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Nichts mehr aus einem Guss

Die letzte Stunde der Wahrheit - Armin Nassehis grundlegendes Werk über Komplexität
Rezension: Winfried Kretschmer

Komplexität ist längst zu einem Allerweltsbegriff geworden. Eine Bezeichnung für alles, was uns irgendwie zu schwierig, nicht recht durchschaubar, zu unübersichtlich und gewissermaßen unentrinnbar erscheint. Dabei kann der Begriff Komplexität helfen, unsere eigene Situation wie die unserer Gesellschaft besser zu verstehen. In der komplexen, modernen Gesellschaft ist Intelligenz verteilt. Aber nichts ist mehr aus einem Guss.

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Vor knapp zwei Jahren ist ein Buch erschienen, das auf eindringliche Weise illustriert, wie wir Menschen unsere Welt verändern. Großformatiger Text, eindringliche Bilder, aussagekräftige Grafiken, in gut einer Stunde zu lesen. Es schaffte den Sprung auf die Spiegel-Bestsellerliste und liegt seit Anfang des Jahres in einer Taschenbuchausgabe vor: Stephen Emmotts Zehn Milliarden. Emmott beschreibt darin das dramatische Wachstum, das die Menschheitsentwicklung prägt, und unterlegt dies mit einer Reihe großformatiger Grafiken, beginnend mit einem Diagramm über das Wachstum der Weltbevölkerung. Dieses zeigt einen Graphen, der sich über Tausende von Jahren kaum von der Grundlinie abhebt und erst in den letzten 200 Jahren sprunghaft und annähernd senkrecht nach oben schießt. Das Buch enthält noch andere Diagramme, "deren Charme darin besteht, dass sie alle gleich aussehen", schreibt der Soziologe Armin Nassehi. "Sie folgen demselben Muster: Auf einen langsamen, unmerklichen Anstieg folgt eine sprunghafte Steigerung." 

Nassehi hätte Emmotts Diagrammen nun ein weiteres hinzufügen können, um den zentralen Gegenstand seines Buches zu illustrieren: Komplexität. Diese ist in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit wohl ähnlich stark gewachsen wie die anderen Messgrößen, auf die Emmott sich bezieht: Kohlendioxidemissionen, Temperaturanstieg, Kohlenverbrauch, Straßenverkehr und so weiter. Doch das wäre, nun, unterkomplex. Denn Nassehi geht es in seinem Buch um mehr, als diesen Parametern einfach einen weiteren hinzuzufügen: um nichts Geringeres, als das Strukturprinzip moderner Gesellschaften zu entschlüsseln. "Dass die Entwicklungsdiagramme fast aller Messgrößen identisch sind, ist ein Hinweis darauf, dass Wachstum nicht einfach das Ergebnis einer kontingenten politischen oder ökonomischen Entscheidung ist, sondern letztlich der optionssteigernden Struktur einer modernen Gesellschaft eingeschrieben ist." Die eigenartige Ästhetik exponentieller Wachstumskurven verdankt sich einer strukturellen, revolutionären Veränderung: Komplexität. Das bedeutet hier, dass es eben keine "Stoppregel", kein Halten mehr gibt.


Kein Anschluss unter diesem Thema


Komplexität also ist das zentrale Thema von Nassehis neuem Buch, obgleich die Titelgebung anderes vermuten lässt. Die letzte Stunde der Wahrheit mit dem Untertitel Warum rechts und links keine Alternativen mehr sind und Gesellschaft ganz anders beschrieben werden muss, das lässt mehr auf eine Zeitdiagnose zum Ende der Ideologien und deren Wahrheitsanspruch schließen, zum Ende auch der großen Antagonismen, die für so lange Zeit die gesellschaftlichen Diskurse bestimmten. Klar, darum geht es auch in diesem Buch, aber diese Themen liefern nur die Oberflächenstruktur, gewissermaßen die gesellschaftliche Erzählung, an die Nassehi anzuschließen sucht. Aber es geht wie gesagt um mehr, und es geht tiefer. Es geht vor allem um die Schwierigkeit, das zu tun: anzuschließen.  

"Anschluss" ist einer der zentralen Begriffe im Buch. Und "anschlussfähig", bisweilen unverstanden, ist ein Lieblingswort von Soziologen. Dabei meint es eigentlich etwas ganz Einfaches: die Möglichkeit, eine Kommunikation aufzunehmen und fortführen zu können. Das führt zur zentralen Argumentationsfigur des Buches, die sich wie ein roter Faden durch die Seiten zieht: Komplexität ist nicht anschlussfähig. Es gibt keine gesellschaftliche Erzählung, an die sie thematisch anknüpfen könnte, keine Bilder und Motive, derer sie sich bedienen könnte. Es stehen "keine anschlussfähigen Beschreibungstraditionen zur Verfügung", so Nassehi. Weil die gesellschaftliche Wirklichkeit sich grundlegend gewandelt hat.  

Das ist die zentrale These, das Leitthema. Umgekehrt bedeutet das, dass die anschlussfähigen öffentlichkeitswirksamen Diagnosen, die sich eingeführter und anerkannter Beobachtungsmuster bedienen und daraus ihren Wahrheitsanspruch ableiten, diesen Komplexitätssprung nicht in den Blick bekommen. Für diese Diagnosen von rechts wie von links ist Komplexität ein blinder Fleck. Mehr noch: Die den Diskurs prägenden Beschreibungen scheinen geradezu den Zweck zu haben, "die erhebliche Komplexität und Unübersichtlichkeit, die Perspektivendifferenz und Widersprüchlichkeit der modernen Gesellschaft zu negieren oder zu ignorieren". Eine starke These, die leicht auf den Autor zurückfallen kann, wenn der nicht stark nachlegt. Wie aber schreibt man über etwas, das außerhalb der etablierten Beschreibungstraditionen liegt?


Wenn Logiken und Funktionssysteme auseinandertreten


Diese Beobachtung kann auch erklären, warum es so schwer ist, über Komplexität zu sprechen. Denn jeder Versuch, das zu tun, landet zugleich auf der Sachebene. Ist die Komplexität nun gestiegen oder nicht? Woran lässt sich das eine oder andere festmachen? War der Beschleunigungsfaktor bei der Umstellung von Brief auf Telegraf nicht um ein Mehrfaches größer als bei der von Fax auf E-Mail? Und litten nicht die Menschen vor einem Jahrhundert schon unter Neurasthenie, so wie heute unter Burnout? Ist andererseits nicht die sprunghaft gewachsene Informationsmenge ein untrügliches Zeichen für gestiegene Komplexität?  

Auf solche Diskussionen will sich Nassehi gar nicht einlassen. Braucht er auch nicht. Als Soziologe verfügt er über sicheren theoretischen Boden, auf dem er seine Überlegungen ausbreiten kann: die Theorie funktionaler Differenzierung. Dass soziale Systeme, die sich funktional differenzieren, deren Logiken und Funktionssysteme also auseinandertreten, ein Mehr an Komplexität hervorbringen, ist soziologisch eine Binsenweisheit. Freilich ist es ein wenig schade, dass der Autor diesen zentralen Gedanken nicht an konkreten Beispielen ausbuchstabiert, aber sein Anliegen, sein Anspruch ist die Gesellschaftstheorie. Es ist also durchaus anspruchsvoller Lesestoff, den Nassehi hier ausbreitet, aber das mit der Gesellschaftstheorie klingt schlimmer, als es ist. Die Gesellschaftstheorie hat bei Nassehi ihren Schrecken verloren. Deutlich wird: Ihr Schrecken war, dass sie der Gesellschaft Erklärungsmodelle überzustülpen suchte, die deren Komplexität nicht angemessen waren: einfache Dichotomien, Widersprüche und Antagonismen, deren Simplizität nur dadurch überspielt werden konnte, dass sie faktenreich unterfüttert und mit dogmatischem Welterklärungsanspruch ausgestattet wurden. Gesellschaft von ihrer Komplexität her zu denken, bietet eine frische Perspektive ohne den schalen Beigeschmack der alten Theorieangebote.


Komplexität heißt also: Nichts ist mehr aus einem Guss


Was heißt nun vor diesem Hintergrund Komplexität? Oder anders gefragt: Wie kann ein soziologisch fundierter, für die Beschreibung von Gesellschaft tragfähiger Komplexitätsbegriff aussehen? Nassehis Arbeitsdefinition erinnert noch recht stark an die an Systemtheorie und Kybernetik angelehnte Standarddefinition: "Komplex ist eine Situation dann, wenn sie mehrere andere Zustände annehmen kann, das heißt, wenn es zwischen einem Ereignis A und einem Ereignis B keine notwendige oder eineindeutige Beziehung geben muss." Für die Gesellschaft bedeutet das: In ihr bilden sich unterschiedliche Bereiche heraus, "die die Welt mit ihrer je eigenen Logik, mit einem je eigenen Blick wahrnehmen und sich darin bewegen". Damit wird es schwierig bis unmöglich, sich eine gemeinsame Welt für alle vorzustellen und Gesellschaft einheitlich zu beschreiben.  

Nassehi bemüht sich sehr, diesen grundlegenden Sachverhalt verständlich (anschlussfähig) zu machen, und bietet unterschiedliche Formulierungen an. Komplexität bedeutet, "dass dasselbe bei unterschiedlichen Adressaten eben je Unterschiedliches bedeuten kann", "dass an denselben Sachverhalt unterschiedlich angeschlossen werden kann", "dass etwas unterschiedliche Zustände annehmen kann, und das nicht einmal nacheinander, sondern gleichzeitig" oder allgemeiner gesagt, "dass wir nicht mehr in einem sinnvoll geordneten Kosmos leben, in dem jeder und alles weiß, wo er, sie oder es hingehört", kurzum: Komplexität heißt also: Nichts ist mehr aus einem Guss.  

Das ist nun nichts Schlimmes, auch keine Form von Krankheit, sondern - im Gegenteil - Erfolgsbedingung der modernen Gesellschaft: Indem sie auf eine zentrale Instanz verzichtet, indem sie es zulässt, dass sich unterschiedliche Logiken etablieren, die eigensinnig und unabhängig voneinander funktionieren, macht sie ihre eigene Komplexität möglich und bearbeitbar. Genau darum geht es auch, wenn in einer der letzten gesellschaftlichen Institutionen, die noch auf eine hierarchische, direktive Form der Binnenorganisation setzen, den Unternehmen, auf breiter Ebene eine Reformdiskussion in Gang kommt: eine Organisationsform zu finden, die Komplexität bearbeitbar macht. Nassehi spricht dann auch von "verteilter Intelligenz", um die unterschiedlichen Logiken, die jeweils unterschiedliche Problemlösungsperspektiven anbieten, zu beschreiben.


It’s the society, stupid!


Klar ist aber auch, dass dieser Zustand aus der Tiefe der Gesellschaft als krisenhaft erlebt werden kann. Denn je mehr sich die einzelnen Logiken und Intelligenzen auf sich selber beziehen, desto unwahrscheinlicher wird ihre Koordination. An dieser Stelle wird dann auch deutlich, in welchem Maße linke wie rechte Diskurspositionen die Komplexität und Eigendynamik einer modernen Gesellschaft unterschätzen. Eine der gesellschaftlichen Komplexität angemessene Form der Kritik muss akzeptieren, dass es eine gesellschaftliche Zentralperspektive nicht mehr gibt. Sie muss gesellschaftliche Konflikte als Übersetzungskonflikte in den Blick bekommen, fordert der Autor. Denn darum geht es heute ganz entscheidend: um eine Übersetzung von der einen Logik in eine andere.  

Nicht zuletzt stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von Wirtschaft und Gesellschaft neu. Man könne die ungeheure Dynamik der Ökonomie nur verstehen, so Nassehi, "wenn man nicht die Gesellschaft von der Struktur ihrer Ökonomie her erklärt, sondern umgekehrt: die ökonomische Dynamik von der gesellschaftlichen Komplexität her". Die Ökonomie bilde geradezu eine Metapher für die Komplexität der Gesellschaft. Es gelte also, die berühmte Formel aus dem Clinton-Wahlkampf 1992 "It’s the economy, stupid!" zu wenden. Das neue Motto lautet, so Nassehi: "It’s the society, stupid!"  

Fazit: Wer Komplexität verstehen will, muss Nassehi lesen. Nach diesem Buch muss man über Gesellschaft anders reden.  


Zitate


"Die Koordination der unterschiedlichen Logiken und Intelligenzen wird immer unwahrscheinlicher, je mehr sie sich auf sich selbst beziehen. Das macht die Gesellschaft tatsächlich unbeschreibbar." Armin Nassehi: Die letzte Stunde der Wahrheit

"Komplexität - das ist bisweilen ein Allerweltsbegriff für alles, was uns irgendwie zu schwierig, zu unübersichtlich, gewissermaßen unentrinnbar erscheint." Armin Nassehi: Die letzte Stunde der Wahrheit

"Komplexität - das ist manchmal auch eine Kapitulation davor, genauer hinzusehen." Armin Nassehi: Die letzte Stunde der Wahrheit

"Komplex ist eine Situation dann, wenn sie mehrere andere Zustände annehmen kann, das heißt, wenn es zwischen einem Ereignis A und einem Ereignis B keine notwendige oder eineindeutige Beziehung geben muss." Armin Nassehi: Die letzte Stunde der Wahrheit

"Das Grundproblem ist, dass niemand in einer komplexen Gesellschaft sich in einfachen Handlungssituationen befindet." Armin Nassehi: Die letzte Stunde der Wahrheit

 

changeX 13.03.2015. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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Zum Buch

: Die letzte Stunde der Wahrheit. Warum rechts und links keine Alternativen mehr sind und Gesellschaft ganz anders beschrieben werden muss. Murmann Publishers, Hamburg 2015, 344 Seiten, 20 Euro, ISBN 978-3-86774-377-8

Die letzte Stunde der Wahrheit

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Autor

Winfried Kretschmer
Kretschmer

Winfried Kretschmer ist Chefredakteur und Geschäftsführer von changeX.

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