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Lernen als Betriebssystem

Eine Unkonferenz in Berlin überlegt, wie man die Bildung hackt.
Text: Annegret Nill

Die Bildungssysteme sind am Ende, weltweit. Sie stammen aus industrieller Zeit, als es darum ging, Massen für die Massenproduktion fit zu machen. Heute muss Bildung neu konzipiert werden. Für eine Kultur, in der das Lernen das Betriebssystem sein wird.

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Martin Lindner klatscht zweimal in die Hände: „Leute, die Zeit ist wieder um!“, ruft er in den Raum. Zwei der drei kleinen Grüppchen von vier bis sechs Personen trennen sich langsam von der Lernstation, an der sie gerade standen, und gehen ein paar Meter weiter zur nächsten.
Doch an der Station „Schule 2.0“ wollen die Lerner noch nicht weitergehen. Stationenleiterin Lisa Rosa, im normalen Leben zuständig für Unterrichtsentwicklung im Referat Gesellschaft des Landesinstituts für Lehrerbildung und Schulentwicklung Hamburg, erzählt von dem Lernprojekt, das sie mit Geschichtslehrern an einer KZ-Gedenkstätte durchführt. Das Spezielle daran? Die Lehrer werden nicht mit Stoff zugeschüttet. Sondern erst einmal losgeschickt, um die Gedenkstätte selbst zu erforschen und sich in Beziehung zu diesem Ort zu setzen. Aber die zehn Minuten sind vorbei, und unnachgiebig rückt das nächste Lernergrüppchen an die Station und drängt die Widerwilligen lachend weiter.
Auf geht es zur nächsten Station im Speedgeeking. „Geek“ ist umgangssprachliches Englisch und bedeutet „Streber“ oder „Computerfreak“. Speedgeeking ist eine Art Stationenlernen, bei dem die Teilnehmer im Gespräch die Grundideen zu den Themen kennenlernen, über die später in den Arbeitsgruppen diskutiert werden soll. Die nächste Station: informelles Selbstlernen im Netz.


Die, die kommen, sind die Experten.


Willkommen auf der Unkonferenz „Die Bildung hacken“. Unkonferenz, das heißt, es gibt weder eine Keynote Speech noch Vorträge. Die, die kommen, sind die Experten. Bezahlen müssen sie nichts, statt formeller Anmeldung tragen sich Interessierte einfach auf einer Liste im Netz ein. Das hat diesmal nicht so gut funktioniert. Eingetragen haben sich viele. Gekommen sind letztlich etwa 20, die sich in dem großen, hohen Raum der Home Base am Potsdamer Platz in Berlin etwas verlieren. Der Veranstalter und Medientheoretiker Martin Lindner ist dennoch zufrieden. „Wir haben die kritische Masse gerade so erreicht“, meint er. Am früheren Morgen war das noch nicht so klar gewesen. Da hatten sich nur etwa zehn Personen um einen der vier Pfeiler gedrängt, die den Raum, der ein bisschen wie eine kleinere Fabriketage wirkt, stützen.
Vorbild für diese Unkonferenz war die Konferenz Hacking Education, die im März in New York stattfand. Die Grundannahmen von Hacking Education: Das jetzige Bildungssystem funktioniert nicht mehr – und zwar weltweit. Die Schule in ihrer jetzigen Form kommt aus dem industriellen Zeitalter. Sie ist lehr- und unterrichtszentriert, statt sich an den Lernprozessen der Schüler zu orientieren. Damit passt sie nicht mehr in eine Zeit, in der Wertschöpfung zunehmend auf der Produktion von Wissen basiert.
„Wir sind auf dem Weg in eine neue Kultur, in der das Lernen das Betriebssystem sein wird“, erklärt Rosa. Man muss also nach neuen Möglichkeiten suchen, wie Lernen heute funktionieren kann. Im Zentrum dabei: die Web-2.0-Technologien, mit denen sich Lernmethoden und -inhalte online anbieten lassen. Die Web-2.0-Technologien, so die These, führen zu „Open Education“ – also dazu, dass alle Netzteilnehmer frei auf Lernmethoden und -inhalte zugreifen und selbst über ihre Lernprozesse bestimmen können. Die Hierarchien zwischen Lehrern und Lernern werden so abgebaut oder verschwinden sogar ganz.
Begreifbarer wird der Trend, wenn man sich anschaut, wie sich die Informationsflüsse verändert haben, seit es Web 2.0 gibt. Ton Zijlstra, Social-Media-Unternehmensberater aus den Niederlanden, der extra für die Unkonferenz angereist ist, schildert sein verändertes Informationsverhalten so: „Ich habe bei mir festgestellt: Die Weise, wie Informationen zu mir kommen, hat sich verändert. Ich lese keine Sachbücher oder Magazine mehr, sondern folge Menschen. Die Feeds kommen alle in meinen Feedreader rein und ich schaue täglich nach: Was finden die wichtig?“ Damit unterschiedliche Informationen den Weg zu ihm finden, achtet er darauf, dass er sehr unterschiedlichen Menschen folgt.


Außerhalb der Logik der Institutionen agieren.


Aber was soll das heißen: die Bildung „hacken“? Normalerweise bedeutet das aus dem Englischen abgeleitete Verb hacken, dass jemand verbotenerweise in ein fremdes Computersystem eindringt. Das ist hier natürlich nicht gemeint. Guido Brombach vom DGB-Bildungswerk findet bei der Vorstellungsrunde, die zugleich auch das Themenfeld abstecken soll, eine allgemeinere Bedeutung: „Hacken bedeutet für mich, mit dem System zu spielen, mit Veränderungen zu spielen.“ Und Lisa Rosa meint: „Hacken bedeutet, außerhalb der Logik der Institutionen zu agieren.“ Also von außen Einfluss auf die Systeme ausüben, damit diese sich ändern.
Mittags wird in den Arbeitsgruppen weiterdiskutiert. Die Gruppe Schule 2.0 hat sich in eine Sitzecke links im Raum verzogen. Rosa, die lange an Schulen unterrichtet hat und die Gruppe leitet, fragt: „Habt ihr alle das Etherpad geöffnet?“ Sie guckt bereits angestrengt in ihr Notebook. Zwei weitere Teilnehmer haben ihren Mac aufgeklappt, ein dritter tippt in sein iPhone. Rosa benennt die Grundfrage der AG: „Wie können wir Schule so gestalten, dass sie in Zukunft weiter sinnvoll ist?“, fragt sie. „Das ist ja gleich der große Wurf!“, kommentiert Christian Grune, Schulgründer der Freien Schule Woltersdorf. Und: „Das ist ja total offline!“, entfährt es Jöran Muuß-Merholz, der eine Bildungsagentur betreibt.
Und dann geht’s los. Über Stunden wird konzentriert gearbeitet. Was bedeutet hacken im Schulkontext? Rosa meint: Alles, was gegen die Regel verstößt, ist ein Hack. Und die Regeln an der Schule sind: Alle Schüler müssen das Gleiche lernen, sie werden bewertet, es gibt eine klare Trennung von Lehrern und Schülern. Felix Schaumburg, Lehrer an einer Gesamtschule in Wuppertal, behauptet: „Wenn ich ein YouTube-Video in die Schule einbringe, hacke ich schon.“ Denn die Schulbehörden nehmen es da ganz genau. Es könnte ja Probleme mit den Rechten geben.
Am späten Nachmittag kommt Mitveranstalter Basti Hirsch, dessen Arbeitsgruppe Studium 2.0 sich aufgelöst hat, herüber. „Wer will Kaffee?“, fragt er. Und Lindner ruft in die Runde: „Drei Hacks finden bitte bis zum Abschlussplenum!“ Drei Hacks, hm, was könnte im Schulbereich ein wirkungsvoller Hack sein, grübelt die Schulgruppe. Schulstoff im Netz zu verabreichen sei jedenfalls kein Hack, meint Rosa: „Da wird das System reproduziert und ins Netz reingeholt.“
Cervus alias Basti Hirsch twittert: „alter kack im neuen frack! altes lernen mit neuen medien. blogs allein werden die welt nicht retten. hackbild“. Nein, in der Logik der Netze liegt eher, dass die Rollen von Lehrern und Schülern sich auflösen. Bis zur Abschlusspräsentation hat die Gruppe ihre Hacks gefunden. „Der erste Hack ist: ELSA“, spricht Schaumburg auf der Abschlussrunde in das iPhone, über das die Ergebnisse ins Netzradio 1000Mikes gelangen, wo sie als Livestream angehört werden können. „ELSA“ steht für: „Eltern-Lehrer-Schüler-Aushandlungsrunde“. So eine Aushandlungsrunde hat es tatsächlich schon mal gegeben: an der Werner-Stephan-Oberschule in Berlin. Eltern, Lehrer und Schüler haben dort gemeinsam und paritätisch besetzt den Schulentwicklungsprozess gesteuert. ELSA hat also die Hierarchien „irritiert“. Der zweite Hack sind Herausforderungen wie Projektwochen, die die Schüler selbst bestimmen. Als Beispiel dient eine Radfahrt zur Zugspitze, die die Schüler selbst organisiert haben. Der dritte Hack sind – Elternblogs. „Lehrer sind unheimliche Kontrolltiere“, erklärt ein Teilnehmer, der selber Lehrer ist. Ergo: Schon so ein Blog kann Sprengkraft besitzen. Das gilt natürlich nicht für jeden x-beliebigen Elternblog. Gut gemacht und kritisch muss er schon sein.


Eine Person, die entscheidet?


Bei der Gruppe „informelles Lernen im Netz“ gibt es Lehrer gar nicht mehr. Die Vision sieht so aus: Eine Plattform im Netz bietet Templates und Methoden, mit denen Gruppen von Selbstlernern eigenständig arbeiten können. Eventuell stehen auch Tutoren zur Verfügung. Wer etwas lernen will, beispielsweise Six-Sigma-Prozessoptimierung oder auch Chinesisch für Anfänger, findet per Schneeballsystem Mitlerner. Die Gruppe kommuniziert per Microblogging und trifft sich alle zwei Wochen in „Echtzeit“. Jeder schreibt ein persönliches Lernblog als Lerndokumentation und gemeinsam erarbeitet man in drei bis vier Monaten so etwas wie ein Lerntutorial, das man ins Netz stellt, als dessen Autor man kenntlich ist und das man auch bei Einstellungsgesprächen vorweisen kann. Möglich wäre dann, sich durch einige solche Projekte ein neues berufliches Feld selbst zu erschließen. Damit es als Berufsweiterbildung anerkannt wird, soll es eine Zertifizierung durch einen Fachmenschen geben, meint Medientheoretiker Lindner. René Scheppler, Lehrer an der Helene-Lange-Schule, einer bekannten Vorzeige-Reformschule in Wiesbaden, der die Abschlussrunde via Netzradio verfolgt hat, schreibt: „Zertifizierung? Eine Person, die entscheidet? Wer ist ‚dieser Mensch‘?“
Damit aber ist der Entwurf noch gar nicht am Ende. Lindner schlägt ein Drei-Stempel-System vor, das die Lernleistung mit A, B oder C bewertet. Da zeigt sich, dass auch die Vordenker der Web-2.0-Gesellschaft nicht hierarchiefrei denken. Denn so ein System reproduziert natürlich wieder die alte Schullogik der Bewertungen und Klassifizierungen. Drei statt sechs Stufen – der große Fortschritt wäre das wohl nicht.

Foto: schb (Felix Schaumburg), http://www.bluemac.de/blog


Zitate


"Wir sind auf dem Weg in eine neue Kultur, in der das Lernen das Betriebssystem sein wird.“ Lisa Rosa, Schulexpertin. auf der Unkonferenz "Bildung hacken"

 

changeX 27.10.2009. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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Annegret Nill
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Annegret Nill arbeitet als freie Journalistin, Autorin und Moderatorin in Berlin. Sie schreibt als freie Autorin für changeX.

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