Moderne Unmündigkeit?
Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen - und des der anderen. Das könnte das Leitmotiv einer neuen Aufklärung sein, die auf einem neuen Denken und einem erweiterten Verständnis von Rationalität gründet. Die Koordinaten dieses neuen Denkens beschreibt Bernhard von Mutius in unserem Gespräch. Folge drei führt nun die Wendung einer neuen Aufklärung ein: die Erweiterung vom Ich zum Wir.
Nachdem die ersten beiden Gesprächsschleifen versucht haben, die Koordinaten eines neuen Denkens in unserer Zeit zu umreißen und gewissermaßen die Grundlagen zu klären, führt die dritte nun die Wendung einer neuen Aufklärung ein: die Erweiterung vom Ich zum Wir. Und sie vertieft das Verständnis von der Bedeutung des Nichtwissens für eine zeitgemäße Weltsicht.
Unsere Ausgangsfragen: Wenn Aufklärung der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit ist, was ist dann der Kern einer neuen Aufklärung? Geht es erneut um Unmündigkeit? Und ist diese abermals selbst verschuldet? Und ist der Kern von Aufklärung wieder: Selberdenken?
Wenn man den Gedanken der Aufklärung zurückführt auf die grundlegende Definition, die Kant geprägt hat: Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit - oder noch mal kürzer: Selbstdenken - wo ist da die historische Analogie zu heute? Was könnte eine Aufklärung heute auszeichnen im Bezug zu der klassischen Definition von damals?
Das Thema Unmündigkeit scheint auf den ersten Blick weit weg. Sind nicht viele heute gut ausgebildet? Gibt es nicht in allen Disziplinen eine Wissensexplosion, unterstützt durch eine unübersehbare Zahl alter und neuer Medien? Doch Menge und Masse sind trügerische Kategorien, wenn es ums Denken geht. Die dominierenden Massenmedien sind nicht interessiert an Aufklärung. Sondern an Aufregung. Sie belohnen Gier und Beachtlichkeit, nicht Nachdenken und Nachhaltigkeit. Sie wollen abhängig, süchtig machen.
Das Thema Unmündigkeit scheint mir deshalb ziemlich aktuell zu sein. Zumindest mit Blick auf weite Teile der Bevölkerung, die im Wechselspiel der emotionalen Hochs und Tiefs massenmedialer Ereignisse und Spiele im Bann gehalten werden - und gehalten werden wollen. Die Massenmedien zielen ja nahezu durchgängig vor allem auf den erregten Augenblick. Auf das, was sie jetzt, hier und heute für massentauglich halten: das Spektakuläre, das Grobe, die Abkürzung. Und die sogenannten sozialen Medien verstärken bislang zumeist diese Tendenz.
Die Mündigkeit, in den komplexen Verhältnissen dieser Zeit differenziert selber zu denken, feine Unterschiede und Zusammenhänge zu erkennen und dabei geschichtliche Spuren lesen zu können, die möglicherweise in die Zukunft führen, hat in diesem lauten, aggressiven Betrieb einen schweren Stand. Interessant ist dabei: Wir habe tolle technologische Visionen, aber gleichzeitig produziert die Unterhaltungsindustrie seit einigen Jahren fast nur noch Dystopien, wenn es um die Zukunft auf diesem Planeten geht. Ganz zu schweigen von all den Unterhaltungsspielen, in denen ein Maß an Aggression und Gewalt zur Konvention geworden ist, das sich kaum noch mit Worten beschreiben lässt. Das ist selbst verschuldete Unmündigkeit. Und es ist nicht nachhaltig. Das ist der eine Aspekt.
Der andere Aspekt ist, dass das Selberdenken, so glaube ich, in die heutige Zeit übersetzt und weitergedacht werden müsste. Kant hat ja diesen wunderbaren Satz geprägt: "Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen." Ich versuche, ihn heute so zu lesen: "Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen und des der anderen. Der anderen jenseits deiner Disziplin, deines Glaubens, deiner Grundüberzeugung." Das wäre die Wendung einer neuen Aufklärung.
Sich des Denkens der anderen zu bedienen erweitert den auf das Individuum bezogenen Ansatz der ersten Aufklärung hin zum Wir?
Sich des Denkens der anderen zu bedienen heißt: das andere und den anderen bewusst einzubeziehen in neue Formen der Kooperation, des Wir und des Dialogs. Das Selberdenken der neuen Aufklärung behauptet nicht mehr: "Ich habe recht." Von dieser Haltung verabschiedet es sich. Lernend aus den mannigfachen Erfahrungen mit Rechtgläubigen, Rechtwissenden und Rechthabern unterschiedlicher Couleur. Manche glauben ja bis heute: "Ich habe recht, der andere hat unrecht. Weil ich das selber gründlich gedacht habe. Ich kann das auch wissenschaftlich begründen. Ich habe Berechnungen angestellt." Dementsprechend ihr Auftritt. Wir kennen das aus den einschlägigen Formaten der Medien.
Das Selberdenken der neuen Aufklärung ist nicht mehr ein Denken, das unbedingt recht haben, sondern das etwas gemeinsam entstehen lassen will. Es ist ein Denken, das das Nichtwissen einbezieht - auch aus den Erfahrungen der letzten Jahrhunderte und aus der Beschäftigung mit der Komplexität. Und weil es das Nichtwissen und das Nicht-recht-haben-Wollen als ein wesentliches Element seines Denkens versteht, kann es auf den anderen zu - und über die Grenze hinweggehen und sagen: "Ich hole das herein, was in deinem Denken ist, auch wenn es ganz, ganz anders ist." Auch und gerade wenn ich jetzt eine klare Entscheidung zu treffen habe. Richard Rorty nennt das: "ein immer größeres Repertoire alternativer Beschreibungen ansammeln, nicht aber die-einzig-richtige Beschreibung finden".
Ich glaube, diese Wendung ist nötig, gerade wenn wir die gegenwärtigen, wohl auch die vor uns liegenden weltpolitischen Konflikte betrachten: die Konflikte mit anderen Kulturen, mit anderen Religionen, anderen Identitäten. Wir - um etwas zu verallgemeinern - haben uns eine Haltung angewöhnt, die bei allem unterstellten Universalismus der Moral und der Werte im Grunde davon ausgeht, dass wir recht haben und die anderen unrecht. Aber der Gedanke der neuen Aufklärung hält dem entgegen: Tritt ein Stück zurück, beharre nicht darauf, dass du recht hast. Sondern versuche, das andere, dir Fremde in deine Überlegungen mit hereinzuholen. Und wenn du von Moral und Werten sprichst, höre genau hin, ob es nicht im Kulturkreis deines Gegenübers Wertvorstellungen gibt, die anders sind. Und von denen du gerade deshalb lernen könntest.
Dieses Re-Entry des anderen ist der entscheidende Schritt, der das Zusammenleben mit anderen Kulturen, mit anderen Weltanschauungen und anderen Glaubensgemeinschaften erleichtern könnte. Ich sage nicht, dass das damit getan ist, aber es kann es erleichtern.
Liegt hierin eine Parallele zu dem Schritt von der Kooperation zur Kollaboration? Von der Kooperation, definiert als Zusammenarbeit, die vorrangig dem eigenen Interesse dient, hin zur Kollaboration als einer Form der Zusammenarbeit, die über das Eigeninteresse hinausgeht und über beider Interessen hinweg etwas Drittes, etwas neu zu Gewinnendes sucht.
Es ist wohl auch kein Zufall, dass dieser Gedanke jetzt in dieser Zeit entsteht - als ein Element der neuen kreativen und nachhaltigen Bewegungen. Hier zeigt sich ein Berührungspunkt zwischen dem, was sich praktisch entwickelt - wir haben davon gesprochen, dass diese neuen sozialen Bewegungen befreiende Elemente haben -, zu dem, was an gedanklicher Erweiterung nötig wäre, um mit den komplexen, vielschichtigen Verhältnissen dieser Zeit besser umzugehen. Wobei ich glaube, dass wir uns auch in den Situationen, wo es "nur" um Kooperation geht, befähigen und bemühen können, das Denken des anderen selber zu denken. Ich halte ja das Thema "soziale Kooperationen" nach wie vor für ein Zukunftsthema. Die Kunst des Brückenbauens wird in einer ausdifferenzierten Welt immer wichtiger.
Doch auch da, wo vielleicht noch im Vordergrund stehen mag, eigene Interessen zu sichern, gilt es, sich in das andere hineinzudenken, es als anders wahrzunehmen und zu versuchen, es in das eigene Denken zu integrieren - vielleicht sogar das eigene Denken dadurch infrage zu stellen. Das hat mit Empathie zu tun. Und es ist übrigens eine Haltung, die den Kern des Dialoges berührt: Ich kann einen Dialog nicht führen, wenn ich sage, "Ich höre mir zwar an, was du sagst, aber ich bin nicht bereit, etwas von dir anzunehmen."
Hier berühren sich die Gedanken: Kollaboration setzt eben dies voraus: das andere nicht nur zu akzeptieren, sondern es anzunehmen, aufzunehmen und gemeinsam etwas daraus entstehen zu lassen. Kann man das so sagen?
Also das Dialogische, im besten Sinne Kooperative und Kollaborative sind die Berührungspunkte mit diesem Gedanken, das andere und den anderen einzubeziehen. Wobei "das andere" noch eine tiefere Bedeutung hat: Das andere ist auch das, was nicht a prima vista rational erscheint, was sich eben nicht der Berechnung erschließt. Auch das ist eine Aufgabe des Denkens, dies mit einzubeziehen. Und auch hier gibt es Parallelen, Berührungspunkte zwischen dem "Das-andere-Denken", und den praktischen gesellschaftlichen Entwicklungen - im kleineren und im größeren Maßstab. Soziale Identitäten, die Identifikation von Gruppen, die Seele von Kulturen, wenn man mal solche vagen, hypothetischen Konstrukte nimmt, lassen sich nicht allein auf berechnend-rationale Weise erschließen. So wie man auch die individuelle Seele nicht mit einem Rechenschieber ergründen kann. Dazu braucht es die Fähigkeit, das andere "im Tanz mit der Welt", so Heinz von Foerster, wahrzunehmen. Und anzuerkennen, dass es das gibt.
Was ist das andere? Können wir das näher bestimmen?
Dieses andere ist zunächst das, was sozial und personal auf andere Gruppierungen, auf andere Menschen bezogen ist. Es ist das andere Geschlecht, die andere Lebensform, die andere Erfahrung, der andere Kulturkreis, die andere Sichtweise. Es ist das Divergente, eine andere Perspektive. Aber es lässt sich auch weiter bestimmen: Es ist das, was sich unserer einfachen Kalkulation entzieht. Was mit Schwingungen und Beziehungen zu tun hat. Es ist auch das andere in uns selbst, das uns nicht bewusst ist und das wir nur unzulänglich in Begriffe und Formeln packen können. Es ist das heiter und das dunkel Gestimmte, das Idealische und das Triebhafte, das Spontane, das Altruistische und das Machtgierige. Es ist das Sinnliche, vielleicht auch das Poetische. Es ist das Fremde. Es ist ganz sicher auch das Historische. Das Historische taucht ja in den eingeengten Definitionen und Lehren sozialer Systeme heutzutage kaum noch auf und ist in der vorherrschenden Wirtschaftswissenschaft nahezu vollständig eliminiert. Die historische Dimension gibt es nicht mehr, es sei denn im Spezialfach der Historiker - aber als Bezug zur Vergangenheit und zugleich als Bezug zur Zukunft existiert sie in den Modellen nicht. Die Modelle geben das nicht her. Und sie existiert auch in den praktischen Geschäften nicht mehr: Das Jetzt ist das Wichtige, darauf haben wir uns fokussiert. Auch wenn von Nachhaltigkeit die Rede ist. Es regiert der Augenblickspragmatismus. Wer über lange historischen Wellen nachdenkt, gilt als Exot. In langen historischen Wellen zu denken, nannte man mal Geschichtsphilosophie. Bei Hegel in einer schon problematischen Form, bei Marx dann in einer noch problematischeren Weise als starres Konstrukt - es war klar, wie die Geschichte verläuft. Aber es gab ein Denken in Geschichte vor Marx und vor Hegel; auch bei Kant gab es so etwas wie eine Geschichtsphilosophie. Nichtmechanistisch, nichtdeterministisch, und doch eine Vorstellung, dass die Geschichte sich unter Umständen zum Besseren entwickeln könnte. Auch wenn man sie nicht vorhersagen kann. Das scheint mir verloren gegangen. Darüber neu nachzudenken, aufgeklärt nachzudenken, wäre die Aufgabe. Wer weiß, was daraus entstehen könnte. Möglicherweise eine über sich selbst und ihre Grenzen aufgeklärte Geschichtsphilosophie.
Noch mal zum Thema Nichtwissen. In der Physik war noch in der jüngsten Vergangenheit der Gedanke einer Universaltheorie sehr präsent: die Hoffnung auf eine Theorie, die alles erklären kann. Eine Vorstellung also, die Unwissenheit komplett ausschließt. Welche Bedeutung hat jetzt diese Wiederentdeckung von Unbestimmtheit, von Zufälligkeit, von Überraschendem? Lässt sich das so kontrastieren?
Was ich als Nicht-Naturwissenschaftler davon verstanden habe, ist, dass Brüche in der Vorstellung von Gesetzmäßigkeiten, von deterministischen Abläufen auftreten. Das war zum Beispiel in der Quantentheorie oder später in der Chaostheorie zu beobachten. Gleichzeitig bemühten sich Wissenschaftler herauszufinden, ob sich Muster erkennen lassen, auch wenn sich die Bewegungen der beobachteten Objekte den klassischen Gesetzmäßigkeiten zu entziehen scheinen beziehungsweise vom Beobachter beeinflusst werden. Dabei entdeckte man die Muster von Selbstorganisation und Selbstähnlichkeit: Das sind Muster, die unter anderem in der fraktalen Geometrie aufgetaucht sind und dann in Nassim Talebs Arbeit zum "Schwarzen Schwan" hineinspielen. Und da sagen die Physiker, die mehr davon verstehen als ich, dass das Nichtwissen elementarer Bestandteil der Theorie ist. Und die Rolle des Beobachters mit zu reflektieren ist. Wir haben uns ja gerade mit diesen Fragen im Bergweg-Forum oft beschäftigt - und zwar bewusst interdisziplinär im Kreis angesehener Mathematiker, Physiker und Evolutionsbiologen. Der Physiker Günter Küppers hat das immer so schön ausgedrückt: Das ist wie ein Blätterteig-Modell. Es ist nicht so, dass man nur genau weiterforschen müsste, um irgendwann auf das Wissen zu stoßen, das fehlt. Sondern es gibt eine Schicht von Wissen, eine Schicht von Nichtwissen, eine Schicht von Wissen und so weiter - Wissen und Nichtwissen gehören zusammen, sind miteinander verflochten. Ähnlich das Bild von den Inseln der Ordnung in einem Meer von Chaos, das der Mathematiker Heinz-Otto Peitgen oft gebraucht. Es gibt Inseln von Ordnung, aber drum herum ist ein Ozean von Nicht-Ordnung. Diese Einsichten sickern natürlich auch in verschiedene andere Disziplinen ein. Allmählich. Doch in die Volks- und in die Betriebswirtschaftslehren sind sie bislang gar nicht oder nur am Rande eingesickert, und in viele andere Fächer auch noch nicht. Aber sie erschüttern unser Weltbild, diese Vorstellung: "Ich weiß es genau. Ich weiß genau, was ist, warum es ist und was passieren wird."
Möglicherweise sind - das ist eine andere Wendung des Themas - Algorithmen und Analytics der Versuch, die Gewissheit durch die Hintertür doch wieder in unser Weltbild hereinzuholen. Das ist die große Versuchung dieser Zeit. Aber zunächst gilt: Das Nichtwissen im Wissen zu akzeptieren, war ein ganz, ganz wichtiger Schritt in den letzten Jahrzehnten. Ein Erkenntnisfortschritt - auch wenn das paradox klingen mag, weil das Nichtwissen ja unsere Erkenntnisgewissheiten einschränkt. Doch diese Einschränkung ist zugleich eine Befreiung. Denn das bedeutet, dass die Verhältnisse in Natur und Gesellschaft viel weniger deterministisch sind, als es manche Modellbildungen der Wissenschaften vermuten lassen. Sondern dass die Dinge sich selbstorganisiert entwickeln, verändern, transformieren können. Und das erleben wir wiederum praktisch.
Das klingt so einfach: das Nichtwissen hereinholen. Sind wir hierbei wirklich über Lippenbekenntnisse hinausgekommen? Oder anders gefragt: Verstehen wir eigentlich, was Komplexität wirklich bedeutet?
Es ist eine der Aufgaben dieser sich entwickelnden geistigen Bewegung, die man neue Aufklärung nennen könnte, dieses Wissen über das Nichtwissen weiter zu reflektieren. Und das nicht im Sinne von: Was für eine Schande! Sondern im Sinne von: Das ist ein befreiender Akt der Menschwerdung! Nichtwissen ist eine Ressource. Alle Entdecker und kreativen Erneuerer wussten das. Nur aus dem Nichtwissen heraus entsteht das schöpferisch Neue. Manchmal auch das gute, nachhaltig Neue.
Und hier liegt einer der Unterschiede zwischen uns Menschen und unseren sozialen Systemen und den Maschinenwesen, die wir gerade heranzüchten. Wir wollen ja nicht, dass die Maschinenwesen das Nichtwissen von uns übernehmen. Gerade weil ihre Rechenleistung so gigantisch wächst, wollen wir doch, dass sie im Bereich des Berechenbaren bleiben und nicht unberechenbar werden, gerade wenn sie als selbstlernende Systeme konzipiert sind. Im Bereich des Berechenbaren können sie uns gerne haushoch überlegen sein.
Die Verheißungen von Vertretern einer künstlichen Intelligenz klingen aber weit optimistischer.
Ja, vielleicht sind das bereits von der Technologie überholte Vorstellungen der humanen Intelligenz. Möglicherweise rechnen manche ja schon längst damit, dass die vernetzte selbstlernende Superintelligenz der Maschinen eines Tages so viel vom Menschen gelernt haben wird, dass sie ihn in seiner Unberechenbarkeit aus purer Berechnung übertrumpft, ohne je etwas von seiner Vernunft gelernt zu haben.
Doch demgegenüber gilt es, dieses Argument stark zu machen: Das Nichtwissen ist ein Teil dessen, was das Menschsein ausmacht. Der Mensch ist eben ein Mängelwesen. Er ist nicht perfekt, und er ist nicht berechenbar. Auch wenn er nachhaltig sein will. Und wenn er das erkennt und sich das bewusst macht in seiner Erkenntnis als ein Teil seines Selbstdenkens, dann wird er vielleicht auch noch sensibler für das andere, dafür, den anderen mit seinen Mängeln anzuerkennen. Wir brauchen da auch so etwas wie eine Reinigung.
Reinigung? Was meint Reinigung?
Dieses Nichtwissen, in Verbindung mit dem Nicht-Ich, könnte uns möglicherweise heraushelfen aus der Hybris, die uns in unserem Streben nach Fortschritt so lange Zeit geleitet hat. Im Westen wie im Osten. Und die gerade wieder Morgenluft wittert. Hier kommen nun erneut die Technologiekonzerne aus dem Silicon Valley ins Spiel. Der technologiegetriebene Optimismus der kalifornischen Ideologie geht einher mit einer Anmaßung des Wissens, die in der Idee eines neuen Reichs des exponentiellen Wachstums ihre Entsprechung findet. Einige Anhänger dieser Ideologie verkünden: Ihr könnt nicht nur die Ungewissheit überlisten, sondern auch die alten Vorstellungen von Wachstum in sozialen Systemen. Man kann nämlich nach ihrer Auffassung - nicht nur vorübergehend, sondern dauerhaft, ohne an eine Grenze zu stoßen - analog zum mooreschen Gesetz ein steiles exponentielles Wachstum, eine stetige Verdoppelung der Ausgangsgrößen alle 18 oder 24 Monate auch in sozialen Systemen wie zum Beispiel Unternehmen erreichen. Zu Ende gedacht würde das unsere bisherigen Vorstellungen von Wettbewerb und Monopolen, Freiheit und gesellschaftlicher Balance sprengen. Die soziale Ungleichheit könnte in dramatischer Weise zunehmen.
Doch wird da einfach ein empirisches Gesetz aus der Technologie auf soziale Prozesse übertragen. Das ist unzulässig. Es gibt auch in der Natur keinen exponentiellen Prozess, der bis ins Unendliche geht. Aber es wird trotzdem verbreitet.
Auch deshalb ist es wichtig zu erkennen: Wir brauchen einen Optimismus, der nicht nur auf Technologie aufbaut, sondern wissenschaftstheoretisch und philosophisch auf einem breiteren Fundament fußt. Der über das nackte Erfolgs- und Bereicherungsdenken der berechnenden Rationalität hinausweist. Ein Optimismus, der auf einem Menschenbild gründet, das nicht perfekt ist. Der sich mit den Fähigkeiten des Menschen beschäftigt, die nicht oder nicht so leicht von Maschinen übernommen werden können: interdisziplinäre, kreative, künstlerische, pflegende, heilende, sich kümmernde. Diese Kräfte müssen gestärkt werden! Das ist auch ein Teil dieser neuen Aufklärung, über Schmerzen, über das Leiden, über Ausbeutung von Mensch und Natur, über die Ökologie des Geistes (Gregory Bateson), über das Liebevolle und über Schönheit zu reden.
Unser Leben ist keine Zählung, sondern eine Erzählung. Das Gleichnis ist noch etwas anderes als die Gleichung. Die literarische Parabel geht in der mathematischen nicht auf. Metaphern sind nicht exakt - und gerade deshalb oft hilfreich. Auch für kreative Entdeckungen in den Natur- und Technikwissenschaften. Dafür gibt es einige Beispiele, und das wäre sicher ein eigenes, spannendes Forschungsfeld.
Und noch etwas. Ich sage manchmal: Die Aufklärung, die ich meine, ist eine Aufklärung im Gebirge.
Gebirge?
Aufklärung heißt nicht, dass überall Scheinwerfer aufgestellt sind und alles ausgeleuchtet ist. Das geht im Gebirge nicht. Gebirge kann man nicht völlig ausleuchten. Da kann es richtig finster werden und sehr unwirtlich. Oft ist es neblig, die Wege sind nicht markiert und führen selten geradeaus. Also muss das mitgedacht werden: gleichsam die nicht sonnigen und schon gar nicht Scheinwerfer-erleuchteten Zonen. Das Dunkle gehört mit dazu. Oder wie es in einem chinesischen Spruch heißt: Den Berg sehen. Den Berg nicht mehr sehen. Den Berg wieder sehen.
Blicken wir historisch zurück. Adelbert von Chamisso hat dieses wunderbare Buch Peter Schlemihls wundersame Geschichte geschrieben, eine Märchenerzählung, die aber einen tieferen Sinn hat. Schlemihl begegnet irgendwann einem grauen Mann, der ihm einen Pakt vorschlägt: Gib mir deinen Schatten, dann hast du immer deinen Beutel voll Geld. Schlemihl sagt: Nichts leichter als das. Was soll ich mit meinem Schatten? Er gibt ihn ab und hat plötzlich keinen Schatten mehr. Und die Leute sehen, dass er keinen Schatten hat, und fangen an, sich vor ihm zu gruseln. Am Ende versucht Schlemihl verzweifelt, seinen Schatten wiederzubekommen. Ich bin nicht sicher, ob Chamisso das so gemeint hat, aber für mich ist diese Geschichte eine Parabel für manches, was wir in der Moderne versucht haben: Wir haben versucht, den Schatten, das Dunkle, das Nichtwissen abzulegen. Das ist alles weg, dafür kriegen wir immerzu Geld, es wird immerzu besser. Und die nächste Stufe ist eben das Maschinenwesen, das ist noch perfekter. Da sollte man sich aber daran erinnern, dass der Schlemihl irgendwann händeringend seinen Schatten wiederhaben wollte. Vielleicht sind wir jetzt in so einer Phase.
Dennoch frage ich mich, ob die Anerkennung oder das Verstehen von Komplexität einen sehr viel tieferen Bruch im Denken erfordert, als wir heute vielleicht glauben.
Die Vorstöße von Komplexitätsforschern sind über Nischen selten herausgekommen. Wahrscheinlich, weil da eine Zumutung drinsteckt. Richtig durchdacht würde das Thema Komplexität alle Talkshows aushebeln, weil die Parteivertreter, die dort sich wechselseitig ihr Wissen um die Ohren hauen, sagen müssten: "Ich weiß es auch nicht genau." Ganz selten nur blitzt so was auf.
Woher auch? Weder in der Schule noch an der Universität gab es bislang eine Ausbildung im Umgang mit Komplexität, weder was die naturwissenschaftliche Seite, noch was die systemtheoretische Seite angeht. Das fand nicht statt. Ich erlebe das immer wieder, wenn ich in Seminaren mit Führungskräften arbeite und sage, dass komplex und kompliziert zwei verschiedene Dinge sind. Dann werden viele Leute hellhörig, weil ihnen das gar nicht bewusst war. Das ist ein ganz wichtiger Einschnitt, der noch lange nicht in die normalen Ausbildungsgänge eingegangen ist.
Gesellschaftlich gewendet ist die Anerkennung des anderen eine Anerkennung gesellschaftlicher Komplexität: eine Anerkennung dessen, dass sich unsere Gesellschaft in einem Maße ausdifferenziert, das bis vor Kurzem unvorstellbar war. Anerkennen des anderen bedeutet Anerkennen von Vielfalt.
Das finde ich eine gute Beobachtung. Wobei ich hinzufügen würde: Mit dem Anerkennen des anderen ist es schon relativ weit. Die meisten würden - so glaube ich - sagen: Ich erkenne die anderen an. Die vielen interkulturellen Projekte in Unternehmen, in politischen und in Nichtregierungsorganisationen haben hier sehr viel bewirkt. Was noch nicht so weit ist, und vielleicht ist das ein entscheidender Punkt: erstens die Akzeptanz, dass das Nichtwissen in meinem eigenen Wissen verborgen ist, und zweitens die Erkenntnis, dass in den Auffassungen des oder der anderen, gerade wenn sie mir ganz fremd erscheinen, irgendetwas für mich Bereicherndes enthalten sein könnte. Etwas, das ich in mein Denken einweben müsste. Gerade wenn ich Entscheidungen, harte Entscheidungen zu treffen habe. Vielleicht ist das in diesen Tagen ein entscheidender Punkt: Aufklärung heißt heute anerkennen, dass in den Auffassungen der anderen, gerade wenn sie mir ganz fremd vorkommen, irgendetwas für mich Bereicherndes enthalten sein könnte.
Wenn wir hier die Grundzüge eines Denkens auf der Höhe der Zeit umreißen - da gehört dann auch Kontingenz dazu? Wenn man so will als Schwester der Komplexität?
Die Kontingenzerfahrung ist eine Grunderfahrung des modernen Menschen. Natürlich überhaupt des Menschen, aber die Moderne hat diese Erfahrung verstärkt und zugleich vielfältig reflektiert. Sie wird durch die Beschäftigung mit dem Phänomen der Komplexität zur Einsicht: Die Dinge verlaufen anders, als wir sie geplant haben. Unsere Beziehungen verlaufen anders. Unsere Spiele verlaufen anders. Unsere Handlungen verlaufen anders. Sie verlaufen nicht stringent, sondern kontingent. Unternehmensplanung versucht, dem entgegenzuarbeiten. Ingenieurkunst versucht, sie zu meistern. Technologie versucht, sie zu bannen. Predictive Analytics versuchen, sie zu unterlaufen. Aber im sozialen Bereich, im psychischen Bereich, in unseren Kommunikationen müssen wir ständig damit rechnen. Erstens kommt es anders, zweitens als man denkt. Soziale Entwicklungen verlaufen im naturgesetzlichen Sinne nicht zwangsläufig. Es gibt immer einen offenen Moment in Richtung Zukunft. Das ist der Spalt, den unsere Geistesgegenwart und unser Gestaltungsvermögen weiter öffnen können. Die kleine Öffnung für die Praxis. "There is a crack on everything. That’s how the light gets in" (Leonard Cohen).
Ganz kurz
Die dritte Gesprächsschleife führte die Wendung einer neuen Aufklärung ein: die Erweiterung vom Ich zum Wir. Das Motto der neuen Aufklärung lautet demgemäß (Kants Wahlspruch erweiternd): Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen - und des der anderen. Der anderen jenseits deiner Disziplin, deines Glaubens, deiner Grundüberzeugung.
Zitate
"Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen und des der anderen. Der anderen jenseits deiner Disziplin, deines Glaubens, deiner Grundüberzeugung. Das wäre die Wendung einer neuen Aufklärung." Bernhard von Mutius im Gespräch: Moderne Unmündigkeit?
"Wir haben uns eine Haltung angewöhnt, die bei allem unterstellten Universalismus der Moral und der Werte im Grunde davon ausgeht, dass wir recht haben und die anderen unrecht." Bernhard von Mutius im Gespräch über eine neue Aufklärung
"Die Kunst des Brückenbauens wird in einer ausdifferenzierten Welt immer wichtiger." Bernhard von Mutius im Gespräch über eine neue Aufklärung (3)
"Wissen und Nichtwissen gehören zusammen, sind miteinander verflochten." Bernhard von Mutius im Gespräch über eine neue Aufklärung
"Das Nichtwissen im Wissen zu akzeptieren, war ein ganz, ganz wichtiger Schritt in den letzten Jahrzehnten." Bernhard von Mutius im Gespräch über eine neue Aufklärung
"Nichtwissen ist eine Ressource. Nur aus dem Nichtwissen heraus entsteht das schöpferisch Neue." Bernhard von Mutius im Gespräch über eine neue Aufklärung
"Das Nichtwissen ist ein Teil dessen, was das Menschsein ausmacht. Der Mensch ist eben ein Mängelwesen. Er ist nicht perfekt, und er ist nicht berechenbar." Bernhard von Mutius im Gespräch über eine neue Aufklärung
"Aufklärung bedeutet heute: erstens die Akzeptanz, dass das Nichtwissen in meinem eigenen Wissen verborgen ist, und zweitens die Erkenntnis, dass in den Auffassungen des oder der anderen, gerade wenn sie mir ganz fremd erscheinen, irgendetwas für mich Bereicherndes enthalten sein könnte." Bernhard von Mutius im Gespräch über eine neue Aufklärung
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Winfried KretschmerWinfried Kretschmer ist Chefredakteur und Geschäftsführer von changeX.
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Bernhard von MutiusBernhard von Mutius ist Sozialwissenschaftler und Philosoph, systemischer Berater und Führungscoach. Er ist Autor zahlreicher Publikationen über Erneuerungsprozesse in Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft. Sein Hauptaugenmerk gilt der Entwicklung einer disziplinübergreifenden Denkkultur, die uns helfen könnte, mit den komplexen Prozessen unserer Zeit verständiger umzugehen. © Autorenfoto: Richard Pichler