Fliegende Potenziale

Schmetterlingseffekte - die Bildungsbiografie von Peter Spiegel
Rezension: Sascha Hellmann

Wie wird jemand mit einer Redeschwäche zum Redner? Mit einer Schreibschwäche zum Autor? Und wie aus einem potenziellen Bildungsversager ein anerkannter Bildungsreformer? Antworten gibt eine sehr persönliche Bildungsbiografie. Die zugleich Wege zu einer besseren Bildung aufzeigt.

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Der Reiz der Raupe liegt in ihrer Metamorphose. Zunächst ein wurmförmiges, eher unschönes und der Erde verhaftetes Ding, schwingt sie sich nach ihrer Transformation als wunderschöner Falter in die Lüfte. Und seine Grazilität, Eleganz ist sprichwörtlich. Kein Wunder, dass so mancher in Vergleichen metaphorischen Anschluss an den Schmetterling gesucht hat. So auch Peter Spiegel in seinem neuen Buch Schmetterlingseffekte. Meine verrückte Bildungsbiografie: "Wie in jeder Raupe ein einzigartiger Schmetterling steckt, so steckt in jedem Kind und in jedem Menschen ein einzigartiges Entfaltungspotenzial. Keine noch so genaue Beobachtung und gerechte Beurteilung kann dies wirklich erfassen", schreibt der Autor, dessen Potenzial in der klassischen Schullaufbahn ebenfalls nicht er-, sondern verkannt wurde. So entwickelte er sich vom potenziellen Schulversager mit einer Lese-, Schreib-, Rede- und Kontaktschwäche zum anerkannten Bildungsreformer - und ganz nebenbei zum Autor, Redner, Vordenker und Netzwerker. Was keiner für möglich gehalten hätte.  

Kurz umrissen ist das die verrückte Biografie, die Spiegel in seinem Buch offenlegt. Allerdings geschieht dies nicht zum Selbstzweck: Anhand seines Lebens dokumentiert er die aus seiner Sicht fundamentalen Verfehlungen des bestehenden Schulsystems und illustriert seine alternative Vision einer besseren Bildung. Besonders konstruktiv ist, dass das Buch nicht zu einem reinen Rundumschlag oder einer gereizten Generalanklage geraten ist, sondern zu einem klaren und optimistisch stimmenden Fingerzeig, wie es einfach besser laufen könnte. Der Autor zeigt einfach, dass wir alle auf einem unerschöpflichen Potenzial sitzen - und uns deshalb zu "Potenzialentfaltern" unserer selbst und zu "Potenzialentfaltungsbegleitern" all derjenigen aufschwingen sollten, die uns anvertraut sind. Das ist ihm mehr als gelungen. Und natürlich hat er selbst diesen Weg erfolgreich beschritten: "Wie ein Schmetterling habe ich mich aus der Enge meines Kokons befreit. Meine Potenziale begannen plötzlich zu fliegen."


Sei dein eigener Lebensinterpret


Jeder, der die Schulbank gedrückt hat und von der Schule fast erdrückt worden wäre, wird das Buch als ein Befreiungsbuch lesen. Es öffnet die Augen dafür, was alles möglich ist. Wie viel in einem noch schlummern könnte und nur geweckt werden müsste. Natürlich läge es nahe, bekümmert zurückzublicken. Aber der Autor blickt nach vorne - und hält Ausschau nach all den Momenten, die Potenziale zur Entfaltung bringen. Diese nennt er "Schmetterlingseffekte". Einer dieser Effekte ist die schlichte Begeisterung für etwas, die natürliche Neugier, mit der wir geboren sind. Die aber oftmals in der Schule ihr jähes Ende findet. Denn dort steht nicht Entdeckerfreude auf dem Lehrplan, dort werden nicht Irrtümer als Lernschritte begrüßt, sondern wird Fehlervermeidung propagiert. Zu guter Letzt mutiert dort jeder zum Wiederkäuer von Wissen - und der Geschmack ist fahl.  

Dass Spiegel dennoch seine Potenziale gehoben hat, verdankt er sich selbst, indem er immer wieder diese ursprüngliche Begeisterung aktiviert hat. Indem er sich negativen Zuschreibungen zum Trotz in Fächern bewährt hat, in denen ihm schon von Lehrerseite kein Fortkommen bescheinigt wurde. "Überall dort, wo ich mich nicht in die Interpretationen meiner wichtigen Lebensinterpreten in meiner Umgebung fügte, ereignete sich Erstaunliches." Natürlich ist seine Unabhängigkeit, seine Rebellion selbst erstaunlich. Aber sie macht auch Mut.


Lernen lernen


In seiner Berufung als Bildungsreformer trägt Spiegel diese Rebellion weiter. Sein letztes Projekt ist die Bildungsplattform bildungsstifter.de. Doch so vielfältig seine Projekte oder Initiativen auch sind, die Inhalte zielen in die gleiche Richtung: Es geht einfach um bessere Bildung! Dass das nicht einfach ist, leuchtet unmittelbar ein. Denn die, die an den Schaltstellen sitzen, haben auch das zur Disposition stehende Modell durchlaufen, sind also infiziert. Mit dem Wandel dürfte es also noch etwas dauern.  

Dabei sind die alternativen Ansätze mehr als überzeugend. Grundlegend ist beispielsweise der Einwand, dass es in den heutigen Schulen nur ums Köpfchen geht - dabei sind wir doch so viel mehr. Und bedürfen so viel mehr zu einem gelingenden Leben. Spiegel: "Die Überbewertung kognitiver Hochleistungen und die gleichzeitige Unterbewertung vieler anderer Kompetenzen, die zusammengenommen einen Menschen erst zu einer wirklich verantwortungsvollen und kreativen Persönlichkeit machen, sehe ich als einen der Hauptgründe für die problematische Entwicklung unseres Bildungssystems." Innerhalb der kognitiven Sphäre verordnet der Autor mehr Vielfalt: nicht nur einen Weg für alle Köpfe. Sondern viele Wege, für jeden Kopf den oder die richtigen! Fundamental ist auch die Einstellung, dass das Lernen selbst einen Wert darstellt. Und angesichts des selbst von unterschiedlichen Lagern einstimmig ausgerufenen lebenslangen Lernens ist das zudem nur konsequent.


Zum Lebensunternehmer werden


Wie könnten wir denn besser lernen? Zum Beispiel "selbstverantwortet": Der Schüler entdeckt seinen eigenen Weg, entscheidet, in was er wie tief einsteigen möchte. Und der Lehrer wird zum "Lerncoach": Er begleitet den Schüler, hilft ihm, zeigt Neues auf. Der Frontalunterricht hat damit nicht ausgedient. Er ist allerdings nur eine Option unter vielen. Und Prüfungen ablegen kann der Schüler auch. Oder "Lernen durch Lehren": Niemand lernt besser als derjenige, der anderen etwas vermittelt. Praktisch umgesetzt hieße das, dass Schüler ihr Wissen an Mitschüler weitergeben. Und die Erfahrungen sprechen für sich.  

Natürlich gehen Spiegels Visionen über diese beiden hier nur exemplarisch genannten Lernalternativen weit hinaus. Deshalb lohnt auch die neugierige Lektüre. Und sein anvisiertes Ziel einer besseren Bildung spricht unzweifelhaft für sich. Aus diesem Grund hat der Autor hier auch das letzte Wort: "In meinen Publikationen spreche ich vom ‚Lebensunternehmer‘ als neuem zeitgemäßen und zukunftstauglichen Bildungsziel. Als Lebensunternehmer bin ich in der Lage, mein Leben so selbständig wie möglich in die Hand zu nehmen, einschließlich meiner eigenen Bildungsbiografieplanung." 


Zitate


"Die Überbewertung kognitiver Hochleistungen und die gleichzeitige Unterbewertung vieler anderer Kompetenzen, die zusammengenommen einen Menschen erst zu einer wirklich verantwortungsvollen und kreativen Persönlichkeit machen, sehe ich als einen der Hauptgründe für die problematische Entwicklung unseres Bildungssystems." Peter Spiegel: Schmetterlingseffekte

 

changeX 07.11.2013. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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Zum Buch

: Schmetterlingseffekte. Meine verrückte Bildungsbiografie. Murmann Verlag, Hamburg 2013, 184 Seiten, 16 Euro, ISBN 978-3-86774-289-4

Schmetterlingseffekte

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Autor

Sascha Hellmann
Hellmann

Sascha Hellmann ist freier Journalist in Heidelberg. Er arbeitet als freier Mitarbeiter für changeX.

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