die Zeichen zu deuten -
Instrumente, Extrapolationen und Vorhersagen scheitern.
Ungewissheit kann dialektisch, in Szenarien, durchleuchtet
werden: Was wäre, wenn ...? Clausewitz war ein Verfechter des
Vorbereitens - vorbereiten und nicht warten, was passiert!
Schließlich muss man Distanz zum eigenen Geschäft entwickeln: Es
ist notwendig, einen zweiten Blick darauf zu werfen. Der erste
Blick, der immer der nahe liegende ist, hat uns mehrmals ganz
deutlich getäuscht. Wir kamen mit den alten Werkzeugen - und nun
stellen wir fest, dass nichts mehr passt.
Was ist zu tun?
Man muss sich jetzt Zeit nehmen, um der Qualität unseres
Geschäftes willen. Man muss jetzt viel grundsätzlicher darüber
nachdenken, was die bleierne Verzögerung bedeutet, in der wir uns
befinden. Geschwindigkeit ist jetzt überhaupt nicht wichtig in
der Entscheidung. Doch die meisten Firmen tun nur eines: Sie
hauen die Kosten runter. Aber das ist erst der zweite Schritt.
Der erste ist die Frage, was ist in meinem Geschäft essentiell
und was ist in der derzeitigen Situation für ein qualitativ gutes
Geschäft notwendig? Erst danach kommt die Frage, wo kann ich
einsparen? Das rasenmäherartige Abbauen von Kosten halte ich für
einen großen Fehler.
Sie haben bislang ein stark antagonistisch geprägtes Vokabular
benutzt - es geht um Auseinandersetzung, es geht um Gegnerschaft.
Aber spielen nicht auch Kooperation, Zusammenarbeit und Vertrauen
eine Rolle, im Krieg wie in der Wirtschaft?
Vom Wesen her ist der Wettbewerb etwas Antagonistisches.
Doch dialektisch gedacht, ist der Wettbewerber Freund und Feind
zugleich. Mit wem man sich auf dem Markt streitet, mit dem kann
man auch zusammenarbeiten. Ein schönes Beispiel sind die
Einkaufsportale, die DaimlerChrysler zusammen mit GM, Renault und
Ford entwickelt hat. Dort arbeiten die Wettbewerber, die auf dem
Markt die härtesten Konkurrenten sind, ganz friedlich zusammen
und wickeln das E-Business mit ihren Zulieferern ab. Oder wenn
sich Konkurrenten gegenseitig beliefern: Da ist der Wettbewerber
zur selben Zeit auch Zulieferer, Mitentwickler, Abnehmer und
Kunde.
Ich möchte auf eine andere Unterscheidung kommen, die
Clausewitz trifft: die zwischen Zweck und Ziel. Ziele sind ja
auch im Wirtschaftsleben klar: Unternehmensziele. Aber was sind
die Zwecke?
Zweck ist die höhere leitende Intelligenz. Clausewitz
fordert, nicht einen Krieg ohne einen politischen Zweck zu
beginnen. Krieg um des Krieges willen, das lehnt er ab. In der
Wirtschaft ist es ganz ähnlich, nur ist das verloren gegangen:
Wir haben uns beschränkt auf das Naheliegende und konzentrieren
uns nur noch auf Finanzziele - exemplarisch den Shareholder
Value. Aber ein Unternehmen hat eine höhere Intelligenz, als nur
Geld zu erzeugen.
Ziele lassen sich rein ökonomisch definieren, aber die Frage
nach Zwecken sprengt den Rahmen.
Ein Unternehmen kann nur überleben, wenn es Geld verdient
und Wert erzeugt, aber sein Zweck, seine letztgültige Intelligenz
oder sein Leitgedanke ist sicherlich umfassender und komplexer.
Shareholder Value ist notwendig, aber das Unternehmen ist mehr
als das. Ich glaube, der Stakeholder-Gedanke wird zurückkehren,
denn ein Unternehmen ist mehr als eine ökonomische Veranstaltung.
Man kann die Ökonomie nicht allein durch die Ökonomie erklären.
Das hören die Analysten natürlich nicht gerne. Die hätten alles
am liebsten so transparent wie die Anzeigetafel an der Börse. Das
wäre eine rein ökonomische Welt, die aber völlig verkennt, dass
das Ökonomische nicht darin besteht, alles gleich zu machen,
sondern die Differenzierung, die Verschiedenartigkeit zu
suchen.
Für Sie ganz persönlich - wie beantworten Sie die Frage nach
dem Zweck von Wirtschaft?
Ich glaube, dass das Ökonomische ein Teil des
Gesellschaftlichen ist. In primitiven Kulturen hat der Austausch
von Gütern eine ausgesprochen symbolische und psychologische
Bedeutung. In unseren Gesellschaften ist das verloren gegangen,
weil wir alles durchs Geld ersetzt haben. Aber ich glaube, das
Ökonomische besteht nicht nur aus Geld verdienen, sondern hat
auch gesellschaftliche Zwecke: man möchte damit Anerkennung,
Einfluss, Macht und Status erringen, man möchte sein Umfeld
gestalten, den Dingen eine Bedeutung beimessen, etwas tun, was
über das Utilitaristische hinausgeht, der Welt etwas
hinterlassen. Ist das nicht viel wertvoller?
Winfried Kretschmer, Journalist und Autor, ist Redakteur des Online-Magazins changeX.
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Winfried KretschmerWinfried Kretschmer ist Autor, Redakteur & Macher bei changeX.
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