Harte Arbeit an uns selbst
Mentale Modelle prägen unsere Weltsicht. Es sind stabile Denkmuster, die unserem Denken einen Rahmen geben, es lenken und ihm Sichtweisen, Faustregeln und Heuristiken vorgeben. Dumm nur, wenn die Welt sich ändert, die Modelle aber gleich bleiben. Dann ist ein Musterwechsel gefragt. Ein Buch stellt hundert solcher mentalen Modelle vor, zeigt Alternativen dazu auf und gibt Coaching-Tipps, wie sie sich verändern lassen. Fraglich ist freilich, ob das tatsächlich so einfach möglich ist. Denn mentale Modelle sind stabil und veränderungsresistent. Es ist harte Arbeit, sie zu knacken. Harte Arbeit an uns selbst.
Unser Gehirn hätte viel zu tun, würde es in der Wahrnehmung der Welt stets alle verfügbaren Informationen mit einbeziehen und die Sachlage von Grund auf neu durchdenken. Es wäre schlicht überfordert mit der Menge an Informationen und ihrer ständigen Aktualisierung. Tatsächlich arbeitet unser Gehirn auch anders. Statt immer von Neuem zu beginnen, wendet es erlernte Regeln auf neue Wahrnehmungen und Entscheidungsfragen an: Faustregeln, Heuristiken, Denkmodelle. Solche mentalen Modelle sind es, die unsere Entscheidungen bestimmen. Mehr noch, sie prägen und strukturieren unsere Wahrnehmung der Welt, unsere Weltsicht.
Dumm nur, wenn die Welt sich ändert, die Modelle aber gleich bleiben. Das ist der Ausgangspunkt des jüngsten Buches von Svenja Hofert, Coachin und Autorin, die sich als Mindshift-Expertin positioniert, spezialisiert also auf Wendungen im Denken. Hundert mentale Modelle hat Hofert zusammengetragen, alles Denkmuster, die dem Alten verpflichtet sind und das Neue behindern. "Denkkrücken" nennt die Autorin solche hinderlich gewordenen Modelle: Krücken, die es wegzuwerfen gelte. Denn viele "passen nicht mehr in die komplexe und unlogische Welt, in die wir längst eingetreten sind".
Die Begriffe mentale Modelle und Denkmuster verwendet Hofert dabei gleichbedeutend. "Mentale Modelle sind deduktive Schlussfolgerungen", so die Autorin. Sie "fassen Einzelphänomene so zusammen, dass sie möglichst wirklichkeitsgetreue Verallgemeinerungen sind". Gewissermaßen stellen mentale Modelle einen Rahmen für Problemlösungen bereit, "legen Sichtweisen nahe, geben uns Ratschläge oder beinhalten kleine hirngerechte Anleitungen". Sie können sowohl der Praxis entstammen wie der Wissenschaft und treten in vielfältigen Formen auf. Die Autorin unterscheidet individuelle, theoriebasierte und kollektive mentale Modelle, wobei Letztere wiederum wissensbezogen, kulturell oder organisationsbezogen sein können. Ein weites Feld also.
Denken, glauben, hoffen - mentale Modelle
Hier eine kleine Auswahl der im Buch vorgestellten mentalen Modelle in zufälliger Reihenfolge und stark komprimierter Form: Die Suche nach einfachen Erklärungen. Die Fortschreibung der Gegenwart in die Zukunft. Ein linearer Zeitbegriff. Der Glaube, Zahlen seien sachlich, objektiv und rational. Die Annahme, Komplexität reduzieren zu können. Der Glaube an Planbarkeit und stringente Zielerreichung. Das Denken in Kriterien von Effizienz und Effektivität. Zu sehr auf Individuen zu schauen statt auf Systeme. Zu denken, Karriere lasse sich planen. Zu glauben, uns leite der Verstand oder die Erfahrung. Auch falsche Korrelationen gehören dazu, also Korrelationen herzustellen, wo es keine gibt. Ebenso deterministische Denkmodelle wie der Glaube an Schicksal oder Vorherbestimmung. Und nicht zuletzt: Während wir Individuen pauschal Rationalität zuschreiben, glauben wir ebenso pauschal, in Kollektiven und Gruppen wirke das Irrationale.
Wie dieser kurze Überblick schon zeigt, sind hier ganz unterschiedliche Formen und Ausprägungen unter dem Begriff des mentalen Modells zusammengefasst. In der Tat ist der Begriff im Buch nicht besonders präzise definiert und nur wenig trennscharf von benachbarten Begriffen und Konzepten wie Glaubenssätzen, Grundannahmen oder auch kognitiven Verzerrungen abgegrenzt. Er bleibt recht allgemein und wird disziplinübergreifend verstanden. Ein eher offener Begriff also statt einer scharfen Definition.
Dennoch ist Hoferts Entwurf vergleichsweise strukturiert. Wer im Internet nachrecherchiert, stößt schnell auf Seiten, die alles Mögliche an menschlichem Verhalten als mentales Modell begreifen - von Anpassung und Vertrauen über Neid und Voreingenommenheit bis hin zum Selbsterhaltungstrieb - obwohl dieser als Trieb eine ohne reflektierte Kontrolle ablaufende Verhaltensweise darstellt. Und eben keiner mentalen Kontrolle unterliegt. Einer solchen Begriffsverwischung folgt Hofert glücklicherweise nicht. Ihr geht es tatsächlich um Denkmodelle.
Alt - Neu - Coaching!
Hundert solcher mentalen Modelle stellt die Autorin wie gesagt in ihrem Buch vor. Die Vorgehensweise ist dabei immer gleich: In einem aus subjektiver Perspektive geschriebenen, eher feuilletonistisch gehaltenen Text von einer halben bis zu zweieinhalb Seiten führt die Autorin zunächst in das jeweilige mentale Modell ein, gefolgt von drei Textboxen von jeweils ein paar Zeilen Länge: In "Die Denkkrücke" wird dabei das alte mentale Modell umrissen, grau hinterlegt dann das "Neue mentale Modell" vorgestellt, in der "Coaching-Box" gibt es schließlich Hinweise, wie man von Alt nach Neu kommt.
Die Einführungstexte fallen dabei recht unterschiedlich aus, sollen locker rüberkommen und das Thema eher einkreisen. Dabei wird vieles nur angerissen, weil schon der nächste Gedanke um die Ecke lugt, und so bleibt die Darstellung recht oberflächlich und lässt sich mangels spezifischer Quellennachweise inhaltlich auch nicht nachvollziehen. Ärgerlich ist aber, dass der Autorin dabei auch grobe Fehler unterlaufen. So bedeutet nichtlinear keineswegs, dass es keine Zusammenhänge gibt (sondern keine logisch-kausalen); deduktives Denken fasst weder Einzelphänomene zusammen noch testet es irgendwas (sondern leitet schlicht das Besondere aus dem Allgemeinen ab, geht also von Begriffen und Theorien aus, nicht von den Dingen); und Falsifizierung bedeutet gerade nicht, "nachzuweisen, dass etwas nicht widerlegt werden kann" (sondern exakt das Gegenteil: nachzuweisen, dass eine Theorie oder Aussage nicht mit den empirischen Beobachtungen übereinstimmt). Ganz kurz: Falsifizierbarkeit bedeutet in Karl Raimund Poppers Kritischem Rationalismus: Eine Theorie muss an der Erfahrung scheitern können = sie muss falsifizierbar sein.
So etwas hätte dem Lektorat auffallen müssen.
Anregungen zum Perspektivenwechsel
Das mögen Einzelfälle sein, solche Fehler mahnen aber zu skeptischer Vorsicht im Umgang mit den beschriebenen Inhalten. Skepsis ist auch gegenüber dem Grundansatz des Buches angebracht - was aber dessen Nutzwert nicht schmälert. Zwei Punkte dazu:
Zum einen finden sich in den Texten viele präzise Beobachtungen und schlüssige, pointierte Formulierungen, etwa wenn es um den Epochenbruch geht, den wir erleben, oder um die Bedeutung mentaler Muster. Zum Beispiel registriert die Autorin eine Veränderung des Charakters mentaler Modelle: In der Vergangenheit waren mentale Denkmuster oft an Inhalte gekoppelt und ließen oft nur eine Alternative zu. Moderne mentale Modelle bilden vielmehr "offene Denkrahmen", so Hofert. "Sie grenzen ein und schaffen Orientierung, sie geben auch eine Richtung vor - aber sie beinhalten keine konkreten Lösungen." Oder: "Statt sich auf den Verstand zu verlassen, trainiere ihn mit dem Wissen um seine Fehleranfälligkeit."
Zum anderen ist allein schon die Zusammenstellung von hundert mentalen Modellen eine beachtliche Leistung. Die Sammlung erlaubt einen guten Überblick über ein viel zu wenig beachtetes Thema. Gegliedert nach Themenbereichen bietet das Buch eine Fülle an Einblicken in die mentalen Mechanismen, die unsere Weltsicht prägen. Es ist eine wahre Fundgrube an unterschiedlichen Denkmodellen und möglichen Alternativen dazu und bietet zahlreiche Anregungen zum Perspektivenwechsel. Kurz: eine Einladung, sich seine Denkmodelle bewusst zu machen und diese zu hinterfragen, verbunden mit praktischen Ansätzen zu Coaching und Selbstcoaching.
Genau das, diese Fülle, jeweils verbunden mit dem umsetzungsorientierten Hands-on-Ansatz von "Alt - Neu - Coaching" kann jedoch zu der Auffassung verleiten, der Austausch und die Veränderung von mentalen Modellen sei ein Leichtes - ein Eindruck, den die Autorin selbst nährt. Etwa wenn sie schreibt: "Wenn wir ein Muster erst einmal erkannt haben, können wir es auch auflösen - oder einfach neu verweben."
Das aber wirft Fragen auf. Wirklich "einfach"? Ist das nicht zu sehr auf Umsetzbarkeit getrimmt? Unterliegt die Autorin mit ihrem Coaching-Ansatz vielleicht einer Machbarkeitsillusion? Also etwas als veränderbar zu präsentieren, was sich in Wirklichkeit einer Veränderung widersetzt oder gar entzieht? Anders gefragt: Wie zugänglich sind mentale Modelle einem willentlichen Zugriff? Lässt sich ein mentales Modell so einfach abstreifen oder durch ein anderes, neues ersetzen?
Vom Beharrungsvermögen mentaler Modelle
Hofert bietet dazu widersprüchliche Antworten an. Sehen wir uns ihre Argumentation ein wenig genauer an. Da ist einmal die eben zitierte Formulierung, nach der wir ein einmal erkanntes Muster einfach auflösen oder neu verweben könnten. Im einführenden Teil des Buchs steht hingegen das Beharrungsvermögen mentaler Modelle im Vordergrund, ihre veränderungsresistente Grundeigenschaft. Mentale Modelle seien "unglaublich widerstandsfähig", schreibt die Autorin. Und weiter: "Viele Denkmuster, vor allem die alten, sind tief in uns einprogrammiert. So tief, dass wir uns selbiger oft nicht einmal mehr bewusst sind."
Hofert bezieht sich hier auf Daniel Kahneman und seine Unterscheidung zwischen schnellem Denken und langsamem Denken, zwischen System 1 und System 2. Und unsere mentalen Modelle sitzen, so Hofert, in System 1. Dem System, von dem Kahneman gesagt hat, es arbeite "automatisch und schnell, weitgehend mühelos und ohne willentliche Steuerung". Aber auch das aufmerksamkeitsgesteuerte langsam arbeitende System 2 sei "kein Inbegriff von Rationalität". Ohne erhebliche Anstrengungen sei es nicht möglich, unsere Urteile und Entscheidungen zu verbessern, so der Wirtschaftsnobelpreisträger bezogen auf die kognitiven Verzerrungen, denen unsere Wahrnehmung systematisch unterliegt. Zu dem selben Schluss kommt auch Svenja Hofert mit Blick auf das Beharrungsvermögen unserer Denkmuster. "Wenn wir unsere Einstellung wirklich verändern wollen, ist das harte Arbeit an uns selbst."
Das aber steht nicht etwa als Fazit am Ende. Sondern irgendwo zwischendrin, auf Seite 151.
Das Buch endet mit einer Coaching-Box.
Die Frage ist also: Gibt es eine Transformation der eigenen Denkmuster ohne eine persönliche Transformation?
Zitate
"Jedes Wissen hat eben seine Zeit. Nur manchmal ist diese einfach abgelaufen." Svenja Hofert: Mach dich frei!
"Viele Denkmuster, vor allem die alten, sind tief in uns einprogrammiert. So tief, dass wir uns selbiger oft nicht einmal mehr bewusst sind." Svenja Hofert: Mach dich frei!
"Veraltete Denkmuster hindern uns, neue Wege zu gehen und Lösungen zu finden, im Großen wie im Kleinen." Svenja Hofert: Mach dich frei!
"Es sind Denkmuster, die Veränderung blockieren." Svenja Hofert: Mach dich frei!
"Wenn wir ein Muster erst einmal erkannt haben, können wir es auch auflösen - oder einfach neu verweben." Svenja Hofert: Mach dich frei!
"Wir sind Musterteppiche. Neue Sichtweisen entstehen, indem wir anders auf etwas schauen, ganz bewusst den Blickwinkel verändern." Svenja Hofert: Mach dich frei!
"Statt sich auf den Verstand zu verlassen, trainiere ihn mit dem Wissen um seine Fehleranfälligkeit." Svenja Hofert: Mach dich frei!
"Wenn wir unsere Einstellung wirklich verändern wollen, ist das harte Arbeit an uns selbst." Svenja Hofert: Mach dich frei!
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Zum Buch
Svenja Hofert: Mach dich frei!. 100 mentale Modelle für klares Denken und bessere Lösungen. Campus Verlag, Frankfurt am Main 2024, 312 Seiten, 24 Euro (D), ISBN 978-3-593517759
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Winfried KretschmerWinfried Kretschmer ist Chefredakteur und Geschäftsführer von changeX.
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