Sie lesen diesen Artikel kostenlos

Vielen Dank für Ihr Interesse! Sie rufen diesen Beitrag über einen Link auf, der Ihnen einen freien Zugang ermöglicht. Sonst sind die Beiträge auf changeX unseren Abonnenten vorbehalten, die mit ihrem Abo zur Finanzierung unserer Arbeit beitragen.
Wie Sie changeX nutzen können, erfahren Sie hier: Über uns
Wir wünschen viel Spaß beim Lesen!

Und jetzt Erneuerung

Change war gestern, nun geht es um Erneuerung - ein Gespräch mit Egbert Deekeling
Interview: Winfried Kretschmer

In vielen Unternehmen jagt eine Change-Initiative die andere, der Erfolg aber ist zweifelhaft. Der Grund: Change-Prozesse greifen vielfach nicht tief genug. Sie bewegen sich im Rahmen des bestehenden Geschäftsmodells, wo dessen Neuerfindung anstehen würde: Erneuerung. Sie aber ist mehr als institutionalisierter Change. Erneuerung bedeutet Ungewissheit. Und erfordert Offenheit, Experimentieren, Suche.

p_deekeling_HR_250.jpg

Als in einem Gespräch mit Egbert Deekeling das Wort "Erneuerung" fiel, war plötzlich klar, warum sich "Change-Management" abgegriffen und verbraucht anfühlt: Erneuerung ist es, was ansteht. Da haben wir uns gleich zu einem Interview verabredet, um diesen Perspektivwechsel in den Blick zu nehmen.
Egbert Deekeling ist Senior Partner der Kommunikationsberatung Deekeling Arndt Advisors. Er ist Experte für Change- und Erneuerungsprozesse.
 

Herr Deekeling, Sie haben den Begriff der Erneuerung ins Spiel gebracht, genauer der strategischen Erneuerung. Wo lag der Grund dafür? 

Ganz konkret in unserer Arbeit: Wir begleiten Konzerne durch Phasen der Veränderung. Hierbei zeigt sich in den letzten drei, vier Jahren, dass das alte Begriffsinventar, das sich um den Begriff Change dreht - Change-Management, Change-Kommunikation -, nicht mehr ausreicht, um die Veränderungswirklichkeit dieser Unternehmen angemessen zu beschreiben. Und wie bei uns professionellen Beratern wird auch in den Unternehmen selbst nach Begriffen gesucht, die diese neue Realität begreifen lassen.
 

Warum reichen die alten Begriffe nicht mehr? 

Diese Konzerne, vor allem in der Energie- und in der Bankenbranche, sehen sich damit konfrontiert, nicht nur Prozessanpassungen innerhalb ihres Geschäftsmodells vollziehen zu müssen - also das, was der Begriff des Reengineering in der alten Welt des Change treffend zum Ausdruck brachte. Sondern sie sehen ihr Geschäftsmodell selbst unter Druck. Insofern reicht es längst nicht mehr aus, mit einem klaren Ziel, mit klaren Zeitvorstellungen und einer klaren Projektrationalität ein Change-Projekt durchzuführen. Gefragt ist vielmehr - und jetzt kommt der Begriff: Erneuerung. Das markiert einen dramatischen Unterschied, denn hierbei haben wir es mit Zieloffenheit zu tun, mit Ungewissheit, mit Experimentieren, mit Suche ...
 

... Change dagegen meint zielorientiertes Vorgehen? 

Change bedeutet, ein Geschäftsmodell entsprechend den gewandelten Anforderungen von Markt und Kapitalmarkt zu überprüfen, es weiterzuentwickeln, anzupassen, neu auszurichten - aber innerhalb des Rahmens dieses Geschäftsmodells. Die Anforderungen heute aber sind neu.
 

Und was ist die Antwort? Was genau meint Erneuerung? 

Während es beim Change um eine Anpassung innerhalb eines bestehenden Struktur- und Wertschöpfungsmodells geht, steht hier die Wertschöpfungsidee selbst zur Disposition. In Erneuerungsprozessen sind nicht Effizienzsteigerung und Verbesserung der Profitabilität das Ziel, es geht um Neuerfindung. Unternehmen merken, dass sie nicht mehr weitermachen können wie bisher. Sie müssen neu darüber nachdenken, wohin die Reise gehen soll, sie müssen sich auf die Suche begeben und diesen Suchprozess selbst managementfähig und kommunikationsfähig machen. Der Erneuerungsbegriff verbindet sich also mit Zieloffenheit, mit Ungewissheit - und ändert insofern auch das Leadership-Muster von Kommunikation und Management.
 

Hat sich Change in den Unternehmen totgelaufen, indem in immer schnellerem Wechsel eine Strukturanpassung nach der anderen umgesetzt wurde? 

So kann man das sehen. Natürlich gibt es weiterhin Change-Prozesse, sie sind und bleiben Bestandteil der Unternehmensrealität. Aber Change-Prozesse werden der Veränderungsnotwendigkeit und -wirklichkeit vieler Unternehmen nicht mehr gerecht. Change-Management-Prozesse sind in den Unternehmen weitgehend institutionalisiert oder werden von Beratungsseite zugekauft. Es existiert ein definiertes Veränderungsinstrumentarium, das je nach politischer Lage um Kommunikation angereichert wird. Es hat einen klaren Stellenwert im Rahmen begrenzter, genau definierter zielgerichteter Prozesse. Doch das gesamte Instrumentarium von Change-Management und Change-Kommunikation bewegt sich in dieser alten Vorstellungswelt und bietet in Situationen fundamentalen Wandels keine Antwort. Geschweige denn, dass es Topmanagement und Führungskräfte in die Lage versetzen würde, eine solche Erneuerungsherausforderung in den Griff zu bekommen.
 

Change ist zielorientiert, Erneuerung ist offen. Ungewissheit, Experiment - das heißt, dass man in einem Erneuerungsprozess das Ziel noch nicht kennen kann? 

Teil des Erneuerungsprozesses ist, sich Ziele zu suchen und diese Zielsuche zum Gegenstand von Kommunikation zu machen, also diesen Suchprozess zu moderieren. Das verlangt, sich dieser Ungewissheit zu stellen. Das aber geht massiv gegen herrschende Leadership-Paradigmen. "Das ist die Richtung, da geht es lang. Wir wissen genau, um was es hier geht. Das ist das Ziel, und jetzt richten wir die Organisation auf dieses Ziel aus ..." - das sind die alten Change-Muster. Die aber funktionieren nicht mehr.
 

Frank Appel, der CEO von Deutsche Post DHL, hat sich laut Presseberichten mal hingestellt und gesagt, er wisse die Antwort selber nicht. Ist das die richtige Haltung für Erneuerung? 

Ja, es ist eine ehrliche Haltung. Denn wenn man sieht, was sich in manchen Branchen an Erneuerungsdruck anstaut, dann ist die Aussage, keine Antwort zu haben - oder wie in der Energiebranche "Teil der Lösung" sein zu wollen -, beinahe schon das Konkreteste, was man sagen kann. Sich innerhalb eines solchen Grundverständnisses neue Ziele zu setzen, wird dann die Aufgabe des Erneuerungsprozesses sein.
 

In der Energiebranche, um bei dem Beispiel zu bleiben, stehen nicht nur Geschäftsmodelle zur Disposition, sondern die Licence to operate, die gesellschaftliche Aufgabe einer Branche insgesamt?  

Genau. Die Energiekonzerne sehen ihre Licence to operate unter Druck. Und sie sehen, dass sie sich mit den Ansprüchen, Erwartungen und Forderungen unterschiedlicher Anspruchsgruppen auseinandersetzen müssen - und dass sie diese einbinden müssen. Deshalb geht es um die komplette Neuerfindung der Wertschöpfungsidee - nicht nur aus der Shareholder-Sicht, sondern aus der Sicht aller Stakeholder, der unterschiedlichen Anspruchsgruppen. Im Kern bedeutet das den Abschied von der reinen Shareholder-Fixierung und der damit verbundenen Prozesskultur - auch das ist Change-Welt - hin zu einer balancierten Stakeholder-basierten Licence to operate. Das macht schon die Zielbestimmung zu einem Akt der Identitätsfindung.
 

Sie sprechen von strategischer Erneuerung. Was bedeutet strategisch unter den Bedingungen von Zieloffenheit und Ergebnisoffenheit? 

Strategisch bedeutet zunächst, sich einzugestehen, dass es hier nicht mit schneller Umsetzung oder gar einer Quartalstaktung getan ist. Change-Prozesse waren in der Regel auf ein Jahr oder maximal eineinhalb Jahre terminiert; dann folgte schon die nächste Change-Initiative. Bei Erneuerung haben wir es mit einer ganz anderen Zeitdimension zu tun, ebenso wie mit einer Vorstellung von Prozessrealität, die sich den klassischen Planungsprämissen entzieht. Es muss, wie gesagt, experimentiert werden. Es muss ausprobiert werden. Es muss ein Verständnis für sich widerstreitende Ziele erzeugt werden, die in Balance zu bringen sind. Hier verschieben sich die Prämissen. Das kann unter Umständen bedeuten, dass von Profitabilitätszielen Abschied genommen werden muss, weil sich das Zielportfolio verschoben hat.
 

Wir haben von Branchen gesprochen, die in einem starken Umbruch sind, Banken, Energie. Ist Erneuerung ein Ding, das diese Branchen betrifft? Oder sind diese wiederum nur Vorreiter allgemeiner, die deutsche Wirtschaft insgesamt betreffender Turbulenzen?  

Weitgehend formuliert steht Old Europe in Anbetracht der globalen ökonomischen Wirkkräfte vor einer Phase der Neuerfindung und damit vor der Herausforderung strategischer Erneuerung. Die klimatischen, die demografischen, aber eben auch die global-kompetitiven Einflussfaktoren werden früher oder später fast alle Branchen treffen. Nicht zuletzt sind wir auf dem Weg in eine Multistakeholder-Welt. Die Finanzbranche und die Energiebranche trifft es im Moment am härtesten, und hier kann man diese Phänomene am besten beobachten.
 

Sie haben vorhin gesagt, dass vielfach eine Unzufriedenheit mit den vorhandenen Begriffen zu spüren sei. Kann der Begriff der Erneuerung Orientierung geben? 

Ich versuche, das mit einem Beispiel zu illustrieren: Von der neuen Spitze bei der Deutschen Bank wird der Begriff des "Kulturwandels" sehr stark propagiert. Es gibt aber keinerlei klare Vorstellung davon, was mit "Kulturwandel" eigentlich gemeint sei. Der Begriff wird zu einer Chiffre. Er spiegelt das Bewusstsein der Topführer, "wir werden etwas komplett ändern müssen, denn so, wie wir unser Geschäft bisher betrieben haben, werden wir das nicht weitermachen können". "Kulturwandel" ist eine Art Verlegenheitsbegriff für die größere, umfassendere Aufgabe, die damit verbunden ist - aber man spürt die Verlegenheit schon im Begriffsgebrauch. Es ist genau zu spüren, wie tief und fundamental die Veränderung gehen muss, ohne dass schon eine klare Vorstellung davon vorhanden wäre. Der Begriff des Kulturwandels soll eine Ahnung geben, wie umfassend die Erneuerung sein muss.
 

Erneuerung, betrifft das auch die Art und Weise, Organisationen - Unternehmen - zu bauen und zu führen? 

Auf jeden Fall. Unternehmen werden sich gravierend verändern: Das macht die Führungsarbeit extrem anspruchsvoll - und wird auch die Rolle des CEO grundlegend wandeln. Es reicht nicht mehr, einfach "nur" zu entscheiden, zu verkünden und ansonsten den großen Hierarchen zu spielen. Der CEO wird immer mehr zur Projektionsfläche für Erwartungen und Ansprüche unterschiedlichster Stakeholder. Diese muss er moderieren und dabei zur richtigen Zeit die richtigen Impulse setzen. Das erfordert ein ganz anderes Leadership-Verständnis. Wenn der CEO der Architekt der Erneuerung sein will, dann ist dazu in aller Regel, wenn man so will, die strategische Erneuerung seines eigenen Selbstverständnisses notwendig.
 


Zitate


"Das alte Begriffsinventar, das sich um den Begriff Change dreht - Change-Management, Change-Kommunikation -, reicht nicht mehr aus, um die Veränderungswirklichkeit dieser Unternehmen angemessen zu beschreiben." Egbert Deekeling: Und jetzt Erneuerung

"Change-Prozesse werden der Veränderungsnotwendigkeit und -wirklichkeit vieler Unternehmen nicht mehr gerecht." Egbert Deekeling: Und jetzt Erneuerung

"Der CEO wird immer mehr zur Projektionsfläche für Erwartungen und Ansprüche unterschiedlichster Stakeholder." Egbert Deekeling: Und jetzt Erneuerung

 

changeX 22.02.2013. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

Artikeltools

PDF öffnen

Ausgewählte Beiträge zum Thema

Wie weiter im Change?

Entscheidend heute ist, den Menschen eine aktive Partizipation zu ermöglichen - ein Interview mit Imke Keicher zum Interview

Nicht bloß Emotiönchen

Emotionen sind der Dreh- und Angelpunkt von Veränderungsprozessen - ein Interview mit Klaus Doppler zum Interview

Unternehmen mit Sinn

Wie Veränderung zu einer Kultur wird und was das für Führungskräfte bedeutet – ein Essay von Konrad Stadler. zum Essay

Stille da oben

In Veränderungsprozessen wird Kommunikation zum entscheidenden Erfolgsfaktor - ein Essay von Egbert Deekeling und Dirk Barghop. zum Essay

Faktor K

Kommunikation entscheidet über den Unternehmenserfolg - ein Gespräch mit Egbert Deekeling und Olaf Arndt. zum Interview

Autor

Winfried Kretschmer
Kretschmer

Winfried Kretschmer ist Chefredakteur und Geschäftsführer von changeX.

weitere Artikel des Autors

nach oben