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Bewusst sein

Achtsamkeit – ein Interview mit Halko Weiss.
Text: Winfried Kretschmer

Bewusstsein wird zu einem prägenden Thema unserer Zeit. Und damit gewinnt eine uralte Methode der Bewusstseinsarbeit an Popularität: Achtsamkeit. Immer wacher, klarer, genauer, wohlwollender der Welt gegenübertreten ist das Ziel. Und nicht zuletzt: Helfen, die Beziehungen und die Kooperation zwischen Menschen zu verbessern.

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Halko Weiss, Ph.D., ist Diplompsychologe und Psychologischer Psychotherapeut und Dozent der Bayerischen Psychotherapeutenkammer. Er ist Mitbegründer und Senior Trainer der Hakomi-Institute in den USA, Deutschland, Neuseeland und Australien. Zusammen mit Michael E. Harrer und Thomas Dietz hat er das Grundlagenwerk Das Achtsamkeits-Buch verfasst. Es ist im Frühjahr 2010 im Verlag Klett-Cotta erschienen.
 

Herr Weiss, warum noch ein Buch über Achtsamkeit? 

Achtsamkeit ist ein Schatz aus dem Osten, den es sich lohnt, zu heben – und ihn auch im Westen zu nutzen. Auch wenn Achtsamkeit heute ein Modethema ist, ist es unser Anliegen, auf der Grundlage unserer gemeinsamen jahrzehntelangen Erfahrung in einem Buch die Grundlagen von Achtsamkeit aufzubereiten.
 

Sie zitieren im Buch einen amerikanischen Buchtitel, der von einer Revolution spricht ... 

... ja, das ist das Buch Die Achtsamkeits-Revolution von B. A. Wallace ...
 

... und Sie schreiben selbst von Hunderten von Fachartikeln. Erlebt das Thema Achtsamkeit einen Boom? 

Ja, das kann man wohl sagen – nicht nur in der Psychologie, wo ich beheimatet bin, sondern auch im Managementtraining, in der Psychoanalyse, im Stressmanagement und vielen anderen Bereichen. Und das zieht neue Forschungen nach sich, unter anderem mit bildgebenden Verfahren in der Neurobiologie, wo grundlegende Erkenntnisse erzielt werden, wie Achtsamkeit das Gehirn verändert.
 

Inwiefern? 

In bestimmten Bereichen des Gehirns, die gemeinhin mit einer höheren Bewusstheit, mit besserer Selbstregulation und auch mit positiven Gefühlen in Verbindung gebracht werden – konkret: dem präfrontalen Cortex, der Insula und dem limbischen System – werden Verbindungen gestärkt und verbessert.
 

Neuroplastizität ist eine der großen Entdeckungen der Hirnforschung: Das Gehirn selbst verändert sich ... 

... das Gehirn verändert sich je nach Gebrauch. Wenn ich es in einer bestimmten Weise benutze, verändert es sich, indem die beanspruchten neuronalen Verbindungen verstärkt werden – und das gilt natürlich auch für die Achtsamkeit.
 

Achtsamkeit – worin liegt die Bedeutung des Themas für Sie? 

Es bietet eine Möglichkeit, seinen Geist zu erziehen. Schon früh wurde Achtsamkeit in der buddhistischen Psychologie als ein bewusstes Training benutzt, um seinen Geist zu schulen und zu trainieren: zu einer höheren Konzentrationsfähigkeit, zu mehr Gelassenheit, zu tieferer Einsicht und Selbstkenntnis über sich selbst, zu mehr Selbstakzeptanz und Selbstmanagement, zu besserer Selbstfürsorge und schließlich auch zu einer Verbesserung der menschlichen Beziehungen, indem das Mitgefühl, die Empathie und, wie das in der buddhistischen Psychologie so schön heißt, liebende Güte geweckt werden.
 

Ihr Buch kommt nun ja betont unreligiös daher. Dennoch haftet dem Thema Achtsamkeit der buddhistische Ursprung an. Zugespitzt: Kann man Achtsamkeit üben, ohne gleich zum Buddhismus zu konvertieren? 

Ja. Ähnliche Praktiken wurden ja auch in anderen Kulturen gepflegt, zum Beispiel bestimmte Formen des Gebets. Aber im Buddhismus wurde diese Fähigkeit am längsten, tiefsten und gründlichsten erforscht und geübt. Hier gibt es eine 2.500 Jahre alte Tradition und Erfahrung, die keine andere Kultur aufweisen kann. Dennoch ist Achtsamkeit nicht an eine religiöse Vorstellung gebunden, so wie man Buddhismus durchaus nicht als Religion verstehen muss. Die buddhistische Psychologie beschreibt einen Weg, wie ein Mensch sich zu einem höheren Bewusstsein entwickeln kann – das ist das eigentliche Thema. Eine bestimmte Art von Glauben, eine Religion, die man akzeptieren müsste, ist damit nicht verbunden.
 

Das heißt, Achtsamkeit ist mit einem westlichen Denk- und Lebensstil kompatibel und erfordert nicht die Übernahme einer bestimmten Lehre? 

Die Übernahme eines Glaubens nicht, aber doch einer Lehre zu dem Thema, wie der Weg der Geisteskultivierung beschritten werden kann. Allerdings ist sie mit dem Lebensstil des Westens nicht kompatibel – und das ist ja gerade das Gute daran! Denn Achtsamkeit bringt etwas in unser Leben zurück, das in unserer Kultur weitgehend vergessen worden ist: wirklich im Moment präsent zu sein, wach zu sein, das Leben voll und ganz und so umfassend wie möglich zu erleben. Also mit dem Leben so gut wie möglich in Berührung zu sein und nicht ständig mit dem Geist in der Zukunft oder in der Vergangenheit zu stöbern, immer auf Trab zu sein, immer angestrengt zu sein, immer irgendwohin zu streben, wo es besser sein soll als hier und jetzt. Insofern fordert Achtsamkeit den westlichen Lebensstil heraus – und balanciert ihn aus.
 

Ist Achtsamkeit damit ausreichend beschrieben? Oder gibt es etwas hinzuzufügen? 

Das Wichtigste ist: Achtsamkeit ist eine Übung. Man kann nicht einfach achtsam sein. Das hat die westliche Psychologie mühsam lernen müssen; so hat sich die Vorstellung der Introspektion nicht durchgesetzt, weil nicht klar war, dass das Üben das Entscheidende ist. Achtsamkeit bedeutet tägliche Übung. Es bedeutet ein Heranreifen von Bewusstheit: einer geistigen Fähigkeit, die danach strebt, in Verbindung zu sein mit einem selbst, aber, und das ist das Wichtige, aus einer gewissen wohlwollenden Distanz heraus und nicht verklebt mit dem augenblicklichen Erleben.
 

Die westliche philosophische Tradition hat lange daran festzuhalten versucht, dass das Beobachtete unabhängig sein könnte von demjenigen, der es beobachtet. Kommt Achtsamkeit gewissermaßen von der anderen Seite und versucht die beiden Dinge zu trennen? 

Wie wir selbst sind und wie die Wirklichkeit ist, kann man nicht erkennen, auch wenn man sich noch so sehr darum bemüht. Das ist in der Tradition des Buddhismus enthalten – dort ist sowieso alles Illusion, was wir als Tatsachen wahrnehmen. Achtsamkeit strebt dennoch danach, sich ständig tiefer und genauer der Wirklichkeit anzunähern, sich ganz präzise, fast wissenschaftlich, zu beobachten und aus dieser beobachtenden Haltung heraus die inneren Vorgänge, die in einem ablaufen, zu bemerken und zu verfolgen. Das ist schon ein Bemühen, der Wirklichkeit näher zu kommen – aber in dem Wissen, dass alles sich letztendlich als Illusion herausstellen wird. Das Versprechen des Buddhismus ist: Erst in der Erleuchtung – aber fragen Sie mich bitte nicht, was das ist – kommst du in Seinszustände, wo du mit der Wirklichkeit in irgendeinem Sinne eins bist. Wie das dann ist, weiß ich nicht. Ich beschränke mich lieber auf die paar Stadien ganz am Anfang dieses Weges, wo es einem tatsächlich gelingen kann, sich immer genauer wahrzunehmen und so der Wirklichkeit näher zu kommen, auch wenn sie immer noch unendlich weit entfernt ist.
 

Indem jemand, der Achtsamkeit praktiziert, genau beobachtet, wie er sich verhält und wie er reagiert, versucht er im Grunde, die Rolle des Beobachters herauszuarbeiten und vom Beobachteten zu trennen. Kann man das so sagen? 

Ja, dieser Beobachter ist aus der Sicht der buddhistischen Psychologie ein Talent, das wir alle haben und entwickeln können: eine höhere geistige Funktion, die es uns ermöglicht, aus einer wohlwollenden Distanz heraus unsere inneren Abläufe zu betrachten, ohne mit ihnen zu verschmelzen – eben eine Trennung zwischen Beobachtetem und Beobachter. Das betrifft alle automatisierten Vorgänge, die Art, wie meine Selbstorganisation abläuft. Dazu gehören meine Bewegung, meine Gedanken, meine Gefühle, meine gesamten Automatismen der Verarbeitung.
Zum Beispiel: Ein Freund oder Mitarbeiter kommt zur Tür herein. In diesem Moment laufen alle möglichen Dinge automatisch außerhalb unseres Bewusstseins ab: sich wiedererkennen, die ganzen inneren emotionalen und automatischen Reaktionen und Abläufe. Die sind es, die uns von Augenblick zu Augenblick formen! All das, was jemand im Laufe seiner Lebensgeschichte gelernt hat, wie er Erlebnisse verarbeitet und wie er daraus handelt, bildet die Gesamtheit unseres automatischen Seins. Diese Automatismen genauestens zu beobachten und nicht durch sie aufgesogen zu werden, sondern eine gewisse Distanz zu ihnen zu wahren, sie genau zu kennen und sich damit auch zusätzliche Freiheitsgrade zu erschließen, etwas anderes machen zu können, das ist der entscheidende Mechanismus, der in der Psychologie, in der emotionalen Intelligenz, im Stressmanagement und so weiter zunehmend genutzt wird.
 

Kann man Achtsamkeit als Erkenntnismethode sehen: also eine Methode, den Zugang zu Ebenen des Wissens zu ermöglichen, die dem Bewusstsein sonst verschlossen bleiben? 

Ja, so könnte man das sagen. Durch ein Studium meiner inneren Abläufe, die mich unbewusst organisieren, die ich normalerweise aber gar nicht bemerke, die aber dennoch in Sekundenbruchteilen meine Gesamtverfassung verändern können, solche Mechanismen kann ich durch geschulte Achtsamkeit langsam kennenlernen, genauer verfolgen und verstehen, woher sie kommen und wie sie organisiert sind. Und dadurch tatsächlich unbewusste Dinge bewusst machen.
 

Nun werden Themen nicht einfach so nach oben gespült. Das Thema Achtsamkeit kommt gerade in einer Situation, wo es entscheidend darauf ankommt, gemeinsam Wissensressourcen zu erschließen. Kann Achtsamkeit dazu beitragen, die Fähigkeit zu Kooperation und Kollaboration zwischen Menschen weiterzuentwickeln? 

Dass Achtsamkeit hier neue Potenziale erschließt, kann man auf zweierlei Weise verstehen. Zum einen verhilft Achtsamkeit dazu, sich selbst gut zu kennen. Und es erleichtert die Beziehung zu anderen Menschen, wenn man sich selber gut kennt, sich besser regulieren kann und sich der Effekte seines eigenen Handelns bewusst ist. Wenn man hier unbewusst und automatisiert agiert, ist das eher eine Belastung für eine Beziehung. Die andere Seite ist, dass man lernt, den anderen genauer zu sehen und zu verstehen. Also dessen Motive nicht aus den eigenen Vorurteilen, Ängsten und Automatismen heraus zu begreifen. Beides, einerseits sich selbst genauer zu kennen und erkennen, und andererseits auch den anderen besser zu erkennen und zu schätzen, stärkt die Zusammenarbeit zwischen Menschen.
 

Wird Bewusstsein heute zu einem zentralen Thema der Zukunft? 

Das glaube ich ganz bestimmt. Eigentlich ist es immer schon ein philosophisches Hauptthema gewesen, nur war die Wissenschaft noch nicht so weit, um sich ihm zuzuwenden. Jetzt aber reift die Zeit heran, wo es möglich wird, sich etwas so Komplexes und schwer zu Erfassendes wie Bewusstsein vorzunehmen, auch naturwissenschaftlich, nicht nur in der Philosophie. Heute können wir vorsichtig anfangen, Bewusstsein als ein wissenschaftlich beschreibbares Phänomen zu behandeln.
 

Und Achtsamkeit leistet das von der individuellen Seite her: als eine Methode, Bewusstsein weiterzuentwickeln? 

Ja, es in einer ganz bestimmten Weise zu beeinflussen: Nämlich immer wacher, immer klarer, immer genauer, immer wohlwollender der Welt zu begegnen – und auch mit einem nie nachlassenden Interesse. Das ist ein sehr wichtiger Punkt, weil unser Interesse und unsere Neugier an der Welt manchmal zusammenbrechen. Durch Achtsamkeit lernen wir, neugierig zu bleiben, immer weiter wissen zu wollen, immer tiefer verstehen zu wollen. Das ist es, wozu diese geistige Tradition einlädt.
 


changeX 27.05.2010. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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: Das Achtsamkeits-Buch. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2010, 303 Seiten, ISBN 978-3-608-94558-4

Das Achtsamkeits-Buch

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Autor

Winfried Kretschmer
Kretschmer

Winfried Kretschmer ist Chefredakteur und Geschäftsführer von changeX.

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