Neue, andere Fragen stellen
Die tiefgreifenden Veränderungen unserer Zeit erfordern nicht nur ein Mehr an Wissen und Skills, sondern eine neue Art und Weise des Denkens und Handelns. Es gilt, bislang nicht in Frage gestellte, für selbstverständlich genommene Grundannahmen zu hinterfragen. Ihren Einfluss auf unser Denken und Fühlen zu verstehen. Und sie durch einen grundlegenden Perspektivenwechsel zu transformieren. Das ist der Grundgedanke der (kritischen) Theorie transformativen Lernens. Ihr Ziel ist emanzipatorisch: Menschen dabei zu unterstützen, sich von Annahmen zu befreien, die ihre Art zu sein und zu leben einschränken.
"Wir können die eigenen Möglichkeitsräume kreativ erweitern, wenn wir unsere Grundannahmen transformieren", sagt Saskia Eschenbacher. Im Interview beschreibt sie, was transformatives Lernen bedeutet und wie es gelingen kann.
Prof. Dr. Saskia Eschenbacher ist Professorin für Erwachsenenbildung und Beratung an der Akkon Hochschule für Humanwissenschaften in Berlin. Sie arbeitet als Systemische Supervisorin, Therapeutin, Beraterin & Coach und ist Visiting Professor am Teachers College an der Columbia University, New York. In ihrer Forschungsarbeit beschäftigt sie sich mit der Theorie Transformativen Lernens und deren Umsetzung in unterschiedlichen Handlungsfeldern. Ihre beiden aktuellen Aufsätze widmen sich transformativem Lernen bei der Arbeit am Beispiel von Feuerwehr und Rettungsdiensten sowie der Dekonstruktion von Geschlechtsidentitäten durch neue Lernerfahrungen.
Frau Eschenbacher, es ist viel von Future Skills die Rede. Sagen Sie, welches sind die wichtigsten Fähigkeiten, die wir in Zukunft brauchen?
Eine wichtige Fähigkeit ist es weiterhin, Krisen und Herausforderungen konstruktiv in Chancen umarbeiten zu können. Wir sind heute mit Veränderungen konfrontiert, die nicht nur ein Mehr an Wissen und Skills erfordern, sondern eine ganz neue Art und Weise des Denkens und Handelns. Angesichts der weitreichenden Veränderungen, denen wir begegnen, müssen wir neue Antworten auf die Frage generieren, wie tiefgreifende Veränderungsprozesse initiiert und katalysiert werden können. Wir müssen Wege finden, Widerstände zu explorieren und zu utilisieren, das heißt, sie für uns nutzbar zu machen.
Bedeutet das, wir müssen altes, nicht mehr zeitgemäßes Wissen aus unseren Köpfen bekommen? "Unlearning" ist zurzeit ein relevantes Thema: Unlearning Hierarchy … Patriarchy … Imperialism … (*) Wie gelingt Entlernen?
Die Frage ist weniger, wie wir altes, nicht mehr zeitgemäßes Wissen aus unseren Köpfen - und Körpern - bekommen, sondern eher, wie wir kreativ die eigenen Möglichkeitsräume erweitern können. Statt neue Antworten auf bekannte Fragen zu suchen, können wir unsere Fragen und das Fundament, auf dem diese Fragen ruhen, kritisch hinterfragen. Kurz gesagt: Es geht darum, neue, andere Fragen zu stellen und dadurch Transformationsprozesse zu initiieren! Das Phänomen der Transformation ist daher sehr verschieden von der Idee des Wandels.
Stichwort transformatives Lernen, Ihr Thema. Worum geht es dabei?
Die Theorie des transformativen Lernens zielt darauf ab, erwachsene Lernende dabei zu unterstützen, sich von Annahmen zu befreien, die ihre Art zu sein und zu leben einschränken. Das geschieht im Prozess eines Perspektivenwechsels, bei dem die Lernenden zu einem neuen, veränderten Verständnis ihrer selbst gelangen, einschließlich ihres Selbstkonzepts und ihrer Identität. Statt auf der Grundlage von Annahmen zu handeln, die als Ideen, Überzeugungen und Normen unkritisch von anderen übernommen wurden, lernen Erwachsene, wie sie ihre eigenen Ziele, Bedeutungen und Werte aushandeln und danach handeln können.
Transformatives Lernen beschreibt tiefgreifende, existenzielle Veränderungsprozesse. Ausgelöst wird diese Art des Lernens in der Regel durch Krisenerfahrungen. Transformatives Lernen beschäftigt sich mit der Frage, wie wir Krisen konstruktiv in Chancen umarbeiten können, indem wir unsere Grundannahmen, unser In-der-Welt-Sein, kritisch hinterfragen und transformieren. Es geht also darum, herauszufinden, welche außerbewussten Grundannahmen das Fundament für bestimmte Verhaltensweisen bilden. Diese Grundannahmen sind immer außerbewusst und in der Regel sehr wirkmächtig. Wenn wir das Fundament dieser Grundannahmen kritisch hinterfragen, können wir neue, andere Fragen stellen.
Woher stammt dieser Ansatz und wie ist er entstanden?
Entstanden ist dieser Ansatz im Kontext der Bürgerrechtsbewegung in den USA, genauer gesagt der Frauenrechtsbewegung in den 1970er-Jahren. Als Begründer der Theorie gilt der amerikanische Soziologe und Professor für Erwachsenenbildung Jack Mezirow. Er hat grundlegende Pionierarbeit geleistet und transformatives Lernen vor dem Hintergrund der Frauenrechtsbewegung als Theorie des Lernens im Erwachsenenalter entwickelt. Das macht auch die Besonderheit transformativen Lernens aus. Die Theorie ist an der Schnittstelle von individuellen und gesellschaftlichen Veränderungsprozessen verortet. Besonders spannend ist, inwieweit individuelle mit gesellschaftlichen Ideen und Denkweisen zusammenhängen; kurz gesagt, wie sich das Öffentliche im Privaten bricht.
Im Schnittpunkt von Öffentlich und Privat entstehen neue Lernerfahrungen?
Wenn wir zurück auf den Entstehungskontext blicken, bedeutet das, dass Frauen dann transformativ gelernt hatten, wenn sie sich kritisch darüber bewusst geworden sind, wie sowohl die Gesellschaft als auch eigene Einstellungen dazu geführt haben, das eigene Selbstkonzept, den eigenen Lebensstil und die eigenen Möglichkeiten zu definieren und zu limitieren.
Im Kern geht es also darum, bislang nicht in Frage gestellte, für selbstverständlich genommene Erwartungen und Annahmen zu hinterfragen und ein Verständnis dafür zu entwickeln, wie diese unser Denken und Fühlen über uns selbst und unsere Beziehungen bestimmen. Und gleichzeitig zu verstehen, dass individuelle Probleme eine strukturelle Komponente enthalten und dementsprechend anders, umfassender gelöst werden müssen.
Wo findet transformatives Lernen statt?
Die Theorie Transformativen Lernens wird seit mehr als vier Jahrzehnten in den unterschiedlichsten Kontexten eingesetzt, erforscht und weiterentwickelt. Wichtig ist hierbei, dass es nicht die eine Theorie gibt, sondern unterschiedliche Ansätze und Zugänge. Professorin Victoria Marsick von der Columbia University hat die Theorie in den Kontext von Leadership und Organizational Development & Learning implementiert. Die grundlegenden Annahmen, die wir über uns selbst, unsere Beziehungen und das Leben generell haben, lassen wir ja nicht außen vor, wenn wir in Teams arbeiten oder diese führen. Ganz im Gegenteil, gerade dort werden die eigenen Grenzen deutlich sichtbar. Und Annahmen und Vermutungen, die die eigenen Möglichkeitsräume beschränken, zeigen sich häufig in wiederkehrenden Konflikten. Wenn wir also lernen, uns unserer eigenen Grundannahmen (kritisch) bewusst zu werden und diese zu transformieren, werden wir bessere Teammitglieder und bessere Führungskräfte und das wiederum wirkt sich positiv auf das Unternehmen oder die NGO aus, in dem oder der wir arbeiten. Und es wirkt sich auch positiv auf uns selbst und unser Privatleben aus.
Welche sind diese tiefverwurzelten Annahmen über unsere Beziehung zur Welt?
Jeder Mensch erwirbt im Laufe seines Lebens verschiedene Grundannahmen darüber, wie sie oder er sich selbst, andere und die Welt sieht und erlebt, und darüber, wie andere uns sehen und erleben. Diese Grundannahmen entstehen in der Kindheit und sind abhängig davon, wie und wo wir aufwachsen, sie sind uns aber meist nicht bewusst. Sie beschreiben gewissermaßen unser In-der-Welt-Sein, sie sind der Boden, auf dem wir stehen. Erst wenn dieser Boden brüchig wird, wenn wir Krisen erleben, die uns erschüttern, sind wir herausgefordert, Land zu gewinnen.
Diese Annahmen sind uns nicht bewusst? Wie können wir sie dann kritisch hinterfragen?
Der größte Teil dieser Annahmen ist uns nicht bewusst, nein. Das macht es auch so schwierig, diese zu hinterfragen, zu verändern und vielleicht sogar zu transformieren. Wir müssen quasi aus uns selbst heraustreten, diese Annahmen identifizieren und - wo nötig - verändern. Andere können dabei als kritischer Spiegel nützlich sein. Das ist nicht immer eine angenehme Lernerfahrung, aber eine sehr effektive Möglichkeit, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen und sich weiterzuentwickeln. Häufig zeigen sich unsere Grundannahmen etwa in unserem Verhalten. Wann immer wir beispielsweise versuchen, uns in einem bestimmten Punkt zu verändern und es trotz aller Bemühungen nicht schaffen, ist es gut, sich der eigenen Grundannahmen bewusst zu werden. Wir können uns fragen: Inwiefern ist es sinnvoll, sich (noch) nicht zu verändern? Wo wäre eine vermeintliche Lösung vielleicht sogar kontraproduktiv? Mit diesen und anderen Fragen kommen wir den eigenen Grundüberzeugungen auf die Spur.
Es geht also darum, diese Annahmen zu transformieren - und damit Neues zu lernen?
Ja, es gilt, diese Prämissen überall dort zu transformieren, wo unser Vorankommen behindert wird. Es geht aber nicht "nur" darum, etwas Neues zu lernen. Sondern durch neue Grundannahmen alte Erfahrungen neu zu deuten und damit auch neue Erfahrungen zu ermöglichen. Wir können uns diese Grundannahmen wie Krücken vorstellen, auf die wir uns stützen. Ganz im Sinne von Erving Goffman geht es darum, dass wir lernen, mit unseren Krücken Golf zu spielen, anstatt uns darauf zu lehnen. Wann immer wir merken, dass uns eine Grundannahme nicht dient, können wir sie kritisch hinterfragen, überprüfen und gegebenenfalls transformieren. Es geht also um viel mehr als neue Skills und Kompetenzen.
Es gilt, anders gesagt, "ein kritisches Bewusstsein für bislang unhinterfragte Bedeutungszusammenhänge zu entwickeln", wie Sie in Ihrem Buch Transformatives Lernen im Erwachsenenalter schreiben?
Ja, in meinem Buch geht es darum, ein kritisches Bewusstsein zu entwickeln. Das ist insbesondere dann eine Herausforderung, wenn es um Annahmen und Ideen geht, die wir für selbstverständlich genommen haben oder nehmen. Der Punkt ist, wie der Hintergrund zum Vordergrund wird - damit meine ich, wie Ideen und Grundannahmen, die im Hintergrund wirken, in den Vordergrund, ins Bewusstsein gelangen können. Nur dann können wir uns mit diesen Ideen, die unser In-der-Welt-Sein bestimmen, kritisch auseinandersetzen und sie verändern, sie möglicherweise sogar transformieren.
Ich habe zu diesen tiefgreifenden Veränderungs- respektive Transformationsprozessen geforscht, um eben genau die Annahmen identifizieren zu können, die uns nicht bewusst sind und unser Vorankommen behindern. Ein ganzheitlicher Ansatz ist hier wichtig, indem kognitive, verhaltensbezogene und emotionale Aspekte zusammen gedacht werden. Wir können die eigenen Möglichkeitsräume kreativ erweitern, wenn wir unsere Grundannahmen transformieren.
Welche konkreten Werkzeuge oder Methoden können dabei helfen?
Es gibt ganz viele verschiedene Methoden, transformativ zu lernen. Für den Kontext Leadership Development eignet sich ein Ansatz, der in Harvard entwickelt wurde, der sogenannte Immunity to Change Approach, sehr gut, um Widerständen gegenüber Veränderungsprozessen auf die Spur zu kommen.
Was besagt dieser Ansatz?
Im Kern geht es darum, dass Veränderung immer eine Herausforderung darstellt, da erstens die Kluft zwischen dem Geforderten und unserem eigenen Entwicklungsstand ein Kernproblem aller Veränderungsprozesse ist, zweitens individuelle Überzeugungen gegen Veränderungen immunisieren, und drittens das Gefühl, Neuem und Unbekanntem schutzlos ausgeliefert zu sein, unser Vorankommen verhindert. Wenn der Wunsch und die Motivation zur Veränderung nicht ausreichen, um an unser Ziel zu kommen, ist es Zeit für einen Strategiewechsel. Dabei wird nicht gegen den Widerstand gearbeitet, sondern dieser wird als Wegweiser und mögliches Hilfsmittel zur Zielerreichung verstanden. Ganz im Sinne einer systemischen Herangehensweise können wir dann Widerstand und Ambivalenz als Kompetenz verstehen und für die Zielerreichung nutzen. Wir müssen nicht bewusste, dissoziierte Ziele mitdenken, wenn wir trotz hoher Motivation nicht an unser Ziel kommen, etwa wenn die Lösung nicht darin besteht, das sogenannte Problemmuster zu beseitigen.
Haben Sie ein Beispiel?
Nehmen wir einen Fall im Kontext Leadership Development. Stellen wir uns eine Führungskraft vor, die lernen möchte, sich selbst weniger unter Druck zu setzen, um ein Burn-out zu vermeiden. Sie hat schon versucht, dieses Problem zu lösen, schafft es aber irgendwie nicht. Wenn wir diese Person beobachten, sehen wir folgende Verhaltensweisen: Sie oder er investiert kaum Zeit in einen Ausgleich zur Arbeit, zum Beispiel in Freizeitaktivitäten, arbeitet häufig und für lange Zeit im "Funktionsmodus", fragt nicht nach Hilfe, kann schlecht Nein sagen und pusht sich selbst, um alles 150-prozentig zu erledigen.
Statt zu fragen, wie die Führungskraft diese Verhaltensweisen loswerden kann, wie sie diese aus dem Kopf bekommt, wie sie also dieses Problemmuster beseitigen will, versuchen wir herauszufinden, welche außerbewussten Grundannahmen das Fundament für diese Verhaltensweisen bilden. Wir suchen damit neue Antworten auf bekannte Fragen. Wir versuchen herauszufinden, welche Ängste durch das oben beschriebene Problemmuster in Schach gehalten werden. Dann stellt sich das Problem anders dar. Wenn eine Person meint, dass sie Leere und Einsamkeit nicht gut aushalten kann, dass sie mit der Schuld zu scheitern nicht gut umgehen kann, wenn ihr Kontrollverlust Angst macht und ihr Selbstwert daran gekoppelt ist, wie sie performt, dann ist es für diese Person sinnvoll, sich genau so zu verhalten, wie beschrieben -, also all die Verhaltensweisen zu zeigen, die wir weiter oben als problematisch eingeschätzt haben, das sogenannte Problemmuster. Diese Verhaltensweisen einfach zu unterlassen, würde dazu führen, dass die genannten Ängste mobilisiert werden.
Wenn wir aber diese Grundannahmen kritisch hinterfragen, wird es wie gesagt möglich, neue, andere Fragen zu stellen. Unsere Führungskraft fragt dann nicht mehr: Wie unterlasse ich all das, was zum Problemmuster gehört? Sondern fragt sich vielmehr, wie sie oder er das eigene Selbstbild, die Selbstwert-Performance, erweitern und verändern kann. Oder wie Lernprozesse möglich werden, die Fehler und Scheitern zulassen, ohne den eigenen Selbstwert zu gefährden.
Anders gesagt: Thematisiert Immunity to Change das Muster, dass Menschen nicht gerne lernen, sondern lieber an ihrem Bestand an Überzeugungen festhalten? Kann man das so sagen?
Ja und nein - häufig lernen wir, ohne es zu merken. Wir wollen uns beispielsweise verändern, identifizieren Wege, wie dies gelingen kann und setzen sie um. Gleichzeitig kann es uns Angst machen, uns grundlegend zu verändern, Gewohntes zu hinterfragen und Raum für Veränderung zu schaffen.
Immunity to Change beschreibt das Phänomen, dass wir bildlich gesprochen mit einem Fuß auf dem Gaspedal und mit dem anderen auf der Bremse stehen. Wir wollen uns verändern, aber es geht nicht. Ängste und grundlegende Annahmen - über uns, unsere Beziehungen und das Leben generell - immunisieren uns gegenüber Veränderungs- und Transformationsprozessen. Gewohntes hinterfragen, Überzeugungen loslassen, das kann Angst machen - gleichzeitig aber sehr befreiend sein. Wir sehen häufig, dass dieser Widerstand, sich zu verändern, dann einsetzt, wenn es wichtig wird, sich zu verändern. Also wenn wir in Krisen geraten oder unsere Umwelt uns zwingt, uns zu verändern, wir aber vielleicht nicht das Gefühl haben, bereit zu sein für diese Veränderungen.
Das war der Kontext Leadership. In welchen anderen Feldern ist transformatives Lernen von Bedeutung? Auch für die eigene, persönliche Praxis?
Ja, absolut! Transformatives Lernen wird wie gesagt durch Krisenerfahrungen ausgelöst. Das heißt: Wann und in welchem Bereich auch immer mir eine Krise widerfährt, kann ich diese konstruktiv umarbeiten. Das bedeutet selbstverständlich nicht, dass Krisen gut sind - das weiß, wer schon einmal eine Krisenerfahrung hatte. Die Frage ist eher: Wie kann ich so gut wie möglich mit dieser Krisenerfahrung umgehen? Kann ich diese vielleicht sogar für meine eigene Entwicklung nutzen?
In der Forschung ist zum Beispiel eine Frage, wie die Diagnose einer schweren, unheilbaren Erkrankung im Rahmen transformativen Lernens verarbeitet werden kann. Das heißt wie gesagt nicht, dass eine Erkrankung etwas Gutes "hat", sondern es geht eigentlich immer um die Frage: Wie können wir Land gewinnen auf brüchigem Boden? Wie können wir unsere eigenen Möglichkeiten kreativ erweitern? Wie können wir Krisen nutzen für unsere eigene Entwicklung?
Transformatives Lernen ist keine angenehme, keine fröhliche Erfahrung. Im Gegenteil, wenn Krisen unser Leben erschüttern, ist das beängstigend - manchmal auf einer existenziellen Ebene. Der Wert transformativen Lernens liegt darin, dass wir uns emanzipieren und alte Botschaften entsorgen können, die nicht mehr nützlich sind - und das ist sehr befreiend. Martin Buber beschreibt die Krise als Ort der tiefsten Entscheidung. Es geht darum, Entscheidungen zu treffen, die unser Vorankommen unterstützen. Das hat viel damit zu tun, wie wir mit uns selbst umgehen. Ein guter Kompass ist die Frage "Wie geht es mir mit mir, wenn ich so mit mir umgehe?" Beim transformativen Lernen geht es also auch darum, die Beziehung zu sich selbst zu transformieren und zwar in eine Richtung, die uns Entwicklung und Wachstum ermöglicht.
…das könnte man sehr gut als Schlusssatz stehen lassen, ich würde aber gerne noch eine Runde drehen und noch einmal auf die Entstehungsgeschichte transformativen Lernens zurückkommen. Es gibt noch eine andere Wurzel der Theorie, und der haben Sie ihre Promotionsarbeit gewidmet: die Arbeiten von Jürgen Habermas. Sie sprechen von einem "Theorieimport". Welche Bedeutung hat die Arbeit von Habermas für die Theorie Transformativen Lernens?
Die Arbeiten von Jürgen Habermas sind zentral für die Theorie Transformativen Lernens, wie sie Jack Mezirow entwickelt hat. Konstruktivismus, Humanismus und Kritische Theorie fundieren die Theorie - und bei letzterer bezieht sich Mezirow auf Arbeiten von Habermas. Wie erwähnt, ist die Theorie an der Schnittstelle von individuellen und gesellschaftlichen Veränderungsprozessen verortet. Das ist der Anknüpfungspunkt gewesen, weshalb Mezirow einige Ideen von Habermas in das Zentrum seiner Theorie gestellt hat, unter anderem die Annahme, dass Erwachsene rationale Entscheidungen treffen und im Diskurs die Grundlagen des eigenen Denkens und Fühlens hinterfragen. Der rationale Diskurs ist für Mezirow der Ort, an dem transformatives Lernen stattfindet. Er beschreibt eindrucksvoll, wie sich das Öffentliche im Privaten bricht und welche Antwortmöglichkeiten die Erwachsenenbildung hierauf entwickeln kann. Der große Mehrwert, den dieser Theorieimport mit sich bringt, ist eine (gesellschafts-)kritische Perspektive, die über individuelle Veränderungs- und Transformationsprozesse hinausgeht. Gerade weil ein Großteil der unhinterfragten Grundannahmen durch die Gesellschaft entsteht, in der wir sozialisiert werden, in der wir leben und die wir (mit-)gestalten.
Welche Ideen beziehungsweise Schriften von Habermas hatten besonderen Einfluss auf die Theorie Transformativen Lernens - die Theorie kommunikativen Handelns vor allem? Oder geht der Einfluss weiter?
Mezirow greift vor allem auf zwei Werke von Jürgen Habermas zurück: Erkenntnis und Interesse und die Theorie kommunikativen Handelns. Interessanterweise wird fast immer davon ausgegangen, dass, wie Sie sagen, die Theorie kommunikativen Handelns den größten Einfluss hatte. Das würde ich so nicht unterschreiben. Die drei wichtigsten Aspekte für Mezirow sind Rationalität, die verschiedenen Erkenntnisinteressen (bei ihm domains of learning) und die Rolle des Diskurses. Dies schließt auch die sogenannte "ideal speech conditions" mit ein, bei Habermas wird dies als "ideale Sprechsituation" definiert. Diese Ideen finden sich bereits in Erkenntnis und Interesse. Es macht daher mehr Sinn, sich die Aspekte anzusehen, die Mezirow in seine Theorie importiert hat.
Eine zentrale These Ihrer Arbeit ist, dass Mezirows Rezeption der Werke von Habermas lückenhaft war?
Mezirow teilt den transformativen Ansatz der Kritischen Theorie. Allerdings ist die Rezeption der Werke von Habermas durch ihn in der Tat lückenhaft. Die Vernachlässigung genau dieser Kernelemente führt in Teilen zu einem gewissen Stillstand in der Theorieentwicklung. Er vernachlässigt zum Beispiel den radikalen Impetus in den Werken von Habermas. Mezirow hat, wie erwähnt, einige Ideen von Habermas ausgewählt und in das Zentrum seiner Theorie gestellt, dabei aber beispielsweise die Rolle von Sozialen Bewegungen und von Demokratisierung weitgehend unberücksichtigt gelassen. Auch werden Anknüpfungspunkte zum Bereich Civic Studies, also Studien zu bürgerschaftlichem Engagement, politischer Bildung und Zivilgesellschaft, ungenügend berücksichtigt. Hier werden Probleme in der Theorie Transformativen Lernens sichtbar, die sich aufgrund der lückenhaften Implementierung der Ideen von Habermas ergeben. Deshalb ist es wichtig, dass die Theorie weiterentwickelt wird und auch andere Ideen von Habermas Berücksichtigung finden.
Eine zentrale Herausforderung dabei liegt in der Rolle des rationalen Diskurses: Wenn wir von einem rationalen, kognitiven Prozess transformativen Lernens im Zuge einer argumentativen, diskursiven Auseinandersetzung mit den eigenen Grundannahmen ausgehen, bleiben außerbewusste, somatische, emotionale Zugänge unberücksichtigt. Denken wir noch einmal an unsere Führungskraft, die lernen will, sich selbst weniger unter Druck zu setzen, es aber irgendwie nicht schafft. Die Frage ist doch, wie der kritische, rationale Diskurs hier weiterhelfen kann. Denn egal, wie gut die Argumente für eine Veränderung auch sein mögen, wenn die emotionale, somatische, außerbewusste Seite des Problemmusters unberücksichtigt bleibt, wird es zu keiner Veränderung kommen.
Das führt zurück zu der Frage, wie sich Annahmen, die uns nicht bewusst sind, dennoch einer kritischen Reflexion zuführen lassen. Eine epistemische Frage - es geht letztlich um Nichtwissen?
Transformative Entscheidungen beinhalten dramatisch neue Erfahrungen. Solche Entscheidungen können nicht rational getroffen werden, da der betroffenen Person die Informationen fehlen, die für eine rationale Entscheidung notwendig wären. Sie oder er weiß nicht, welche Auswirkungen diese Erfahrungen haben werden - ja kann nicht einmal wissen, wie die Entscheidungslage nach diesen Erfahrungen sein wird. Transformative Entscheidungen müssen damit von einem Punkt aus getroffen werden, den Laurie A. Paul, Professor of Philosophy and Cognitive Science an der Yale University, als epistemic poverty bezeichnet. Damit meint sie die Unmöglichkeit, entscheidende Informationen über die Art der eigenen zukünftigen Erfahrungen haben zu können. Die Herausforderung bei transformativen Entscheidungen ist, so Paul, dass man nicht an den Punkt gelangen kann, an dem man sein müsste, um eine potenziell rationale Wahl zu treffen, weil man nicht über die relevanten Informationen verfügt. Eine Krise konstruktiv in eine Chance umzuwandeln und die eigene Zukunft in die Hand zu nehmen, erfordert eben eine andere Art des Lernens.
Es war nun viel von Theorie die Rede - sind es vorwiegend theoretische Fragen, um die es geht?
Diese Fragen haben pragmatische Bedeutung für Menschen, die die Welt verbessern oder gar verändern wollen. Man könnte auch sagen: Die Lebenswelt soll gegenüber dem System gestärkt werden.
Das Interview haben wir in mehreren Vertiefungsrunden in schriftlicher Form per E-Mail geführt.
Literatur
Saskia Eschenbacher, Nils Weber, 2023: Deconstructing gender identity through transformative learning, in: Studies in the Education of Adults, 4. August 2023, DOI: https://www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/02660830.2023.2243660
Saskia Eschenbacher, 2023: Saving lives: an unsustainable profession - a study of transformative learning at work, in: Studies in Continuing Education, 12. Juni 2023, DOI: https://doi.org/10.1080/0158037X.2023.2222068
Saskia Eschenbacher, Peter Levine, 2022: Reconsidering the Roots of Transformative Education: Habermas and Mezirow, in: Aliki Nicolaides, Saskia Eschenbacher, Petra T. Buergelt, Yabome Gilpin-Jackson, Marguerite Welch, Mitsunori Misawa (eds.), The Palgrave Handbook of Learning for Transformation, Cham, Switzerland 2022, S. 45-58.
Saskia Eschenbacher, 2020: Transformative learning and the hidden dynamics of transformation, in: Reflective Practice, 2020, S. 759-772.
Saskia Eschenbacher, 2018: Transformatives Lernen im Erwachsenenalter. Kritische Überlegungen zur Theorie Jack Mezirows, Berlin 2018, Verlag Peter Lang.
Laurie A. Paul, 2014: Transformative Experience. Oxford 2014, Oxford University Press.
Zitate
"Es geht darum, neue, andere Fragen zu stellen und dadurch Transformationsprozesse zu initiieren." Saskia Eschenbacher: Neue, andere Fragen stellen
"Die Theorie des transformativen Lernens zielt darauf ab, erwachsene Lernende dabei zu unterstützen, sich von Annahmen zu befreien, die ihre Art zu sein und zu leben einschränken." Saskia Eschenbacher: Neue, andere Fragen stellen
"Transformatives Lernen beschäftigt sich mit der Frage, wie wir Krisen konstruktiv in Chancen umarbeiten können, indem wir unsere Grundannahmen, unser In-der-Welt-Sein, kritisch hinterfragen und transformieren." Saskia Eschenbacher: Neue, andere Fragen stellen
"Es geht aber nicht 'nur' darum, etwas Neues zu lernen. Sondern durch neue Grundannahmen alte Erfahrungen neu zu deuten und damit auch neue Erfahrungen zu ermöglichen." Saskia Eschenbacher: Neue, andere Fragen stellen
"Wann immer wir merken, dass uns eine Grundannahme nicht dient, können wir sie kritisch hinterfragen, überprüfen und gegebenenfalls transformieren. Es geht um viel mehr als neue Skills und Kompetenzen." Saskia Eschenbacher: Neue, andere Fragen stellen
"Wir können die eigenen Möglichkeitsräume kreativ erweitern, wenn wir unsere Grundannahmen transformieren." Saskia Eschenbacher: Neue, andere Fragen stellen
"Wenn der Wunsch und die Motivation zur Veränderung nicht ausreichen, um an unser Ziel zu kommen, ist es Zeit für einen Strategiewechsel." Saskia Eschenbacher: Neue, andere Fragen stellen
"Wie kann ich so gut wie möglich mit einer Krisenerfahrung umgehen? Kann ich diese vielleicht sogar für meine eigene Entwicklung nutzen?" Saskia Eschenbacher: Neue, andere Fragen stellen
"Der Wert transformativen Lernens liegt darin, dass wir uns emanzipieren und alte Botschaften entsorgen können, die nicht mehr nützlich sind - und das ist sehr befreiend." Saskia Eschenbacher: Neue, andere Fragen stellen
"Transformative Entscheidungen beinhalten dramatisch neue Erfahrungen." Saskia Eschenbacher: Neue, andere Fragen stellen
"Eine Krise konstruktiv in eine Chance umzuwandeln und die eigene Zukunft in die Hand zu nehmen, erfordert eine andere Art des Lernens." Saskia Eschenbacher: Neue, andere Fragen stellen
"Die Lebenswelt soll gegenüber dem System gestärkt werden." Saskia Eschenbacher: Neue, andere Fragen stellen
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(*) Stichwort "Unlearning": Besonders zwei Bücher haben im vergangenen Jahr (2022) Aufmerksamkeit erregt: Unlearn Patriarchy und unlearning hierarchy, wobei lediglich der zweite Titel darauf eingeht, wie Entlernen gelingen kann. Einer der beiden Autoren, Lennart Keil, hat sich im Rahmen unserer Erkundung zum Thema Selbstorganisation geäußert. Er geht dabei auch auf die Frage ein, wie wir altes Wissen aus den Köpfen bekommen. Seine Antwort weist ebenfalls in die Richtung transformativen Lernens: "Entlernen bedeutet weniger, veraltetes Wissen loszuwerden. Vielmehr bedeutet es, dass wir tief verankerte Programme schrittweise lockern". Es verlange, "Bewährtes loszulassen und sich neu zu erfinden". Hierarchie verlernen. Selbstorganisation - eine Erkundung, Interview mit Lennart KeilHierarchie verlernen. Selbstorganisation - eine Erkundung, Interview mit Lennart Keil
Zum Buch
Saskia Eschenbacher: Transformatives Lernen im Erwachsenenalter. Kritische Überlegungen zur Theorie Jack Mezirows. Verlag Peter Lang, Berlin 2018, 344 Seiten, 70.60 Euro (D), ISBN 978-3-631768020
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Autor
Winfried KretschmerWinfried Kretschmer ist Chefredakteur und Geschäftsführer von changeX.
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