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Rettet die Kreativität vor der "Kreativen Klasse"

Analyse einer folgenreichen Fiktion - ein Essay von Holger Rust.
Text: Holger Rust

Wem das Konzept einer Creative Class als zentralem Impulsgeber für die Innovationskultur von morgen schon immer etwas einfach gestrickt vorkam, wird es nicht wundern: Es findet keine Bestätigung in der Wirklichkeit. Nicht nur das: Die Idee einer kreativen Klasse ist ebenso elitär wie sozial prekär. Die künftige Wissensgesellschaft aber erfordert, alle einzubeziehen. Durch Bildung für alle.

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Zur Erinnerung: Kurz nach Beginn des Jahrtausends trat der amerikanische Politologe Richard Florida mit der Entdeckung einer neuen ökonomisch heilsbringenden Elite an die Öffentlichkeit - der Creative Class. Zur Identifikation dieser Elite bot Florida eine simple Definition. Er teilte die kreative Klasse in zwei Kategorien: "Die Creative Professionals sind Menschen, die in wissensbasierten Berufen arbeiten. Das sind Angestellte im Gesundheits-, Finanz- oder Bildungswesen. Unter den Super Creatives verstehe ich Wissenschaftler, Forscher, Ingenieure, Künstler, Designer, Autoren und Musiker."  

Seine eingängige Botschaft war simpel: Gemeinden, die diese flüchtige und sehr anspruchsvolle Elite dazu bringen könnten, sich anzusiedeln, würden einen starken Vorteil im globalen Wettbewerb um wirtschaftliche Spitzenpositionen erreichen. Das erschien vielen Kommunalpolitikern als eine faszinierende Zukunftsperspektive. Und so verbreitete Florida das Heilsversprechen in den nunmehr zehn Jahren seiner rastlosen Beratungs- und Reisetätigkeit weltweit. Jeder Gemeinde, jeder Region, in der Florida auftritt, wird eine hoffnungsfrohe Zukunft prognostiziert, wenn sie attraktive Infrastrukturen schaffe.


Nicht ganz neu - bis auf die drei "T"


Nun war diese Botschaft, dass Kreativität in der Wirtschaft des 21. Jahrhunderts eine große Rolle spielen würde, nicht so ganz neu. Sie erinnerte stark an Peter Druckers 1979er-Idee vom "Knowledge Worker", nahm gleichzeitig die von den Briten Charles Landry und Charles Leadbeater schon Ende der 90er-Jahre publizierten Impulse über die Creative Industries auf und verdichtete die empirisch vage Utopie des Soziologen Paul Ray von den 50 Millionen "kulturell Kreativen", die die Welt verändern würden. Auch wirtschaftswissenschaftlich war die Grundidee der Bedeutung innovativer Kreativität längst ausgearbeitet. Zu Beginn der 90er-Jahre schon hatte der Stanford-Ökonom Paul Romer erste Grundzüge seiner "Endogenous Growth Theory" formuliert, die auf der - zumindest für die damalige Zeit bahnbrechenden - Annahme aufbaute, dass im 21. Jahrhundert neben Rohstoff, Arbeit und Kapital eines der wesentlichen Elemente wirtschaftlichen und vor allem technologischen Fortschritts Ideen seien. Allerdings nur dann, wenn diese Ideen auf möglichst breiter Basis weltweit geteilt würden. Romer nannte das die "natürliche Externalität" kreativer Gedanken, die zu einer Beschleunigung der innovativen Dynamik in der Wirtschaft beitrage. Wichtig ist, dass Romer alle Akteure des wirtschaftlichen Prozesses in die Produktion solcher technologieorientierten Ideen einbezog, insbesondere die Mitarbeiter in Unternehmen. Der wichtigste Faktor sei also, so Romer damals, das Humankapital.  

Druckers Thesen werden zwar artig zitiert, sind aber selten wirklich pragmatisch umgesetzt worden. Und die in der globalen akademischen Szene weithin diskutierten Arbeiten von Romer erlangten aufgrund ihrer mathematischen Ableitungen nur geringe öffentliche Aufmerksamkeit. Landry und Leadbeater erreichten immerhin eine globale Prominenz, Letzterer vor allem durch seine Beratungstätigkeit für Tony Blair, die in der Konzeption der Creative Industries mündete. Doch das größte Geschick bei der Vermarktung der Kreativitätsidee bewies Richard Florida.  

Also lohnt es, einen Blick auf seine "Theorie", ihre empirischen Fundamente und die Konsequenzen zu werfen. Was nun die empirischen Fundamente angeht, bleibt die Sache sehr vage: Diese Klasse hochgebildeter Innovatoren, so Florida, zeichne sich durch drei T aus: Talent, Technologie und Toleranz. Diese - nennen wir sie so - 3T-Personalities siedelten sich da an, wo es schon Leute wie sie gebe, technologisch versiert, hochgebildet und an Vielfalt interessiert. Diese Vielfalt bemesse sich vor allem an der Zahl von bohemienhaft lebenden Künstlern und am Anteil von Homosexuellen an der Gesamtpopulation einer Region. Florida nennt diese Ratio den "Bohemian" beziehungsweise "Gay Index". Kommunalpolitiker seien gut beraten (vornehmlich von ihm selbst), wenn sie vor allem in den älteren Vierteln der großen Zauberstädte mit ihrer gewachsenen Struktur aus Altbau- und Fabrikarchitektur, mit Hinterhöfen und kleinen Läden und einer innovativen Kunstszene Wohnraum akquirieren, der dieser Creative Class gefällt. Die ökonomische Prosperität werde, wie gesagt, zwangsläufig folgen. 

Die schlichte Gleichung geht allerdings nur deshalb so geschmeidig auf, weil sie auf einer Tautologie beruht: Florida untersuchte im Hinblick auf die These künftigen Erfolgs die Verteilung der drei T-Faktoren - und charakterisierte zugleich die Gemeinden, wo sich diese T-Faktoren häuften, als zukunftsträchtige Wirtschaftsbiotope. Der Beleg für die Validität dieser Utopie war nur relativ überzeugend: Beispielhaft für Floridas Vorstellungen waren Gemeinden, die sehr stark von der New Economy profitiert hatten. Dass sich mit dem Niedergang dieses Wirtschaftszweiges auch die Aussagekraft über die Bedeutung der Faktoren änderte, behinderte nicht die ungeheure Faszination der Idee.


Traumritualisten und wirbelige Winzer - Panoptikum der kreativen Klasse


Denn der kommerziellen Logik der wissensbasierten Ökonomie folgend warfen sich nun sofort Hunderte von Epigonen auf die Idee und verkauften ihrerseits allenfalls leicht variierte Versionen. Trendgurus, Zeitgeistmedien, Lobbyistenverbände, ja sogar, wie sich gleich zeigen wird, Wissenschaftler. Sie alle fahndeten nach Gemeinden mit einem hohen Anteil der 3 T, um Atlanten der kreativen Klasse zu entwerfen, die nun wiederum als Bedrohungskulisse für andere Gemeinden wirkten, die so was nicht hatten und doch einen Weg in eine wirtschaftlich vielversprechende Zukunft suchten. So widmete das Hamburger Trendbüro einen der jährlich jeweils in den Medien verbreiteten Konjunkturen folgenden Trendtage dem Thema. "Die Wahl der Stadt entscheidet über unsere Identität", verkündete der Key Note Speaker dunkel - Richard Florida. Unvermeidlich wurde die Idee auch beim Gründer des "Zukunftsinstituts", Matthias Horx, aufgenommen, der stolz vermeldete, er habe das Konzept in Deutschland eingeführt, und gleich noch ein paar empirische Belege lieferte: "Floridas Team berechnete mit aufwändigen Zahlenwerken, dass die Kreative Klasse in Belgien, Finnland und den Niederlanden bereits 28 bis 29 Prozent der Erwerbstätigen ausmacht. In England und Irland 26 Prozent. In Schweden und Dänemark 21 Prozent. Und in Deutschland und Österreich zwischen 17 und 18 Prozent."  

Horx bestückte die Creative Class mit einer Unzahl von Tätigkeiten auf unterschiedlichen Ebenen - ganz ohne "aufwändige Zahlenwerke": Neben dem "Superkreativen Kern" aus Autoren, Schauspielern, Redakteuren, Regisseuren, Malern, Kabarettisten, Comiczeichnern und dergleichen und den "Rationalen Innovateuren" wie Forschern, Wissenschaftlern oder Technologiespezialisten sowie der "Kreativen Mitte" (Werber, Berater, Analysten, Medientrainer, Moderatoren, Stilberater, Event-Agenten) seien es die "Syntheseberufe" wie (das muss man zitieren, sonst glauben der Leser und die Leserin, man wolle den Trendforscher durch den Kakao ziehen) "Waldkindergärtnerin, Kulturvermittlerin, Duftgestalter, Trauer-Ritualisten, Selfness-Coach, Holistic Health Manager, Mentaltrainer, Artconnector, Outplacement-Berater, Interkulturberater, Cultural Coach, Systemiktouristiker". Hinzu kämen die "Kreativen Könner" wie "innovative Rechtsanwälte, schräge Köche, findige Ärzte, artifizielle Architekten, fantastische Fotografen, radikale Redakteure, weiterdenkende Journalisten, kreative Steuerberater, wirbelige Winzer, begnadete Schreiner, geniale Fleischhauer, visionäre Sportler". 

Atemlosigkeit erfasst den Empiriker. Aber das Panoptikum der "Creative Class" hält noch mehr bereit - das von den Kelkheimer Utopisten entdeckte "neue Prekariat", sozusagen die Roadies der Creative Class: Patchwork-Arbeiter, "Durchwurstler", Menschen mit "Lebenskünstler-Biographien", "durchaus" auch ein "Rekrutierungs-Milieu der aufwärtsmobilen Kreativen".


First we take Manhattan, then we take Berlin


Eine solche - ebenso beliebige wie wirtschaftspolitisch unsinnige - Ansammlung ist kommerziell hochinteressant, denn sie lässt zu, dass man fast jeder Gemeinde kreatives Potenzial bescheinigen kann. Und so landen denn auf der Hoffnung bringenden Liste des Trendforschers alle möglichen Regionen und Gemeinden: Frankfurt, Düsseldorf, Vorarlberg - ja, sogar Duisburg. Dort hatte Matthias Horx zum Entzücken des Bürgermeisters Sauerland auf einer Tagung "Zukunft findet Stadt" 2007 ein Biotop der "Kreativen Klasse" entdeckt. "Duisburg", jubelten die Veranstalter nach dem "beeindruckenden" Horx-Vortrag, "kann und soll sich den Herausforderungen der Zukunft ohne Angst stellen - die Stadt sei auf einem guten und richtungweisenden Weg, von einer industriell geprägten Stadt in eine neue Arbeitswelt überzugehen. Dabei würden Dienstleistungen, Systeme und Innovationen immer wichtiger, denn schon jetzt sind in Duisburg nur noch 15 Prozent der Erwerbstätigen als Industriearbeiter tätig. Die von Horx als ‚Kreative Klasse‘ bezeichnete neue Arbeitswelt macht in Duisburg ein Drittel der Bevölkerung aus - und die Hälfte der Einkommen", heißt es auf der Website der Stadt  

Dass statistisch gesehen natürlich zwangsläufig der Anteil der irgendwie kreativ Tätigen steigt, wenn die klassischen Jobs verschwinden, wird von den Verfechtern solcher Utopien nur als alarmistische Nörgelei diskreditiert, ebenso wie der Hinweis auf fehlgeschlagene Versuche in vielen von anderen Protagonisten als potenzielle Creative Cities gehandelten Gemeinden wie in Halle, wo man desillusioniert im IWH-Diskussionspapier 15/2008 das Scheitern der Ansiedlungsbemühungen einer Medienindustrie beklagte. Oder die keineswegs rasante wirtschaftliche Entwicklung der anderen ehemals künftigen Horte der Creative Class wie Detroit, Baltimore, San Francisco, Berlin - und vor allem die in allen Indizes vor 2008 immer weit vorn rangierende irische Metropole Dublin. Auch das Standardbeispiel, das zum Beleg der These "Economy follows Culture" inflationär verbraucht wurde, taugt nichts mehr: Bilbao. Die meisten Versuche, das Wunder von Bilbao zu wiederholen, sind trotz großer Architektennamen gescheitert: Valencia, Zaragoza, Galicien. Bilbao zeigt nur eins: Das Experiment war einzigartig.  

Nun gut, Trendforscher sind dazu verdammt, unablässig irgendetwas verkaufen zu müssen, aus dem sich Zukunftsberatungen ableiten lassen, und da nimmt man eben die Beispiele, die passen. Das ist ihr Geschäft. Auch bei eher lobbyistisch orientierten Institutionen wie dem Berlin Institut ist es erklärlich, dass das attraktive Konzept einfach übernommen wird, um die Geografie der kreativen Klasse auf der Grundlage der einmal vorgegebenen Kategorien zu kartieren: "Talent, Technologie und Toleranz - Wo Deutschland Zukunft hat", lautet der dramatisierende Titel einer Untersuchung des Instituts. Eine kritische Validierung der drei Florida-Ts gibt es nicht. Als empirischer Beleg solcher Konzepte erscheint die Rechnung, dass die Creative Industries einen weit größeren Anteil am BIP und an den Beschäftigtenzahlen habe als etwa der Bereich Automotive, so (nach "eigenen Recherchen") der Friedrichshafener Ökonom (und Präsident der Zeppelin University) Stephan Jansen. Die Definition der Creative Class folgt auch in seinem Essay über den vorgeblichen "Talentmagnetismus" dem Vorschlag Floridas - die drei T werden zum Gradmesser des Zukunftserfolgs. Und dort, wo man sie nicht in ausreichendem Maße vorfinde, werde es düster.  

Doch die Statistik ist irreführend und beruht auf demselben Trick, den schon Horx vorgeführt hat - der Adaption eines unglaublich breiten Spektrums von Tätigkeiten in eine Klasse: hier also der Kreativen. Das lässt sich umgekehrt mit jedem Wirtschaftssektor machen. Zum Beispiel wenn man den Sektor Automotive in die Mobility Industries überführt. Dann hört man es förmlich zischen, wie sich die Statistik mit Berufsgruppen aufbläst: Ingenieure der unterschiedlichsten Kompetenzen, sowohl in den Autofirmen als auch in der Zulieferindustrie und ihrem Netzwerk, Designer, Marktforscher, Marketingleute, Farb- und Geräuschexperten, einschlägig spezialisierte Rechtsanwaltskanzleien, Katalogproduzenten, Besitzer von Oldtimer-Garagen, Journalisten. Verkäufer im Autohandel, Logistiker, Transportunternehmer, Tankwarte, Siedlungsplaner, CAD-Spezialisten, Autoverleiher, Bus- und U-Bahn-Fahrer, Tuner, Reparaturwerkstätten, Versicherungen, Maschinenbauer, Tiefbauingenieure oder Straßenbauarbeiter, Radio- und Sound-System-Hersteller und hundert andere Professionen, von denen ein großer Teil eben noch zur Creative Class zählte. In der Praxis der Beratung spielt diese Utopie der fast allen offen stehenden "Creative Industries" allerdings kaum eine Rolle. Hier geht es um die Attraktivität von Städten für den gut verdienenden und ausgiebig konsumierenden "Superkreativen Kern", der alle anderen zu Komparsen der eigenen luxuriösen Existenz degradiert. 

Es wäre also wissenschaftlich eher geboten, im klassischen Sinne des kritischen Rationalismus die Voraussetzungen einer Theorie im Hinblick auf die mit ihnen begründeten Kausalitäten statistisch zu prüfen. Die Soziologie hat dazu eine Menge Verfahren entwickelt, die sicher recht kompliziert sind und sich im hektischen Geschäftsalltag von Trendagenturen und Beratungsunternehmen kaum integrieren lassen. Zumal sie, wie im vorliegenden Falle, das hübsche Geschäftsmodell, das sich ja aufgrund seiner unspezifischen Definitionen weltweit anwenden lässt, doch sehr arg zerzausen und mitunter sogar ins Gegenteil verkehren würden: Wo sich eine hochklassige innovative Industrie ansiedelt, folgen die sekundären Dienstleistungen und ihnen wiederum kreative Shops und künstlerische Kreativität, Originalität und Vielfalt. Die folgenden Beispiele für Reality-Checks sind hier vor allem deshalb ausgewählt, weil sie auf zahlreiche andere Studien verweisen.


Keine Bestätigung einer irgendwie gearteten Kausalität


Unabhängig von der aktuellen Diskussion hatten schon im Jahr 2000 die Regionalforscher von Prognos in einem Vergleich zehn europäischer Regionen zwei Faktoren auf ihre Bedeutung für wirtschaftliche Innovationskraft untersucht: das Unternehmen und die Region. Ihr Fazit: Es sind vor allem einzelne, hochkreative Unternehmen, die andere nachziehen und ein kreatives Netzwerk schaffen. "Firms (at least the regional ensemble of single firms) are able to create their own regional environment." Als Florida dann seine T-Faktoren vorstellte, setzte eine Reihe von statistischen Prüfungen ein. Edward Glaeser, ein auf städtische Entwicklung spezialisierter Ökonom am Harvard University Department of Economics, unterzog in einem durchaus wohlwollenden Review zu Floridas The Rise of the Creative Class das "aufwändige Zahlenwerk" einer Reihe von Regressionsanalysen - und zwar für dieselben 242 Gemeinden, die Basis für Floridas Empirie waren. Die Analyse kommt zum Ergebnis, das keines der drei T in einem signifikanten oder auch nur mutmaßlich klaren Zusammenhang zu wirtschaftlichem Erfolg eines Ortes oder einer Region stehe, bestätigte aber wiederum die herausragende Bedeutung von Bildung für ökonomische Prosperität: Was einzig zähle, so Glaeser, sei die Häufung guter Schulbildung - also jenes von Paul Romer bereits vor 20 Jahren identifizierte Element des "Humankapitals".  

Eine weitere bemerkenswerte Studie stellten die Politikwissenschaftler der University North Carolina at Chapel Hill, Michele Hoyman und Christopher Faricy, 2009 in der einflussreichen Zeitschrift Urban Affairs Review zur Verfügung. Ähnlich wie Glaeser nutzten sie Floridas Original-Index. Auch sie fanden keine Bestätigung einer irgendwie gearteten Kausalität. "Our results demonstrate that the creative class is not related to growth, whereas human capital is a good predictor of all economic growth and development measures. We found mixed results for social capital although it outperformed all models in predicting average wage." 

Zum selben Ergebnis war drei Jahre zuvor schon Ann Markusen gekommen, Direktorin des Projekts "Regional and Industrial Economics" am Humphrey Institute of Public Affairs der University of Minnesota. Sie hatte 2006 die drei Indikatoren Creative Class, Human Capital und Social Capital im Hinblick auf ihre Bedeutung für wirtschaftliches Wachstum getestet. Das Ergebnis bestätigt die Thesen Romers: "The statistical tests reveal that the creative class variable does not correlate with any measure of economic growth, whereas the human and social capital theories display varying levels of correlation with wage and job measurements." Markusens Arbeit ist vor allem deshalb erwähnenswert, weil sie keinen Beleg für eine von Florida und seinen Epigonen behauptete Korrespondenz zwischen den drei T-Faktoren identifizieren konnte. Mehr noch: "The poorest performing concept in the creative class theory is the tolerance measure, so poor that only the number of foreign-born residents related to any one of the five economic variables. We find no relation between the creative class and the migration into cities of young, knowledge workers. Additionally, only two of Florida’s original three Ts are connected to in-migration of knowledge workers: talent and technology." Auch Glaeser konnte keinen solchen Zusammenhang zwischen Bohemian oder Gay Factor und wirtschaftlichem Wachstum finden.


Wachsende Intoleranz in der Talentstadt


In einer bemerkenswerten Analyse mit dem Titel "The Consequences of the Creative Class: The Pursuit of Creativity Strategies in Australia’s Cities" dokumentieren die australischen Soziologen Rowland Atkinson und Hazel Easthope eine höchst unerwünschte Nebenfolge der Aufbereitung von interessanten Quartieren für die vermeintliche Creative Class: die wachsende Intoleranz der neuen Bewohner gegenüber der klassischen Bevölkerung und sozial prekären Bewohnern (Obdachlose, Arbeitslose, Randgruppen et cetera) in den gentrifizierten Stadtteilen. "This has emerged as the result of two factors. First, the drive to create clean and safe spaces to encourage social and economic investment. Second, the emergence of new communities in cities who are themselves less tolerant of some of these social problems." Diese Probleme verstärken sich dadurch, schreiben die Australier, dass Etats für Kindergärten, Schulen, für die Aktivierung bislang vernachlässigter Bildungspotenziale und die Lösung anderer sozialer Probleme fehlen, weil viel Geld in das internationale Marketing für die Creative City fließt.  

Eine solche Werbung ist nicht billig, wie das Beispiel Hamburg zeigt. Dort fieberte man eine Zeit lang mit im Wettbewerb um die Creative Class, wollte nach den Vorstellungen von Florida gar eine "Talentstadt" etablieren. Der damals zuständige Senator Dräger, ehemals als Berater bei Roland Berger tätig, engagierte denn auch für knappe 240.000 Euro die Beratungsagentur Roland Berger. Das Gutachten war von eben jener Trivialität, die nach den skizzierten Studien das Konzept der kreativen Klasse auszeichnet. "Besonders kreative Viertel" sollten "identifiziert und vermarktet" werden, ebenso "Zentren der Off-Kultur". Zudem sollte, ähnlich wie in der Luftfahrtindustrie, eine nachhaltige Forschungs- und Entwicklungsstrategie für Hochtechnologien entwickelt werden. Mittlerweile ist das Konzept in Vergessenheit geraten - obwohl die Idee vor allem bei Immobilieninvestoren immer wieder auflebt, wenn es darum geht, attraktive alte Viertel zu sanieren und den Nimbus des Andersartigen als werbewirksame Vorteile für die Etablierung der weltweit gleichartigen Loft- und Dachgeschossausbau-Kultur zu etablieren. Mit allem, was dazugehört: (echte) Bauhausmöbel, die Philippe-Starck-Zitronenpresse von Alessi, Küchenzeilen in lackiertem Beton und eine dienstbereite und dekorative Street-Art-Szene nebst Latte-macchiato-Lounges und Edelitalienern. 

Diese Monokultur einer vorgeblich kreativen Klasse führt dann zu weiteren sozialpolitischen Konsequenzen: Die einseitig nach dem Muster der Florida-Theorie geschneiderte Infrastrukturpolitik provoziert statt wirtschaftlichem Wachstum bürgerpolitische Gegenbewegungen. Der Autor und Hochschullehrer Matteo Pasquinelli, eine der intellektuellen Sonderexistenzen zwischen vielen Disziplinen und Tätigkeiten und kreativer Bohemien der Web-Kultur, zeichnet in seinem Essay "Immaterial Civil War: Prototypes of Conflict within Cognitive Capitalism" genau die Konsequenzen für Barcelona nach, die Atkinson und Easthope empirisch schon diagnostiziert hatten: "The ‚creative class‘ is the collective symbolic capital transformed into an anthropomorphic brand and a monopoly rent applied to distinctive parts of the society (‚creative class‘), of the territory (‚creative city‘), of the city itself (‚creative district‘). The ‚creative class‘ is a parasitic simulacrum of the social creativity that is detached from the precariat and attached to the upper class."  

Ergänzend zielt Pasquinellis Kritik wie die vieler anderer darauf, dass Bohemiens, alternative Künstler, Schwule, überhaupt alle nicht im Mainstream flottierenden Lebensweisen sozusagen auf eine subsidiäre und nicht selten dekorative Funktion für wirtschaftliche Prozesse reduziert werden.


"Dem Pöbel die Mietskasernen außerhalb"


Derartige Kritiken sind keineswegs nur die alarmistischen Nörgeleien von Randständigen, die ihre gemütlichen Biotope bedroht sehen und in einer überkommenen "Industrie-Romantik" schwelgen. In großer Eindringlichkeit warnte zum Beispiel 2006 der Economist in einer Sonderausgabe zur weltweiten Konkurrenz um "Talente" vor fatalen wirtschaftlichen Konsequenzen, diagnostizierte einen drohenden "Backlash against the Talent Elite" durch die Globalisierungs- und Modernisierungsverlierer und -kritiker aller Schichten.  

Und mit diesen Gedanken formiert sich weltweit der Widerstand. In Hamburg zum Beispiel: Im Zuge der Auseinandersetzung um das sogenannte "Gängeviertel", das Investoren nett zurechtmachen wollten, etablierte sich eine Initiative mit Sprechern wie dem Maler Daniel Richter oder dem Schauspieler Peter Lohmeyer, die sich erfolgreich in einem Manifest an die Öffentlichkeit wandten. "Liebe Standortpolitiker: Wir weigern uns, über diese Stadt in Marketing-Kategorien zu sprechen. … Wir glauben: Eure ‚Wachsende Stadt‘ ist in Wahrheit die segregierte Stadt, wie im 19. Jahrhundert: die Promenaden den Gutsituierten, dem Pöbel die Mietskasernen außerhalb."  

Berlin, zum Zweiten: Die Szenen teilen sich. Das Künstlermilieu schreibt im Stadtmagazin Zitty verächtliche Kommentare zur "Schleimscheißermeile" Friedrichstraße, auf der die junge Business-Elite "München spielt".  

Oder Lexington, Kentucky. Der Journalist Danny Mayer schrieb sarkastisch in einer einflussreichen Stadtteilzeitung: "Local politicians take jet trips on the public dole to see other ‚creative‘ cities, or when people (including downtown developers trying to sell expensive vacant lofts in the process) urgently press the need for Lexington to ‚get on board‘ with the creative urbanization that’s going on all around them in such uber-succesful cities as Dayton or Cincinnati or Knoxville. … They are, in effect, committing us to a pitched competition with the other 1,221 cities who also really, really want creative people to think they’re cool (and have the ‚creative consultants‘ on payroll to show for it)."  

Schließlich am heftigsten in der Stadt, die vor Jahren Florida begeistert aufnahm, ihm ein Institut einrichtete und um die 324.000 Dollar Jahresgehalt überweist, Toronto. Dort hat sich die Gruppe "Creative Class Struggle" etabliert, auf deren Homepage sich mittlerweile die Informationen zu einer weltweit eindrucksvoll wachsenden Schar von Gegnern der Creative-Class-Politik sammeln.  

Die Forderungen all dieser Initiativen konzentrieren sich letztlich in dem Gedanken, den vor 20 Jahren schon Paul Romer mit seiner von den Wurzeln des Chicagoer Neoliberalismus befreiten Idee des Humankapitals formulierte. Es ist ein Gedanke, der sich in allen empirischen Überprüfungen der Creative-Class-Theorie manifestiert, dessen geringer Sensationswert sich allerdings nicht zur Begründung lukrativer Beratungskonzepte eignet: Bildung, Schulen, die das kreative Potenzial aller Bürger wecken, gleich welcher Herkunft, gleich welcher Konventionen und Tätigkeiten. Die Vorstellung, Kreativität sei das Charakteristikum einer globalen flüchtigen Elite ist ein moderner Mythos - mehrheitlich von denen in die Welt gesetzt, die sich als "Kreative" in angesagten Szenevierteln niederlassen, um dort einen weltweit uniformen Nonkonformismus zu pflegen.


Wundertüte der Creative Class


Das wird schnell deutlich, wenn man sich, wie ein berühmter Blogger mit dem Namen "Citizen Renegade", fragt, wer denn tatsächlich für alle diese wundersamen Technologien verantwortlich ist, die die Wirtschaft stark machen: Applikationen, Autos, Wasseraufbereitung, medizinische Hochtechnologie, Flachbildfernseher, iPods, Smartphones, Laptops, Digitalkameras, Wi-Fi Hotspots, 3G, Blogs, YouTube, Online Shopping und die Energie, "um all das Zeug zu füttern" - diese ganze "Wundertüte der Creative Class", dann findet man eine höchst kreative Antwort auf den einflussreichen Seiten dieses Bloggers: Es seien Elektroingenieure, Computerwissenschaftler und dergleichen, in den meisten Fällen "incredibly unsexy male nerds", Normalbürger mit guter Bildung, Familienväter und Mütter, irgendwo zu Hause, oft auch in der wenig sensationellen Provinz.  

Das ist weit weniger überraschend, als es sich anhört. Denn wenn man sich die empirischen Studien anschaut, in denen sich die äußern, die in der Zukunft tatsächlich arbeiten werden (und nicht die, die darüber reden), dann stoßen wir auf sehr traditionelle Motive. In allen Befragungen, die sich an hochklassig ausgebildete Studierende und junge Berufstätige richten, ganz gleich ob von PricewaterhouseCoopers oder Kienbaum, von der Initiative Wertebewusste Führung oder in den Antworten der von mir seit zehn Jahren kontinuierlich befragten jungen Ingenieure, IT-Spezialisten und Managerinnen und Manager: eine dauerhafte Beziehung zu einem Partner und einer Partnerin, finanzielle Sicherheit, ein loyaler Arbeitgeber, Freunde, Kinder, Haus und Heimat. Keine Patchwork-Karriere, kein Portfolio Working oder gehobene Zeitarbeit. Der Wunsch nach globaler Mobilität ist beklagenswert niedrig ausgeprägt. Nicht umsonst kehren weit über 80 Prozent aller hochklassigen Wissenschaftler, die Deutschland verlassen haben, nach einer relativ kurzen Zeit wieder zurück. Allerdings nicht nur aus emotionaler Heimatverbundenheit, sondern auch, weil es eine Bedingung in diesem Land gibt, die kreative Arbeit befördert: eine im Weltmaßstab hochinnovative Industrie - die Abnehmer von Kreativität und innovativen Konzepten: Schraubenfabrikanten, Hersteller von medizinischen Werkstoffen und Verkehrsleitsystemen oder Komponenten für Hochleistungsventile, von Autoelektronik, Kraftwerkstechnologie, geriatrischen Hilfen, Satellitentechnologie oder Spezialbehältern für Chemietransporte - was auch immer. Sie sind es, die mit ihren Mitarbeitern die Innovationskultur beleben.  

Daher gilt der Appell, den die amerikanische Forscherin Ann Markusen auf der Grundlage der oben beschriebenen Impulse formulierte: Bürgermeister seien besser beraten, für alle Bewohner Bildungseinrichtungen zur Verfügung zu stellen, als sich auf die Illusion einzulassen, es gäbe eine sozialpolitische Abkürzung, einen "quick fix", indem man nur in ein paar hippe, bohemienhafte Stadtviertel als Ansiedlungs-Biotop für die "Kreative Klasse" investiere. 


Die Recherche, auf der dieser Essay beruht, ist Teil eines Projekts, in dem unter dem Titel: "Das Prinzip Hoffnung und die Statistik" aktuelle Zielgruppen- und Milieu-Konstruktionen auf ihre Validität getestet wurden. Weitere Informationen: dr.holger.rust@t-online.de  



Zitate


"Atemlosigkeit erfasst den Empiriker." Holger Rust über die Theorie der "Kreativen Klasse"

"Die drei T werden zum Gradmesser des Zukunftserfolgs. Und dort, wo man sie nicht in ausreichendem Maße vorfinde, werde es düster." Holger Rust über die Theorie der "Kreativen Klasse"

"Hier geht es um die Attraktivität von Städten für den gut verdienenden und ausgiebig konsumierenden "Superkreativen Kern", der alle anderen zu Komparsen der eigenen luxuriösen Existenz degradiert." Holger Rust über die Theorie der "Kreativen Klasse"

"Die einseitig nach dem Muster der Florida-Theorie geschneiderte Infrastrukturpolitik provoziert statt wirtschaftlichem Wachstum bürgerpolitische Gegenbewegungen." Holger Rust über die Theorie der "Kreativen Klasse"

"Die Vorstellung, Kreativität sei das Charakteristikum einer globalen flüchtigen Elite ist ein moderner Mythos - mehrheitlich von denen in die Welt gesetzt, die sich als "Kreative" in angesagten Szenevierteln niederlassen, um dort einen weltweit uniformen Nonkonformismus zu pflegen." Holger Rust über die Theorie der "Kreativen Klasse"

 

changeX 14.10.2010. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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Zum Buch

: The Rise of the Creative Class. And How It's Transforming Work, Leisure, Community and Everyday Life. Basic Books, New York 2003, 434 Seiten, ISBN 978-1864032567

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Autor

Holger Rust
Rust

Prof. Dr. Holger Rust lehrt Soziologie an der Universität Hannover und ist wissenschaftlicher Berater von Unternehmen im In- und Ausland. Schwerpunkte seiner Hochschultätigkeit sind Kommunikation und Marketing, Arbeits- und Wirtschaftssoziologie sowie quantitative und qualitative Forschungsmethoden. E-Mail: dr.holger.rust@t-online.de

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