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Die Beharrlichkeit von Blau

Hereingeschaut: beim PM Camp Berlin 2015 zum Thema "Komplexität"
Report: Anja Dilk

Komplexität. Begreifen wir wirklich, was das ist? Offenbar braucht es einfache, eingängige Metaphern: Blau, das ist kompliziert; vielleicht nicht leicht zu verstehen, aber prinzipiell steuerbar. Rot ist komplex; unvorhersehbar, überraschend, nicht zu managen. Ein Barcamp in Berlin hangelt sich durch die neue Farbenlehre. Und erfährt, wie beharrlich blaues Denken sein kann.

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Die Sache scheint klar: Projektmanagement, wie Management überhaupt, ist eine Zombie-Technologie aus dem Industriezeitalter. Ungeeignet, Unternehmen durch eine zunehmend komplexe Welt zu manövrieren. Dumm nur: Das Management weiß davon nichts. Wie im Film begreift der Zombie nicht, dass er Zombie ist, und schlappt zerstörerisch weiter durch die Welt der Lebendigen. - Oha, die Thesen sitzen, die Niels Pfläging in federndem Auf und Ab vor dem Publikum in der Berliner Humboldt-Universität so lässig aus der Hüfte schießt. Zumal jene, mit deren Arbeit Pfläging heute kritisch ins Gericht geht, auf den Zuschauerstühlen hocken: Projektmanager, Berater, Begleiter von Organisationen im Unternehmensalltag. Umso nachdrücklicher und präziser peitscht Pfläging, sichtlich erfreut an der Polemik, seine Thesen durch den Hörsaal.  

Erzählt, wie wir "Begriffsschlamper" komplex und kompliziert immer wieder durcheinanderwerfen. Definiert den Unterschied: Kompliziertes ist extern steuerbar und beherrschbar, wie ein Flugzeug, komplexe Systeme dagegen stecken voll permanenter Überraschungen - unmöglich das Ganze zu überschauen, unmöglich es durch organisatorische Maßnahmen zu steuern. Erläutert, wie die Komplexität, die in Zeiten des Industriezeitalters durch Standardisierung besiegt schien, in der globalisierten Ökonomie wieder zurückkehrte. "Nennen wir kompliziert blau, komplex rot", schlägt Pfläging vor, denn das macht es einfacher, das Problem auf den Punkt zu bringen: "Projektmanagement ist eine Methode, rote Probleme mit blauen Methoden zu lösen." Und nun? "Komplexität ist nur Kacke, wenn man nicht drauf vorbereitet ist. Das ist wie mit dem Wetter." Um nicht klatschnass dazustehen, braucht es also eine Haltung, die Komplexität akzeptiert. Und neue Methoden, die helfen, mit ihr umzugehen. Denn "wer rote Probleme mit blauen Werkzeugen lösen will, der scheitert".


Komplexität - reduzieren oder erhöhen?


Es ist voll auf dem dritten PM-Barcamp Mitte September in Berlin. Der Nieselregen, der vom Himmel fällt, scheint niemanden davon abgehalten zu haben, sich auf den Weg in die Humboldt-Universität Unter den Linden zu machen. Das Thema lockt: "Komplexität - reduzieren oder erhöhen?" Im Seitenflügel, erster Stock, im Hörsaal am Ende des Ganges, erklärt Mitorganisator Heiko Bartlog die Barcamp-Regeln: Wie im Open Space gilt das Gesetz der zwei Füße: Wer bleiben will, bleibt, wer gehen will, geht. Wer auch immer kommt, es sind die Richtigen. Es beginnt, wenn die Zeit reif ist (naja, nicht ganz, beim PM Camp gibt es 45-Minuten-Sessions mit festen Zeiten). Was passiert, passiert. "Auch Tanzen ist erlaubt", ruft Bartlog und ermuntert in jedem Falle eines zu tun: Wissen teilen, Diskussionen teilen, Twittern, was das Zeug hält.  

Dann geht es an die Diskussion. 22 Sessions bieten die Barcamp-Teilnehmer schließlich an, denn auch das ist Prinzip dieses Nichtkonferenz-Formates: keine geplanten Workshops, sondern spontane Diskussions-, Präsentations- und Themenrunden aus dem Teilnehmerkreis. Wer hat Ideen? Wer möchte eigene Methoden vorstellen? Wer möchte sich mit den anderen zu einer Fragestellung austauschen?  

Bedarf zu Austausch gibt es nach Pflägings steilem Vortrag reichlich. Ist Komplexität wirklich so, wie sie Pfläging beschreibt? Ist sie nicht doch steuerbar oder mit blauen Methoden, hier und da hineingestreut, zumindest punktuell bearbeitbar zu machen? Sind die Unternehmenswelt und ihre Probleme wirklich so rot? Und wenn ja, welche Methoden brauchen zeitgemäße Projektmanager dann?  

"Komplexithoden" nennt Pfläging seinen Werkzeugkoffer, den er zukunftsfesten Projektmanagern in die Hand drückt. Er basiert auf der Überlegung, dass in roten Zeiten andere Strukturen und Mechanismen wichtig werden. Zum Beispiel: Die formelle Struktur des "Unternehmenstheaters", bei dem der Chef vorn auf der Bühne den Ton angibt, verliert an Bedeutung. Die informelle Struktur hinter der Bühne wird wichtiger. Menschen also, die keine Macht, aber Einfluss haben, die Beziehungen in der Organisation vorantreiben. Denn die gewaltige Dynamik in roten Zeiten erfordert eine "hohe soziale Dichte". Alle gehören nach vorn gezerrt, die Könner und Experten mit Reputation, die Beziehungsspezialisten, die ganze Fülle der kreativen Manpower einer Organisation. In einer komplexen Welt überleben nur dezentralisierte Systeme, die Entscheidungen auf ein lebendiges Beziehungsnetz vieler Akteure verlagern und bei der Suche nach Lösungen für rote Probleme sich forschend vorantasten und sensibel ausspähen, welche Mitglieder der Organisation die Richtigen sind, um sie zu lösen. Oder, wie es Pfläging formuliert: "Alle Macht an die Peripherie!"


Nutzwert gesucht


Wollen wir das wirklich? Brauchen wir das? Die Debatten in den Sessions zeigen allzu oft: Was Komplexität genau ist, bleibt umstritten. Da ist sie, vielleicht aber doch handelbar; und es geht es doch weiter in zentralisierten Einheiten, meinte die Runde im Workshop "Power an die Peripherie". "Was ist denn immer so schlecht daran, so zu arbeiten?" "Haben denn Führungsfiguren wie Steve Jobs nicht gezeigt, dass es geht?" "Müssen wir nicht die Entscheidungsbefugnisse an die Peripherie verlagern, wenn wir ihr mehr Macht geben wollen?"  

Fishbowl Komplexität. Die Diskussion ist sehr fokussiert. Auch hier sehen die einen Komplexität als beherrschbar, als "Spiel zwischen Freiheit und Möglichkeit", in dem zumindest Teilsegmente systematisch bearbeitbar seien, und kritisieren Pflägings Definition als "eingefahrenes Denkmodell". Die anderen bekräftigen die Unüberschaubarkeit der Komplexität, in der Zusammenhänge und Ursache-Wirkungs-Beziehungen eben nicht auszumachen und nicht systematisch zu beeinflussen seien. Allerdings habe der Mensch die Möglichkeit zu entscheiden, welchen Ausschnitt einer komplexen Gemengelage er wahrnehmen und welchem er sich widmen wolle. Und natürlich lässt sich Komplexität auch als Potential sehen: "Komplexität ist das Potential eines Projekts überhaupt, das Ziel erreichen zu können", sagt ein Teilnehmer der Runde. "Sie ist die Seele einer Organisation." Der Inbegriff ihrer Möglichkeiten. Man muss sie nur richtig zu nutzen verstehen.  

"Nutzen" ist auf diesem Barcamp die permanente Begleitspur zur expliziten Suche nach der Definition und dem Umgang Komplexität. "Das ist mir alles zu philosophisch, ich möchte Nutzwert." Sätze wie dieser fallen oft in Gesprächen am Rande der Sessions. Vielleicht gerade weil die Komplexität den Alltag so schwierig macht. Und gerade deshalb entsteht wahrscheinlich in den Sessions zu praktischen Methoden so eine angeregte Spannung, auch wenn es nur selten um Methoden wie Scrum, Agile et zetera geht.  

Zum Beispiel beim "Creative Suitcase", bei dem die Teilnehmer lernen, sich gemeinsam mit anderen einen Ideenkoffer zu packen, mit dessen Hilfe es gelingen soll, ihre eigene Kreativität zu beflügeln. Zum Beispiel bei der Lego-Session, bei der die Besucher mit den Plastiksteinen bauen, um Ideen zu visualisieren und sich so klarer mit ihnen auseinandersetzen zu lernen: "Bauen in Bildern". Zum Beispiel beim Spiel um den Return on Investment, bei dem die Teilnehmer mit vorher beim Spielleiter gekauften Strohhalmen, Büroklammern und anderen Utensilien eine Halterung für Marshmallows bauen müssen, die diese zehn Zentimeter über der Erde hält. Ein Spiel, das den Blick öffnen soll für den Umgang mit Investitionen, Wettbewerb und Risiko.


Praxissuche und Selbstverortung


Das PM Camp Berlin gleicht so einem Potpourri aus Denkmodellen und Gedankenfetzen, aus Praxissuche und Selbstverortung. Was ist Komplexität? Wo steht das (Projekt)Management in dieser oft so roten Welt? Spannend, weil es zeigt, wie zerrissen die Branche in ihrer Auseinandersetzung mit diesem anspruchsvollen Thema ist. Anregend, weil die lebendige Organisationsform Barcamp einmal mehr gezeigt hat, wie sehr andere Formate abseits klassischer Konferenzen oder Debattenzirkel den Austausch auf eine ping-pong-artige Weise voranbringen können.  

Sicher, es fehlte eine systematische Debatte. Die Abschlussdiskussion in der Digital Eatery von Microsoft schräg gegenüber der Humboldt-Universität bündelte einige wichtige kontroverse Bruchstücke der Diskussion. Dass blaues Denken permanent weiter reproduziert wird, weil jene an der Spitze sitzen, die dem Wandel nicht anders zu begegnen wissen. Dass es in einer komplexen Welt keine Führung top-down mehr geben kann, weil die Idee der Hierarchie Komplexität nicht gerecht wird. Oder umgekehrt: Dass es gerade deshalb Führung geben muss, aber in einem anderen Sinne, als freiwillige, phasenweise Gefolgschaft vielleicht. Zu Ende ist die Diskussion über Komplexität und erfolgreiche Methoden, mit ihr umzugehen, mit diesem Barcamp sicher nicht. Aber ein produktiver Anfang ist gemacht. Und das ist in einer komplexen Welt verdammt viel.  


changeX 18.09.2015. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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Quellenangaben

Autorin

Anja Dilk
Dilk

Anja Dilk ist Berliner Korrespondentin, Autorin und Redakteurin bei changeX.

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