Zwischenruf aus Block L
Durch die luhmannsche Hornbrille betrachtet, erscheint die Fußball-WM als Knäuel völlig ungeahnter Fragen: Wo verläuft die Seitenauslinie selbstreferenzieller Determination? Was haben die Vuvuzelas damit zu tun? Und für welches Problem könnte Fußball eigentlich die Lösung sein?
Die Fußball-WM geht in ihre zweite Halbzeit, und wer von den ewig gleichen Ausführungen der üblichen TV-Kommentatoren über „Dominanz auf dem Spielfeld“ erschöpft im Fernsehsessel hängt, dürfte für einige intellektuell belebende Betrachtungen der Ereignisse in Südafrika dankbar sein. Also auf in Block L wie Luhmann, in das Blog „Systemische Blutgrätsche“, wo fußballbegeisterte Vertreter der systemtheoretischen Zunft seit Beginn der WM das Geschehen auf und neben dem Spielfeld kommentieren.
Nicht dass das systemtheoretische Interesse anderen als den auch anderweitig vordringlichen Themen gelten würde. Nein, es geht auch hier um fragwürdige Schiedsrichterleistungen, das „neue deutsche Spiel“, das Vuvuzelagetröte sowie das Debakel der Italiener und die Blamage der Franzosen. Doch die systemtheoretische Analyse weitet den Blick, dank der exzellenten taktischen Schulung ihrer Anhänger, die einen ergebnisorientierten Catenaccio (*) spielen, aus einer gefestigten theoretischen Deckung heraus, und dabei manch gängige Plattitüde ins Abseits laufen lassen.
Spontane Reorganisation des mannschaftlichen Systems
Das beginnt schon bei der Frage, ob generell dem Systemfußball oder dem Starfußball der Vorzug zu geben sei. Hier ist der Systemtheoretiker naturgemäß parteiisch. So verwundert es nicht, dass Norbert Bolz die Abwesenheit Michael Ballacks eher als Vorteil für die deutsche Mannschaft ansieht: „Ballack hat manchmal gut gespielt und entscheidende Tore geschossen, aber er war als autoritäre Autorität eine Belastung für viele Spieler. Nun haben sie keinen Leitwolf mehr und müssen auf das Prinzip ‚redundancy of potential command‘ setzen. Das könnte befreiend wirken.“ Schreibt Bolz schon vor dem ersten Spiel der deutschen Mannschaft, um anschließend in einer dialektischen Volte den Gegensatz von System und Star völlig aufzulösen: „Weder das System noch der Weltstar“, so Bolz, „machen den Weltmeister. Das System muss die Spieler so befreien, dass der Star geboren wird. Schweinsteiger.“
Dieser stark antiautoritäre Gestus prägt auch einen Einwurf Maren Lehmanns über den gewissermaßen „anarchischen“ Lärm der Vuvuzelas. Entgegen der vielstimmigen Klage, das Dauertröten unterbinde alle notwendige Kommunikation, sieht Lehmann den ungewohnten Lärm als Chance zu einer grundsätzlichen Befreiung des Spiels: „Die Brüllereien der Paramilitärs am Rand des Platzes und ihrer Stellvertreter auf dem Platz gehen unter, das Spiel wird mal lahmer, mal nervöser – je nach Temperament, nicht? Aber vielleicht sehen wir hier einen Test auf die Frage, ob sich ein Spiel gegen eine Hierarchie behaupten kann. Was Verstehen mit Wahrnehmen zu tun hat. Herrlich.“
Der Gedanke von der Befreiung aus dem System durch das System zieht sich als Leitfaden durch viele Beiträge. Auch bei Dirk Baecker. Systemtheoretisch gedacht sei das Fußballspiel, so Baecker, die „Gestaltung von Abhängigkeiten zwischen unabhängigen Elementen, genannt: Spieler“. Spaß mache dieses Spiel aber nur, „wenn die wachsenden Pfadabhängigkeiten, zu denen sich auch selbstreferenzielle Determinationen aus einer gewissen Ansteckungslogik heraus verdichten, dadurch unterbrochen werden, dass es einzelnen Beteiligten immer wieder gelingt, Freiheiten eigener Spielzüge zu fingieren und durchzusetzen“. Fußball lebt also, mit anderen Worten, gerade von der spontanen Reorganisation des mannschaftlichen Systems durch kreative Spieler. (Wobei wiederum der Schiedsrichter hier – und bei diesem Turnier scheinbar mehr als sonst – systemtheoretisch gedacht weniger als freiheitsstiftender Teil des Systems denn vielmehr als Teil der unbekannten und unberechenbaren Umwelt in Erscheinung tritt.)
Simulierte Selbstreferenz
Von derlei Freiheiten aber, so ließe sich der Gedanke fortführen, hängt nicht nur der Spaß am Spiel ab, sondern auch der Erfolg. In diese Richtung jedenfalls scheint Matthias Ohlers die Blamage der Franzosen analysieren zu wollen. Nur dass bei ihm der Freiheitsbegriff durch jenen der Selbstorganisation präzisiert ist. „Wenn Weltklasseleuten nichts anderes einfällt, als 90 Minuten lang ein ‚mehr desselben‘ zu zelebrieren, statt nach der Maxime ‚wenn etwas nicht funktioniert, mach was anderes‘ vorzugehen, wirft das ein Licht auf die Frage, wie selbst organisiert eine Fußballmannschaft wirklich operieren kann.“ Und in dieser Hinsicht stellt Ohlers der Equipe Tricolore ein vernichtendes Urteil aus: „1. Domenech sagt auch am Spielfeldrand nichts (vielleicht, weil er davon ausgeht, man höre ihn eh nicht wegen der Vuvuzelas) [...]; 2. und sonst hat niemand was zu sagen; 3. Thierry Henry ist kein Günter Netzer und wechselt sich nicht selbst ein. Das war’s.“
In eine ähnliche Kerbe schlägt auch Norbert Bolz mit seiner Betrachtung des desaströsen Auftritts der Italiener in Südafrika. „Mehr als jede andere Mannschaft ist Italien ein modernes System, und das bedeutet: Italien passt sich nicht an und reagiert nur auf sich selbst. Nie kämen die Italiener auf den Gedanken, sich über den Gegner den Kopf zu zerbrechen. Mit majestätischem Selbstbewusstsein spielen sie ihr Spiel – und es ist immer dasselbe. Ob sie gegen San Marino, Brasilien oder Paraguay spielen – gleichviel.“
Eine Analyse, die Dirk Baecker dann doch in eine falsche Richtung zu laufen scheint. Sein Konter: „Das italienische System hat eine italienische Form. Es oszilliert schneller zwischen System und Umwelt, als wir es nördlich der Alpen gewohnt sind. Wenn wir denken, es reagiere nur auf sich selbst, hat es bereits vielfach auf seine Umwelt reagiert und daraus seine Schlüsse gezogen. [...] Moderne Systeme verfügen alle über diese Form. Sie simulieren Selbstreferenz, damit man ihrem strategischen Umgang mit ihrer Umwelt nicht auf die Spur kommt.“ In diesem Sinne allerdings wäre dann nicht bloß das Team Italia, sondern das Projekt der Moderne in Südafrika kläglich gescheitert.
Reduktion von Komplexität
Doch was soll das Ganze überhaupt? Der Kampf der 22 um den einen Ball? Welche Funktion erfüllt das Fußballspiel als spezielles System? Ulrich Clements Erklärung fußt hier auf der luhmannschen Bestimmung, Funktion sei der Beitrag eines Phänomens zur Lösung eines Problems. Welche Probleme also hilft der Fußball zu lösen? Gar große gesellschaftliche? Doch Clement hält den Ball flach: Es gebe kein Problem außerhalb des Fußballs, für das der Fußball eine Lösung sei. Fußball, so Clement, löse nur fußballinduzierte Probleme. „Das Spiel erzeugt eine offene Gestalt (= Spannung), die nach einer vorhersagbaren Zeit geschlossen wird (= Ergebnis). Damit bietet es sowohl Berechenbarkeit als auch Offenheit an. [...] Es ist eine kognitive Freude, wie in 90 Minuten Komplexität des Spiels und seiner Vorbereitung auf die Simplizität eines Zahlenverhältnisses reduziert wird. Und weil das Ergebnis, nachdem das Spiel zu Ende ist, schon wieder langweilig ist – eben wegen der numerischen Sterilität –, muss es weitergehen mit der nächsten dramaturgischen Öffnung. Das ist die Weisheit der herbergerschen Weisheit ‚Nach dem Spiel ist vor dem Spiel‘.“
Dies scheint eine auf den ersten Blick ernüchternde Erklärung zu sein. Letztlich aber kann sie gerade durch den Hinweis auf die funktionale Geschlossenheit, das Um-sich-selbst-Kreisen dieses soziologischen Phänomens den wahren Fußballfan rundum befriedigen, weil sie den Fußball damit zugleich für unersetzlich erklärt. Nichts kann an seine Stelle treten, nichts seine Funktion einnehmen, so der kräftige Zwischenruf aus Block L, weil diese Funktion nur innerhalb des speziellen Systems definiert ist.
(*) Für temporär (sprich vor allem zu WM- und EM-Zeiten) Fußballbegeisterte schlagen wir im Fremdwörter-Duden nach: „Catenaccio (aus gleichbed. it catenaccio „Sperrkette, Riegel“ ...): besondere Verteidigungstechnik im Fußballspiel, bei der sich bei einem gegnerischen Angriff die gesamte Mannschaft kettenartig vor dem eigenen Strafraum zusammenzieht.“
changeX 29.06.2010. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
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Autor
Dominik FehrmannDominik Fehrmann ist freier Journalist in Berlin. Er schreibt als freier Mitarbeiter für changeX.