Der Querdenker hat seine Schuldigkeit getan

Ein weiter, steiniger Weg - Susanne Eyrich über die hohe Kunst der Vertrauensbildung.

Gestern Wissen, heute Vertrauen. Unternehmen haben einen neuen Produktionsfaktor entdeckt. Doch wenn man mit ihren Managern über Führung spricht, wird schnell klar, aus welchem Schrot und Korn sie sind. Um den Anschluss nicht zu verlieren, müssen sie die Gedankenwelt ihrer Mitarbeiter knacken. Und das geht nur über eine Kultur der Offenheit und des vertrauensvollen Miteinanders. Doch tayloristische Führungskräfte haben oft Angst vor dem eigenen Machtverlust. Sie setzen weiterhin auf linientreue Soldaten, degradieren ihre teuer eingekauften Wissensträger zu Hofnarren und weisen ihnen letztlich die Tür.

"Vertrauen ist der Anfang von allem", lautet ein bekannter Werbespruch. "Vertrauen führt" titelt das neue Buch von Managementguru Reinhard K. Sprenger. Vertrauen ist - wie Wissen - ein neuer Produktionsfaktor geworden. Wenn man indes mit Managern über Führung spricht, wird sehr schnell offensichtlich, aus welchem Haus der Gesprächspartner kommt - aus einem tayloristisch modellierten Unternehmen der Industriegesellschaft oder aus einem flexiblen - lernenden - Unternehmen der Wissensgesellschaft. Und erst in dieser Gegenüberstellung wird deutlich, welche Bedeutung Vertrauen auch als Managementfaktor hat. Und wie grundlegend der Wandel ist, der zur Zeit in Unternehmen stattfindet. Er zeichnet sich von der Stufe der Zusammenarbeit zwischen Gleichgestellten über die mittlere Managementebene bis in die oberste Führungsschicht ab.

Das oberste Ziel: die fehlerfreie Erledigung von Routineaufgaben.


Jedes Unternehmen betont heute die Teamarbeit als Grundvoraussetzung gemeinsamer Arbeit. Doch Teams funktionieren in einem tayloristischen Unternehmen grundsätzlich anders als in einem flexiblen - lernenden - Unternehmen. Tayloristische Unternehmen bauen so genannte heteronome Teams auf. Die Mitglieder sind also nicht gleichwertig aufgestellt. Sie erledigen in erster Linie Routinearbeit. Weiterentwicklung heißt hier, mehr Effizienz in den gleichen Ablauf zu bringen. Ein Massenprodukt muss einfach billiger werden. Die Arbeit funktioniert nur reibungslos, wenn die Mitarbeiter im Arbeitsprozess nahtlos ineinander greifen. Darüber hinaus mehr zu wissen ist unwichtig. Wer dennoch mehr weiß, besitzt Macht. Er ist eine Führungskraft. Und damit in gewisser Weise autonomer. Sein oberstes Ziel und seine Aufgabe ist es, den Arbeitsablauf unter Einsatz der Mitarbeiter so zu planen, zu organisieren und zu steuern, dass er stimmt. Das Ergebnis ist rational nachprüfbar. Vertrauen spielt eine untergeordnete Rolle.
Das Persönlichkeitsmuster des einzelnen Routinearbeiters wird formatiert. Es entsteht eine homogene Gruppe, aus der keine Persönlichkeit ausschert. Wer nicht in das (vorgeprägte) Persönlichkeitsbild passt, ist nicht teamfähig und wird von dem Team wieder ausgestoßen. Weil als oberster Maßstab die fehlerfreie Erledigung von Routineaufgaben gilt, darf niemand von der Norm abweichen. Weitsicht, Weiterdenken, Kreativität und Querdenken sind Störfaktoren. Sie werden mit Misstrauen beäugt, denn sie stören das gleichgeschaltete Denken und sie gefährden bestehende Herrschaftspositionen. Misstrauen und Herrschaftswissen sind also strukturell angelegt.
Das Problem dieser bisher herrschenden Kulturen heute liegt darin, dass sie die Innovationskraft hemmen, im schlimmsten Fall sogar beseitigen. Denn neben der Ressource Mensch als Quelle von Innovation ist das Unternehmen notwendig, in dem neuen Ideen und Phantasien in Innovationen - in neue Produkte, Anwendungen und/oder Dienstleistungen - umgesetzt werden. "Do not stick your neck out" ist in tayloristischen Kulturen die dominierende Verhaltensregel. Verharren lautet die Devise. Es wird weniger gelernt, der Status quo wird erhalten, es entsteht Angst vor fremden Einflüssen. "Not invented here" lautet vielerorts die Reaktion auf fremde Einflüsse und neue Ideen. Immer wieder entsteht Bestätigungswissen. Linientreue Unternehmenssoldaten graben sich ein, bleiben Einzelkämpfer ohne Zusammenhalt.

Wissen - keine Gefahr, sondern das Rückgrat eines innovativen Netzwerkes.


Lernende Unternehmen in der Wissensgesellschaft ticken anders. Sie benötigen Querdenker, welche die Innovationen antreiben. Lernende, wissensbasierte Unternehmen sind Entwicklungsräume oder "Lern-Arenen", die eine Offenheit für alles Neue und damit eine kontinuierliche Neugierde verlangen. Noch mehr: Kreative Zerstörung wird als progressiv, Wandel als Existenzsicherung erlebt. Information und Wissen sind nicht eine abzusichernde Machtbasis, sondern bilden das Rückgrat eines innovativen Netzwerkes. Die Einzelkämpfer-Mentalität der heteronomen Teams wird durch die Fähigkeit zur Problemlösung im Team abgelöst, wobei umfassende Lösungen durchaus von Einzelnen mit Einzelkämpfer-Mentalität erarbeitet und dann einem Team zur Diskussion vorgelegt werden. Vertrauen - vor allem als Vorleistung - ist das Eintrittsgeld in die Teams.
Wissensarbeiter können damit keine Wagenburgmentalität haben. Auch wenn sie das Ergebnis ihres Denkprozesses bereits im Kopf haben, wissen sie um die Macht der Erfahrung - und sie wissen, dass sie die Erfahrung und das Wissen der anderen brauchen. Denn keiner alleine weiß so viel, wie das Team. Wissen ist Information plus Erfahrung, die wiederum subjektiv und nie einem Dritten objektiv darstellbar ist. Erfahrung ist die Unbekannte im Spiel. Eindeutige, sichere Wahrheit kann es demzufolge nicht geben. Jede Eindeutigkeit ist ein Sonderfall. Die oberste Regel lautet: Sowohl als auch. Ein Beispiel: Wenn ich sage, das Blau, von dem ich spreche, ist himmelblau, sind wir uns einig, dass wir über eine Farbe der Farbpalette Blau sprechen. Wir werden aber nie das gleiche Blau sehen, weil wir nicht wissen, welche Erfahrungen mit welchem Wetter bei welcher Gefühlslage unsere jeweilige Definition und Vorstellung von Himmelblau begründen. Oder wenn ich beschreibe, dass die von Neumeyer choreographierte Matthäuspassion ein getanztes Glaubensbekenntnis ist, hat jeder Adressat der Aussage aufgrund seiner Einstellung zu dem Thema ein Bild, das ich nie nachvollziehen kann. Wie aber kann man diese Vieldeutigkeit von erfahrungsmodelliertem Wissen heute in einen Managementprozess gedanklich integrieren?

Lenken statt befehlen, Fehler zulassen statt Fehler kaschieren.


Zur Verdeutlichung nochmals eine Gegenüberstellung: Management im Industriezeitalter ist - wie schon gesagt - das Sicherstellen des Aneinanderreihens und des reibungslosen Ablaufes der einzelnen Module sowie das Sicherstellen, dass individuelle Erfahrungen vor der Unternehmenstür ausgeschlossen werden. So korrigiert und deckt das tayloristische Management die Fehler aus der Sicht des Besserwissenden auf, denn seine Hauptaufgabe ist es, die fehlerfreie Abwicklung eines Produktionsprozesses sicherzustellen. Der Fehler - und hier kommt neben der Misstrauenskultur die Frage der Angstkultur als ein weiteres typisches Charakteristikum vieler tayloristischer Unternehmen ins Spiel - wird einer einzelnen Person zugeschrieben und bei dieser Person auch geahndet. Fehler sind karriereschädigend oder sogar -zerstörend. Statt aus ihnen zu lernen, werden als Schutzmechanismen Fehler kaschiert - oft mit weiteren Fehlern. Aus genau den gleichen Gründen werden sie auch nicht in die nächsthöhere Ebene kommuniziert. Im schlimmsten Fall entsteht in den obersten Unternehmensebenen ein Bild, das mit der Unternehmenswirklichkeit nicht mehr viel gemein hat.
In der Wissensgesellschaft bewertet der Chef dagegen nicht mehr aus der Sicht des Besserwissenden die Arbeit der Mitarbeiter mit "richtig" oder "falsch". Die Teams sind eben nicht mehr eine arbeitsteilige, zentral plan- und steuerbare Maschine. Der Chef gibt Denk- und Handlungsanstöße. Er macht auf der Basis seiner in der Regel größeren und komplexeren Erfahrungen die "richtigen" Bemerkungen zur "richtigen" Zeit, damit der Mitarbeiter in die "richtige" Richtung weiterdenkt. Aber er muss immer schneller sein: Er muss schneller aus den Informationen, die er bekommt, relevante Schlussfolgerungen ziehen können. Er muss schneller die Richtung erkennen können, in die die Arbeit gehen muss, damit er schneller dem Team mit seinen Anmerkungen den Weg weist - der aber auch als eine Alternative überdacht werden kann und darf.

Vertrauen verlangt Transparenz und Kommunikation.


Wissensarbeiter diskutieren nicht extensiv. Sie haben wenig Freude an der Diskussion um der Diskussion willen, der Auseinandersetzung als rhetorischer Kunstform, wie wir sie oft heute noch in der Politik finden. Sie hören zu, entwickeln weiter und stellen das Ergebnis wieder vor. Immer wieder an ihrem Erfahrungshintergrund und dem der Kollegen und Counterparts gespiegelt. Das Entscheidende dabei: Diese Form von Management funktioniert nur mit dem Vertrauen, dass die Erfahrungen, die der einzelne Mitarbeiter einbringt, genau die richtigen und damit notwendigen Erfahrungen sind.
Aber genau an dieser Stelle stellt sich ein größeres Problem: Vertrauen muss alle einbinden. Vertrauen verlangt Transparenz und Kommunikation. Ein Blick in die Wirklichkeit weckt indes Zweifel: Teams lösen Probleme oft auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner. Die Perspektivenvielfalt wird massiv eingeschränkt - durch standardisierte Prozesse und durch Routine. Eine bewusste Förderung von Perspektiven und nonkonformem Verhalten (das Zulassen von anderen Erfahrungen) wird vielerorts bewusst unterbunden. Die Umstrukturierung von Unternehmen zu mehr Eigenverantwortung des Einzelnen - mit hoher Eigenkontrollintensität oder eigenverantwortlicher Definition des Aufgabenumfeldes gegenüber ursprünglich hoher Fremdkontrollintensität zur Absicherung von Zielvorgaben, die von oben nach unten festgelegt werden - führt oft zu einer hohen Verdichtung von Mikropolitik, also unternehmerischer Innenpolitik, oder im schlimmsten Fall sogar von Mobbing.
Man kann das dann als Festungspolitik bezeichnen. Weil viele Unternehmen nach wie vor auf dem Herrschaftsprinzip "Wissen ist Macht" basieren, greifen Innovationen und Fremdeinflüsse tief in die bestehenden Strukturen ein. Sie irritieren die Machtverhältnisse und die über Jahre aufgebauten Machtgefüge. Innovationen und Fremdeinflüsse werden deshalb oft nicht nur als unbequem empfunden. Sie werden vor allem auch als Bedrohung gesehen - oft auch, weil sie fälschlicherweise als Hinweis gelesen werden, dass über Jahre Fehler gemacht wurden - und Fehler, das hat man gelernt, werden geahndet und führen zur Zerstörung der Karriere.

Koalition, Kampf und Kompromisse.


Mikropolitik ist ein Mittel, durch das einzelne Mitarbeiter für sich Positionen definieren und vor allem durchzusetzen versuchen. Oft geschieht dies in drei Phasen: Zuerst entstehen Koalitionen, dann kommt es zu einem internen Kampf um die Meinungsführerschaft, schließlich werden Kompromisse geschlossen. Diese politischen Verhaltensmuster treten in Unternehmen immer häufiger zu Tage. Wobei man beachten muss: Mikropolitik ist auf einem ganz niedrigen Level dringend notwendig, denn sie definiert Unternehmensregeln, bestimmt Verhaltensregeln und zieht Grenzen zwischen dem individuell erlaubten und seitens des Unternehmens zwingend erforderlichen Verhalten. Denn auch ein Unternehmen ist eine soziale Gruppe mit einem Ziel, dem sich alle unterordnen müssen.
Mikropolitik kann aber dann, wenn sie als machtsicherndes Instrument Einzelner überhand nimmt - und dies passiert besonders in Phasen des Wandels oder wenn Besitzstände in Frage gestellt werden -, auch eine unternehmensschädigende Wirkung haben. Im schlimmsten Fall manifestiert sich eine solche Mikropolitik in einem aggressiven Verhältnis zwischen Mitarbeitern, in Mobbing. Auslöser ist in der Regel, dass sich für die Mehrheit der Mitarbeiter unangenehme Minderheitsmeinungen durchzusetzen drohen und damit alte Besitzstände aufbrechen. Die Minderheit wird in der Folge aus den unternehmensinternen Kommunikationswegen ausgeschlossen, ihre Kommunikation strategisch manipuliert. Sie wird in der Verschärfung der Zustände zum Opfer systematischer Belästigung und Verunglimpfung durch Kollegen, indem das soziale Ansehen angegriffen und der Arbeitseinsatz beeinträchtigt wird.
Das hat für den Einzelnen eine persönliche Relevanz. Es hat aber für das Unternehmen als Ganzes eine ganz hohe institutionelle Bedeutung. Das Wissensmanagement des gesamten Unternehmens wird massiv gestört.

Gängiges Schicksal: teuer eingekauft und dann strategisch hinauskatapultiert.


In einer lernenden, intelligenten Organisation hat Wissensmanagement eine ganz hohe strategische Wichtigkeit. Unternehmen positionieren sich über das zur Verfügung gestellte Wissen im Markt und behaupten sich damit im Wettbewerb. Damit hängt das institutionelle Wissensmanagement von jedem einzelnen Mitarbeiter ab.
Mikropolitik zerschneidet die Bande zwischen Mitarbeitern und Unternehmen. Zuvor sinnvolle Investitionen in unternehmerisches Wissen werden entweder durch gezielte Störungen, initiiert von Mitarbeitern, oder durch (negative) Beeinflussung der Tätigkeit von Mitarbeitern in nicht effektive Kosten verwandelt. Was hilft es, wenn Wissensarbeiter und Querdenker teuer eingekauft werden, die dann durch die alten Seilschaften strategisch wieder hinauskatapultiert werden. Die Investition in kluge neue Köpfe ist verloren. Diese Mitarbeiter können oft nicht mehr die von ihnen erwartete und eingeforderte Leistung erbringen (und werden oft eben in die Position eines Hofnarren gestellt - man hat sie, weil man einen Querdenker braucht, um modern zu sein, aber man möchte nicht, dass sie durch ihre Arbeit die bestehenden Machtgefüge destabilisieren).
Mechanismen, die darauf zielen, die Transparenz von Arbeitsbeziehungen zu verhindern, zerstören also die Basis von Wissen. Eine solche Mikropolitik gegen einen einzelnen Mitarbeiter ist, wenngleich für den Einzelnen schmerzvoll, so lange von Unternehmen zu verschmerzen, solange der Mitarbeiter nicht Wissen an exponierter Stelle zur Verfügung stellt. Kollektive Mikropolitik hingegen schwächt und lähmt das Unternehmen als Ganzes und zerstört die Wissensbasis. Daneben zerstört es Lernprozesse. Je mehr Mitarbeiter sich an Mikropolitik und auch Mobbing beteiligen, desto mehr entfallen sie als wertschöpfende und auch als lernende Ressource. Das Ergebnis: Das Vertrauen in allen Beziehungsgeflechten wird irgendwann gestört. Aus der Position des Fundamentalisten wird alles Neue und damit Unvertraute bekämpft. Es entsteht ein Übermaß an Wissen darüber, warum etwas nicht geht, nicht funktionieren kann und keine Chance hat.

Untergrundkämpfer stärken.


Lässt man die Festungspolitiker gewähren, setzt die Chefetage die falschen Zeichen. Sie ermutigt die alten Strukturen und demotiviert die neuen innovativen Mitarbeiter. Die Auswirkungen sind viel schlimmer, als man denkt: Das Management gibt vorhandenen Machtstrukturen noch mehr Macht und entzieht Machtstrukturen, die im Aufbau sind und noch etwas von "Untergrundkämpfern" an sich haben, nach außen offensichtlich seine Unterstützung. Vertrauen ist zerstört, die Wissensbasis löchrig geworden. Der Wandel in ein lernendes Unternehmen ist beendet. Man kehrt wieder zurück zum tayloristischen Prinzip. Die Menschen schrauben sich tief in das Gewinde und stecken fest. Auch in der Wissensgesellschaft.
Das Fundament der Wissensgesellschaft ist die vertrauensvolle und offene Zusammenarbeit in und zwischen allen Arbeitsebenen. Der kontinuierliche Austausch vorhandenen und neuen Wissens, Respekt vor höherer Kompetenz der Erfahreneren und Bescheidenheit und Offenheit dessen, der in der konkreten Situation nicht über diese Erfahrung verfügt, integriert in tägliche, offene, auch kritische Auseinandersetzung um die beste gemeinsame Nutzung des gemeinsamen Wissens und der individuellen Erfahrung.

Susanne Eyrich beschäftigt sich mit der politischen und gesellschaftlichen Positionierung von Unternehmen. Sie arbeitet und lebt in München und Berlin.

© changeX [09.08.2002] Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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