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Alles so kontingent hier

Kontingenz, offene Zukunft, Luhmann und das Buch von Christian Geyer
Von Winfried Kretschmer

Zukunft ist offen. Das haben wir gelernt. Daran haben wir uns gewöhnt. Tun uns aber schwer damit, die Konsequenzen zu begreifen. Denn unser Hirn mag den Zufall nicht. Es ist auf Sinn und Zusammenhang geeicht. Es will ihm nicht recht einleuchten, was das heißt: Alles könnte auch anders sein. Kontingenz.

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Zukunft ist offen. Was sie bringt, ist nicht vorherbestimmt. Das haben wir gelernt. Doch entspricht diese Einsicht nicht dem, wie wir Menschen die Welt erfahren. 

Da ist einmal die Art und Weise, wie über Zukunft nachgedacht wird: Dies geschieht auch heute noch "in technischen, besser: technokratischen Kategorien", wie Sascha Mamczak notiert. Es geht darum, Zukunft zu planen, sie auf bestimmte Entwicklungspfade festzulegen, ja sie zu beherrschen. So beschäftigt sich die Zukunftsforschung genau besehen nicht mit der Zukunft, sie untersucht eigentlich die Gegenwart: "das heißt langfristige Gegenwartstrends, die entweder extrapoliert oder in unterschiedliche Szenarien aufgefächert werden", so Mamczak. Eine offene Zukunft ist das nicht. Eher ihre Ableitung aus der Gegenwart.  

Zum anderen ist da die Art und Weise, wie wir Vergangenheit erleben: als Ablauf von historischen Entwicklungsprozessen, die zusammengenommen ein stimmiges und in sich konsistentes Gesamtbild ergeben - unsere Geschichte, aus der wiederum unsere Zukunft zu erwachsen scheint. Diese Vorstellung nährt auch eine umsatzträchtige Forschungsrichtung, die sich damit beschäftigt, langfristige Entwicklungstrends, die von der Vergangenheit in die Gegenwart reichen, zu identifizieren und in die Zukunft zu verlängern: die Trendforschung. Gerade Trends lassen uns die Beziehung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als Kontinuum erleben, als durchgehende konsistente Entwicklungslinie.  

Nichts gegen Trends, Szenarien oder Extrapolationen - sofern man diese als das begreift, was sie sind: Konstrukte. Gedankliche Abstraktionen, die eine mögliche Zukunft beschreiben. Nur entspricht das nicht unserer intuitiven Wahrnehmung der Welt.


Die Kausalitätsmaschine


Die Zukunft ist offen, das gerät so zu einem auswendig gelernten Merksatz, schnell dahergesagt, oft aber weder wirklich verstanden noch intuitiv so empfunden. Die Zukunft ist offen, das mag uns für die Zukunft noch einleuchten. Genauer: von der Zukunft her gedacht. Aus der Perspektive der Gegenwart sieht es anders aus. Doch was bedeutet es für die Gegenwart? Und für unsere Vergangenheit?  

Dass die Zukunft offen sei, heißt zunächst, dass das, was kommt, nicht von dem Bestehenden determiniert ist. Es folgt nicht einer - bekannten oder nicht bekannten - Gesetzmäßigkeit aus dem, was ist. Es könnte auch anders sein. Sonst würde es ja auch keinen Sinn machen, von einer offenen Zukunft zu sprechen. Sonst wäre unsere Welt die gewaltige Kausalitätsmaschine, als die sie jahrhundertelang galt. Eine Maschine, in der ein Rad ins andere greift, in der alles von Gesetzmäßigkeiten determiniert ist. Zukunft wäre in einer solchen Welt nicht offen, sondern würde sich aus der Vergangenheit ergeben, als deren Verlängerung. Dass die Zukunft offen sei, heißt also, dass unsere Gegenwart (und mit ihr unsere Vergangenheit) nicht determiniert ist. Alles könnte anders sein. Es ist kontingent.  

Da liege es schon näher, anzunehmen, dass unser Gehirn diese Kausalitätsmaschine ist. Diese Annahme jedenfalls stützt eines der besten Bücher, die es zum Thema gibt: Daniel Kahnemans Schnelles Denken, langsames Denken. Unser Gehirn, so Kahneman, beantwortet gerne Fragen, die leichter sind als die, die ihm gestellt wurden, es versteht kaum etwas von Logik und Statistik, verwechselt gerne Plausibilität mit Wahrscheinlichkeit, erkennt leicht Muster, wo gar keine vorhanden sind, kann schlecht mit dem Zufall leben und sucht zwanghaft nach kausalen Zusammenhängen. Seine Sinngebungsmaschinerie lässt uns die Welt geordneter, einfacher, vorhersagbarer und kohärenter sehen, als sie es tatsächlich ist: "Die Illusion, man habe die Vergangenheit verstanden, nährt die weitere Illusion, man könne die Zukunft vorhersagen und kontrollieren."  

Zudem liebt unser Gehirn gute Geschichten; kognitive Leichtigkeit und Kohärenz überzeugen es mehr als wissenschaftliche Kriterien. "Wenn uns die Geschichte, die wir uns selbst erzählen, mühelos einfällt, widerspruchsfrei daherkommt und kein konkurrierendes Szenario vorhanden ist", dann lassen wir uns schnell überzeugen, dass sie stimmt. Es ist somit klar, dass uns das nicht schmeckt, wenn vieles in unserem Leben, auf der Welt, vom Zufall bestimmt sein soll. Das ist keine Geschichte, die uns gefällt. Da stricken wir lieber an einer Geschichte, in der alles konsistent zusammenpasst.


Wenn alles auch anders sein könnte


Dass unser Hirn so gestrickt ist, ist auch der Grund dafür, dass wir uns (viele jedenfalls) mit dem Begriff so schwertun, der oben bereits angeklungen ist: Kontingenz. "Kontingent? Habe ich noch nie verstanden", hört man da schon mal. Es will einfach nicht rein in den Kopf, dieses Wort.  

Da kann ein kleines Büchlein helfen, das im vergangenen Herbst erschienen ist. Darin geht es eigentlich gar nicht so sehr um diesen Begriff und auch nicht um Zukunft. Im Mittelpunkt steht die Wiederveröffentlichung eines Klassikers der soziologischen Literatur, dem ein Essay zur Seite gestellt ist, der den Bezug zur Gegenwart herstellt: Es geht um Niklas Luhmanns bislang nur noch bibliothekarisch zugänglichen Aufsatz "Die Knappheit der Zeit und die Vordringlichkeit des Befristeten" aus dem Jahr 1971, den der Feuilletonredakteur der FAZ Christian Geyer in der zweiten Hälfte des Bändchens neu interpretiert - und zwar nicht vor dem Hintergrund der Debatte "Beschleunigung - Entschleunigung", sondern im Kontext des für Luhmann zentralen Kontingenzproblems: Kontingenz im Sinne eines "Auch-anders-möglich-Seins" wird hier "als zentrale Frage des spätmodernen Lebensgefühls weitergedacht", wie der Verleger Wolfram Burckhardt formuliert: "Wie kann es gelingen, in der Vielfalt der Optionen jemand Bestimmter zu sein?" Wie bestimmt man sein Leben, wenn alles auch anders sein könnte?  

Luhmann beschreibt in seinem Aufsatz auch eine vergangene Arbeitswelt, in der "Eilt sehr"-Mappen um Aufmerksamkeit heischen und Telefonistinnen die gewünschten Verbindungen herstellen, seine Diagnose aber hat Bestand, ja muss sogar als sehr hellsichtige Analyse der Probleme gelten, mit denen sich heute tausendfach mehr Menschen herumschlagen als zu der Zeit, als der Text entstand: "Aus der knappen Entscheidungszeit ergibt sich zum Beispiel eine Bevorzugung des schon Bekannten, der eingefahrenen Denkbahnen, eine Bevorzugung der Informationen, die man hat, vor denen, die man erst suchen muß, eine Bevorzugung der Kommunikationspartner, mit denen man sich rasch verständigen kann, vor solchen, mit denen zeitraubende Verhandlungen erforderlich wären - alles in allem eine Tendenz zur Entscheidung aus dem Inneren des Systems heraus." 

Luhmann geht es indessen nicht um eine vordergründige Kritik an wachsender Beschleunigung. Die Zusammenhänge sind differenzierter. Die wachsende Komplexität fortgeschrittener Gesellschaften ist für ihn eine Folge ihrer wachsenden funktionalen Differenzierung. Neue Teilbereiche entstehen, die, um sich mit anderen Teilbereichen zu koordinieren, Ansprüche an deren Zeitbudget stellen und damit deren Zeitpläne verzerren. "Dadurch wird Zeit knapp." Termine und Fristen sind nun aber, bei allen von Luhmann treffend beschriebenen Folgewirkungen, nicht eine Geißel der modernen Gesellschaft, sondern Mittel der Kontingenzbewältigung. Termine und Fristen schränken den Raum des Möglichen ein. Wer einen Telefontermin vorschlägt, bringt damit zum Ausdruck: Ruf mich nicht irgendwann an (wenn es dir gerade möglich ist), sondern zu dem Zeitpunkt, auf den wir uns verständigen.


Sein Leben fristen


Kontingenz im Sinne eines Auch-anders-möglich-Seins (Luhmann) wird bei Geyer nun zum zentralen Charakteristikum des Lebensgefühls unserer Zeit. In einer multioptionalen Welt, einer Welt überbordender Gelegenheiten, sind die nicht ergriffenen Möglichkeiten immer auch mit präsent. Für was immer man sich entschieden hat, stets schwingt mit, wofür man sich hätte auch entscheiden können. "Hätte" wird zur Obsession des spätmodernen Charakters: "Neben der eigenen Biografie sieht er zwei, drei, viele andere Leben, die er auch hätte leben können."  

Ausführlich analysiert Geyer das "psychische Ungetüm" des entgrenzten Menschen und liefert zugleich eine schöne Beschreibung von Kontingenz als Lebensgefühl. Entgrenzt heißt ja nicht, dass alle Grenzen sich aufgelöst hätten. Sie haben nur ihren Charakter geändert; sie sind beliebig, aber nicht zwangsläufig. "Sie sind kontingent, das heißt, sie könnten auch anders verlaufen oder gar nicht existieren. Sie bleiben eine Möglichkeit unter vielen und damit in all ihrer Bestimmtheit seltsam unbestimmt." Natürlich zitiert Geyer auch Luhmanns zentrale Definition von Kontingenz: "Kontingent ist etwas, was weder notwendig ist noch unmöglich ist; was also so, wie es ist (war, sein wird), sein kann, aber auch anders möglich ist." Subjektiv gewendet heißt das, so Geyer: "Ich befinde mich also in einer Situation, die von dem Bewusstsein geprägt ist, dass sie auch hätte anders ausfallen können."  

Dieses Bewusstsein ist das Pendant gewachsener Komplexität. Steigt die Komplexität, bedeutet das, dass die Handlungsoptionen in einer Gesellschaft zunehmen - die Spielräume wachsen, dasselbe anders zu machen. Und das wiederum bedingt eine Zunahme von Kontingenzerfahrungen. Komplexität und Kontingenz wiederum sind die Begleiterscheinungen einer offenen Zukunft. Einer Zukunft, die mehr Möglichkeiten bietet, als man ergreifen kann. Einer Zukunft, die sich nur in einer offenen Gesellschaft bietet: einer Gesellschaft, die (systemtheoretisch) Ausdifferenzierung wie Komplexität zulässt und (normativ) Freiheit als Leitwert hochhält.


Die Entdeckung der Gestaltbarkeit von Gesellschaft


Eine offene Zukunft, eine offene Gesellschaft, Komplexität, Kontingenz und Freiheit sind so gesehen nur unterschiedliche Facetten desselben Phänomens. "Komplexität gibt es nicht ohne Kontingenz", hat dies Brigitte Witzer im Interview mit changeX formuliert und zugleich die Brücke zur Emergenz geschlagen: der Herausbildung von neuen Eigenschaften oder Strukturen eines Systems infolge des (freien) Zusammenspiels seiner Elemente. Neue Eigenschaften eröffnen wiederum neue Möglichkeiten - und Möglichkeiten lassen sich gestalten. Das unterscheidet sie von Bedingungen, die determiniert sind. Die Voraussetzung ist: Freiheit. Freiheit als die Bereitschaft, Komplexität (und damit Diversität) zuzulassen.  

Mit einer offenen Zukunft gestaltend umzugehen, setzt aber mehr voraus, verlangt einen weiteren Schritt: die "Entdeckung der Gestaltbarkeit von Gesellschaft", wie es die Sozialwissenschaftler Adalbert Evers und Helga Nowotny 1987 umschrieben haben. Was heute wie eine Selbstverständlichkeit klingt, war es damals nicht. Jahrzehntelang dominierten Theorien, die den "determinierenden Einfluss von sozialen oder politischen Strukturen auf unser Verhalten, Denken oder Sprechen" betonten; es war die Welt des Homo sociologicus, des Homo oeconomicus, des Homo technologicus.  

In den 1980er-Jahren kündigte sich eine Umkehr der Perspektive an: Die Konstruktion gesellschaftlicher Wirklichkeit rückte in den Vordergrund. Und der Fokus richtete sich auf die Praxis der Menschen statt auf die Strukturen. Die Entdeckung sozialer Innovation und das Auftreten sozialer Entrepreneure lenkten den Blick schließlich auf die Gestaltungsmacht des Einzelnen und die Möglichkeiten seiner Einflussnahme - und dieser Prozess ist längst nicht abgeschlossen. Die Einfach-nur-machen-Haltung ist ihr jüngster Ausdruck. Es ist eine Haltung, die die Welt als kontingent begreift: als gestaltbar, von jedem Einzelnen.  

Man könnte sagen: Mit unserer offenen Zukunft sind wir also längst noch nicht am Ende.  


Zitate


"Im Zeitalter großer Organisationen ist Zeit knapp geworden. Zeitdruck ist eine verbreitete Erscheinung. Der Blick auf die Uhr und der Griff zum Terminkalender in der Tasche sind Routinebewegungen geworden. Die Verabredungsschwierigkeiten treiben die Telefonkosten in die Höhe. Schlichte rote Mappen (mit längst nicht mehr eiligem Inhalt), Eilt-Mappen, Eilt-sehr-Mappen bevölkern den Schreibtisch und seine Umgebung. Einige drängen sich durch ihre Lage mitten auf dem Schreibtisch und durch einen besonderen Zettel ,Terminsache!‘ vor im Wettbewerb um Aufmerksamkeit. Die Orientierung an Fristen und fristbedingten Vordringlichkeiten bestimmt den Rhythmus der Arbeit und die Wahl ihrer Thematik." So beginnt Niklas Luhmanns Essay "Die Knappheit der Zeit und die Vordringlichkeit des Befristeten".

"Ich befinde mich also in einer Situation, die von dem Bewusstsein geprägt ist, dass sie auch hätte anders ausfallen können." Christian Geyer: Niklas Luhmann. Die Knappheit der Zeit und die Vordringlichkeit des Befristeten

"Die Illusion, man habe die Vergangenheit verstanden, nährt die weitere Illusion, man könne die Zukunft vorhersagen und kontrollieren." Daniel Kahneman: Schnelles Denken, langsames Denken

 

changeX 10.07.2014. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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Zu den Büchern

: Niklas Luhmann. Die Knappheit der Zeit und die Vordringlichkeit des Befristeten. Kulturverlag Kadmos, Berlin 2013, 160 Seiten, 19.99 Euro, ISBN 978-3-86599-120-1

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: Schnelles Denken, langsames Denken. Siedler Verlag, München 2012, 624 Seiten, 26.99 Euro, ISBN 978-3-88680-886-1

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Autor

Winfried Kretschmer
Kretschmer

Winfried Kretschmer ist Chefredakteur und Geschäftsführer von changeX.

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