Zurück in die Zukunft
Alternative zum Jobgipfel: Staatsausgaben erhöhen und Sozialstaat sichern - das große changeX-Interview mit Gustav A. Horn.
Von Anja Dilk
Heute findet der Jobgipfel als großes Treffen der einäugigen Reformer statt. Erfolgreiche Wirtschaftspolitik sieht jedoch anders aus. Wir haben deshalb einen unabhängigen Experten gesucht, der noch nicht von der Reformitis erfasst ist. Gustav A. Horn ist Wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) in der Hans-Böckler-Stiftung. Er schlägt die Renaissance einer Wirtschaftspolitik vor, die ohne den Abbau von Sozialleistungen auskommt. Der Staat soll wieder mehr ausgeben und die Konjunktur ankurbeln. Und endlich seine Sparwut aufgeben. Als Vorbild für seine ängstlichen Bürger und Unternehmer.
Gustav A. HornGustav A. Horn ist Wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) in der Hans-Böckler-Stiftung. Von 2000 bis 2004 war er Leiter der Abteilung Konjunktur am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin.
Herr Horn, ein Buch über die deutsche Krankheit - "Sparwut und Sozialabbau" nennen Sie ihr Buch. Klingt nach einem kritischen Ratgeber für die richtige Reform des Wirtschaftsstandortes Deutschland. Was unterscheidet Sie von anderen Krisenrettern, die einen Ausweg aus dem wirtschaftlichen Desaster weisen wollen?
Von den meisten unterscheide ich mich dadurch, dass ich das Heil nicht nur in Arbeitsmarktreformen und in Kürzungen im Sozialbereich sehe. Sondern wir brauchen eine gesamtwirtschaftliche Politik, das heißt auch eine Geld- und Finanzpolitik, die auf Expansion gerichtet ist. Die 573ste Reform hilft uns nicht.
Zunächst zur Situationsanalyse: Deutschland befindet sich in einer der größten Wirtschaftskrisen seit Jahrzehnten. Was unterscheidet diese Krise von den vorhergehenden?
Die Dramatik ist geringer als bei anderen Krisen, zum Beispiel während der Rezession in den 70er Jahren. Aber es hat sich dieses Mal ein schleichender Stagnationsprozess eingestellt, der länger andauert, als wir es bisher gewohnt waren. Dieser Prozess hat tiefgreifende Spuren auf dem Arbeitsmarkt hinterlassen und die Arbeitslosenzahlen hoch getrieben.
Warum hält diese Krise so lange an?
Weil auf sie nicht adäquat reagiert wurde. Auf die Ursachen ließ sich wenig einwirken, denn für Börsencrash und Ölpreisschock war nicht die Politik verantwortlich. Doch für die anschließende Entwicklung ist sie es. Die Politik hat im Jahr 2000, als wir ein Wirtschaftswachstum von 2,5 bis 3 Prozent hatten, sehr stark gebremst und anschließend auf das sinkende Wachstum nicht schnell genug reagiert. Gebremst wurde an der Jahrtausendwende durch eine Kehrtwende in der Geldpolitik in Europa - indem die Zinsen deutlich erhöht wurden. Gleichzeitig stellte die Finanzpolitik das Sparen in den Vordergrund. Dieser Kurs hat dazu geführt, dass in Europa, anders als in den USA, die Krise nicht überwunden wurde.
Wieso haben Finanzpolitiker sich so sehr darauf fokussiert, an der Sparschraube zu drehen?
Die politischen Zwänge wurden vom Vertrag von Maastricht und vom Stabilitäts- und Wachstumspakt ausgelöst. Man hat sich manisch auf die vereinbarten drei Prozent fixiert und versucht, sie mit immer neuen Sparprogrammen zu erreichen. Dabei hat man völlig aus den Augen verloren, dass Finanzpolitik auch eine konjunkturstabilisierende Aufgabe hat. Das gilt besonders für Deutschland. In anderen Ländern haben die Wirtschaftspolitiker durchaus Konjunkturpolitik betrieben, in England beispielsweise. Aber bei weitem nicht in dem Ausmaß, wie es in den USA geschehen ist.
Sie machen im Kern die Wirtschaftspolitik für die anhaltende Krise verantwortlich. Was sind die größten Fehler unserer Wirtschaftspolitiker?
Der Reformprozess selbst ist mittlerweile eine der Ursachen für die lang anhaltende Stagnation. Man hat die Reformen, die teilweise nötig, teilweise unsinnig und schädlich waren, insgesamt so auf den Weg gebracht, dass die Menschen in Deutschland zur Zeit von Reformen nur Belastungen erwarten. Schon gar nichts Gutes für die Zukunft. Das hat zu einer tiefgreifenden Verunsicherung geführt, mit dem Effekt, dass die Leute ihr Geld zusammenhalten. Unsere derzeitige Konsumschwäche ist Teil eines mangelnden Vertrauens in die Zukunft.
Woran krankt die Agenda 2010?
Die Regierung hat nicht darauf geachtet, ihr Reformpaket gesamtwirtschaftlich zu flankieren. Wenn man Reformen macht, welche die Gesamtwirtschaft belasten, muss man kompensatorische Maßnahmen ergreifen. Zum Beispiel, indem man finanzpolitisch die Nachfrage stützt. Man hätte damals am Konsum ansetzen und die Einkommensteuer deutlich senken müssen. Das ist weitgehend unterblieben.
Die meisten Ökonomen gehen davon aus, dass wir eine Angebotskrise haben: Die Unternehmen, die Güter anbieten, können sie nicht rentabel genug und wettbewerbsfähig produzieren; die Anbieter von Arbeitsleistungen seien zu teuer. Sie sagen, Nachfrageprobleme seien entscheidend. Wie kommen Sie zu dieser Einschätzung?
Man muss sich nur die Zahlen anschauen. Wir haben in der Tat eine sehr schwache Einkommensentwicklung, auch durch die extreme Lohnzurückhaltung in Deutschland. Wo kein Einkommen ist, da ist auch keine Konsumnachfrage. Unternehmen haben keine ausgelasteten Kapazitäten, und wo die Kapazitäten nicht ausgelastet sind, da ist auch keine Investitionsnachfrage. All diese Dinge spielen auf der Nachfrageseite eine Rolle. Faktoren, die auf der Angebotsseite eine Rolle spielen, sind nicht mehr relevant. Wir haben seit zehn Jahren die niedrigste Lohnsteigerung in ganz Europa, weltweit werden wir nur von Japan unterboten. Die Gewerkschaften sind nicht mehr annähernd so stark wie in den 70ern. Damals gab es sogar Gehaltssteigerungen für den öffentlichen Dienst von zehn Prozent. Heute gehen die Tarifabschlüsse kaum noch über die Zwei-Prozent-Grenze hinaus und bleiben in der Regel weit hinter dem Zuwachs an Leistungsfähigkeit für die deutsche Wirtschaft zurück. Das Gerede von den hohen Löhnen ist eine Mär von vorgestern. Für die Unternehmen sind die Löhne nicht mehr das entscheidende Problem.
Und doch stöhnt die Wirtschaft unter zu hohen Lohnnebenkosten �
Richtig ist, dass die Lohnnebenkosten vor allem als Folge der schlechten wirtschaftlichen Entwicklung und der dadurch bedingten Abnahme der Beitragszahler gestiegen sind. Auch wurde die Sozialversicherung im Zuge der deutschen Vereinigung mit vielfältigen Aufgaben belastet, die ihr eigentlich nicht aufzubürden sind. Trotz dieser Entwicklung sind die gesamten Arbeitskosten vor allem dank der Lohnzurückhaltung der Gewerkschaften nur schwach gestiegen.
Unsere derzeitige Wirtschaftsdebatte wird beherrscht vom Kampf der wirtschaftlichen Modelle: Neoliberale gegen Keynesianer. Die ersten gelten als progressiv und modern, letztere als rückständig. Neoliberale haben Hochkonjunktur. Wo liegen Ihrer Einschätzung nach die Schwächen dieser Anschauung?
Die Schwächen liegen in der einseitigen Analyse. Ich bestreite, dass wir überhaupt ein Angebotsproblem haben. Die zweite Schwäche ist, dass die Neoliberalen nur mikroökonomisch an die Dinge herangehen. Die Idee: Indem wir Anreize verbessern oder die Belastungen zu Lasten der Arbeitnehmer umverteilen, können wir das Beschäftigungsproblem lösen. Die vergangenen Jahre haben leider gezeigt, dass dies nicht der Fall ist. Warum brauchen wir jetzt einen Jobgipfel beim Kanzler? Weil die vergangenen Reformen bisher nicht genug gebracht haben.
Der Blick auf die Realität ist geprägt von der wirtschaftstheoretischen Brille, durch die wir sie betrachten. Ist es nicht an der Zeit, sich von der Fokussierung auf ein Modell zu befreien?
Es ist ein ordnungspolitisches Problem, sich auf ein Modell zu fokussieren. Natürlich kann es Angebotsprobleme geben und es ist sorgfältig zu prüfen, ob es sie gibt. Aber dass ein "pensée unique", wie die Franzosen sagen, also ein Einheitsgedanke herrscht, ist in der Tat gefährlich. Denn wehe, man irrt sich, dann ist man auf dem falschen Pfad.
Warum ist das neoliberale Denken in Deutschland zur Zeit en vogue?
In der Wissenschaft hat diese Richtung bereits seit Mitte der 70er Jahre stark an Attraktivität gewonnen. Damals meinten die meisten, dass der Keynesianismus versagt habe. In den 70ern hatten wir Wachstum, aber auch hohe Inflationsraten. Am Ende hatten wir Inflation und Stagnation, die berühmte Stagflation. Das wurde als Scheitern des Keynesianismus interpretiert, man suchte händeringend nach neuen theoretischen Ansätzen, die besser funktionieren würden. Monetaristische, neoliberale Ansätze gewannen an Boden. Das hat sich bei der Besetzung der Lehrstühle fortgesetzt, so dass heute in der Wissenschaft ein breiter Resonanzboden für diese Vorstellungen da ist, die langsam auf die Wirtschaftspolitik überschwappen. Hinzu kommt, dass in Krisenzeiten immer verzweifelt nach Theorien gesucht wird, um die Krise zu überwinden. Und da können sich einige Vertreter des Neoliberalismus sehr überzeugend darstellen.
Außerdem ist der Neoliberalismus leicht zu kommunizieren, denn er setzt beim Einzelnen an. Er kann rekurrieren auf die Alltagserfahrung des einzelnen Unternehmers, des einzelnen Haushalts. Das lässt sich gerade in Talkshows leichter rüberbringen als abstrakte, gesamtwirtschaftliche Argumentationen. Beispiel: Die Diskussion über Konsolidierungen der öffentlichen Haushalte. Wenn ich mich als Privatmensch übernommen habe, muss ich anschließend sparen. Das gilt auch für Unternehmen. Das ist unmittelbar nachvollziehbar und deshalb wird gesagt, so geht es auch dem Staat. Hier fängt das Problem an. Der Staat ist kein Privathaushalt, er repräsentiert die Gesamtwirtschaft. Und er muss gerade die Instabilität, die vielleicht aus einem privaten, wirtschaftlichen Verhalten herauskommt, zu konterkarieren versuchen. Wenn Unternehmen und Haushalte viel sparen, muss der Staat viel ausgeben.
Sie stellen überdies die sich selbst regulierenden Mechanismen des Marktes in Frage.
Die Geschichte hat gezeigt, dass Märkte sich nicht frei regulieren. Nur so ist Wirtschaftspolitik überhaupt zur Aufgabe des Staates geworden, nur so ist es zum Keynesianismus gekommen. Sicher ist es sinnvoll und wünschenswert, freie Märkte zu haben, denn sie generieren Wachstum. Aber es muss immer ein Gegengewicht geben, das die Krisenanfälligkeit der Märkte ausgleicht.
Doch unter den Bedingungen der Globalisierung wird es immer schwieriger, in die Märkte einzugreifen und verlässliche Rahmenbedingungen zu schaffen.
Die Globalisierung verschärft die Krisenanfälligkeit der Märkte. Denn die Entwicklungen in einem Teil der Welt strahlen über den ganzen Globus aus. Natürlich gibt es nicht den Gesamtweltstaat, der Rahmenbedingungen schaffen kann. Das können nur Nationalstaaten. Je kleiner diese Staaten sind, desto weniger wirksam sind diese Maßnahmen. Aber schon bei mittleren Staaten wie Deutschland können Regelungen wirksam sein, weil es einen großen Binnenmarkt gibt. Erst recht gilt das für Europa, das ist ein riesiger Binnenmarkt mit nur zehn Prozent Außenhandelsbeziehungen. Dabei bräuchten wir eine koordinierte Wirtschaftspolitik und mehr Stabilität auf der Währungsseite. Außerdem haben wir heute weltweit liberalisierte Kapitalbewegungen. Das ist per se nichts Schlechtes. Aber sie bergen auch Momente der Instabilität. Spekulative Kapitalbewegungen können Volkswirtschaften in große Schwierigkeiten bringen.
Sie sprechen sich in Ihrem Buch für solche Rahmenbedingungen ebenso aus, wie für ein korrigierendes Eingreifen des Staates in die Wirtschaft. Sie plädieren für eine Wiederbelebung der Konjunkturpolitik. Wie sollen die verstaubten Rezepte von gestern heute noch wirken?
Konjunkturpolitik ist schon seit langem diskreditiert. Die Frage ist nur: Haben wir ohne sie die Konjunkturkrisen in den Griff bekommen? Die vergangenen Jahre haben gezeigt, dass wir nicht aus einer wirtschaftlichen Schwäche herauskommen. Insofern sind diese Instrumente vielleicht etwas voreilig abgelegt worden. Wir müssen uns natürlich Gedanken darüber machen, was funktioniert und was nicht. Maßnahmen auf dem zweiten Arbeitsmarkt etwa bringen wenig. Das wichtigste Instrument der Konjunkturpolitik ist sicher die Geldpolitik, sie hat allerdings den Nachteil, dass sie etwas langsam ist. Das zweite ist die Finanzpolitik. Sie hat im europäischen Kontext vor allem die Aufgabe, nationalen Besonderheiten Rechnung zu tragen. Man muss Instrumente nehmen, durch die das Geld wirklich in den wirtschaftlichen Kreislauf fließt, ohne Folgekosten zu erzeugen.
Zum Beispiel?
In der gegenwärtigen Situation würde ich von allen steuerlichen Maßnahmen abraten. Denn das Geld wird auf die Sparkonten getragen, von den Haushalten ebenso wie von den Unternehmen. Sinnvoll wäre es, den Kommunen für einen begrenzten Zeitraum, nur für investive Zwecke und nur bis zu einer bestimmten Höhe pro Projekt, Mittel zur Verfügung zu stellen.
Hat der Staat überhaupt noch genug Spielraum, um solche Mittel zur Verfügung zu stellen? Bereits jetzt fließen zwei Drittel des Haushalts in Fixkosten.
Wir haben diese Spielräume. Das Defizit in Deutschland ist weitaus geringer als in den USA oder England, wo es zeitweise bei mehr als fünf Prozent lag. Wir haben allerdings ein rechtliches Problem mit dem Stabilitäts- und Wachstumspakt, der unsere Spielräume eingeengt hat. Wenn wir weiter an den drei Prozent festhalten müssen, bleibt uns nur zu sparen.
Dabei sehen die Kritiker die Gefahr, dass die Schulden in unermessliche Höhen wachsen. Und dafür gibt es bereits einige Anzeichen.
Ich glaube nicht, dass diese Gefahr besteht. Schon im Eigeninteresse kann der Staat das nicht machen. Die Zinslast würde immer größer, der Handlungsspielraum immer kleiner. Es geht nur um eine temporäre Höherverschuldung. Man muss in der Tat Mechanismen installieren, die garantieren, dass es bei einer guten Konjunktur und guten Einnahmen wieder zum Schuldenabbau kommt.
Doch der Bürger scheint dem Staat derzeit nicht mehr zuzutrauen, dass er verantwortungsvoll mit dem Geld umgeht.
Das ist das Tragische. Finanzminister Eichel hat nun wirklich - abgesehen von den Steuerreformen - ein Sparprogramm nach dem anderen aufgelegt. Er hat keine Ausgabenprogramme gemacht. Diese Sparprogramme haben die Konjunktur mit der Folge belastet, dass immer wieder Steuereinnahmen weggebrochen sind und er am Ende mit einem höheren Defizit dastand. Das hat natürlich das Vertrauen der Leute erschüttert. Sie haben eine Politik gesehen, die nicht funktioniert. Nur haben sie falsche Dinge für das Scheitern dieser Politik verantwortlich gemacht: die Stabilisierungsversuche des Staates hätten versagt. Tatsächlich haben diese Versuche nie stattgefunden.
Das fundamentale Problem in unserer Gesellschaft ist die Arbeitslosigkeit. Ihre Zahl steigt ohne Ende, jeden kann es treffen, auch sehr gut qualifizierte Arbeitnehmer. Was können wir dagegen tun?
Viele Maßnahmen der Agenda 2010 greifen leider überhaupt nicht. Es ist sicher sinnvoll, dass man sich dem einzelnen Arbeitslosen stärker widmet, Zielvereinbarungen macht und ihn fit hält für den Arbeitsmarkt. Doch letztlich haben wir zu wenig Arbeitsplätze, daran kommen wir nicht vorbei. Deshalb brauchen wir eine gesamtwirtschaftlich expansive Politik. Nur so können neue Arbeitsplätze entstehen, auf die sich Arbeitnehmer bewerben können. Erst dann kommen die positiven Aspekte der Reform zum Tragen.
Das heißt, wir werden Ihrer Einschätzung nach nicht mit den Grenzen des Wachstums kämpfen müssen?
Nein, das ist eine sehr mechanistische Denkweise. Sie geht davon aus, dass immer die gleichen Dinge wachsen müssen. Das ist Unsinn, der Boom Kommunikationstechnologie hat das in den vergangenen zehn, fünfzehn Jahren gezeigt. Wir müssen neue Motoren des Wachstums finden und auch die Produktivität erhöhen.
Sie schlagen einen Strauß konkreter Maßnahmen vor, eine "neue Strategie für die Wirtschaftspolitik". Wesentlich dabei: Sie kommt ohne den Abbau von Sozialleistungen aus. Über die außenwirtschaftlichen Maßnahmen haben wir schon gesprochen. Was muss im Land selbst geschehen?
Im Inland brauchen wir ein Investitionsprogramm. Die Löhne müssen sich wieder an der Produktivität orientieren. Wo die Macht der Tarifparteien schwindet, muss die Wirtschaftspolitik an ihre Stelle treten und ein Abrutschen der Löhne verhindern, durch die Verordnung von Mindestlöhnen etwa. Um den Tarifparteien mehr Spielraum für Lohnverhandlungen zu geben, könnten wir die Lohnnebenkosten senken. Denkbar wäre eine Umfinanzierung der Arbeitgeberbeiträge zur sozialen Sicherung. Die Arbeitgeberbeiträge könnten den Beschäftigten ausgezahlt werden, im Gegenzug müssten diese die gesamten Beitragslasten übernehmen. Die Auszahlung müsste steuerfrei sein, da sonst die Beschäftigten zusätzlich belastet würden.
Wir müssen das Sozialsystem krisenfest machen, das muss kein Abbau sein, sondern wir müssen sie effizienter machen. Gerade in Zeiten der Globalisierung, die mit großer Flexibilität und Unsicherheit verbunden sind, brauchen die Menschen mehr denn je ein Sozialsystem und eine Basissicherung, die sie auffangen. Im Gesundheitssystem sollte die Trennung zwischen gesetzlicher Pflichtversicherung und privater Versicherung anders gestaltet werden: Alle, einschließlich Selbstständiger und Beamter, sollten einer gesetzlichen Versicherung angehören und Zusatzleistungen nach Wunsch privat versichern. In der Rentenversicherung müssten wir die private Vorsorge obligatorisch machen, um eine Anhebung des Rentenalters werden wir nicht herumkommen. Außerdem brauchen wir eine Reform der Arbeitslosenversicherung. Der Bezug von Arbeitslosengeld I sollte davon abhängig gemacht werden, wie lange ein Erwerbstätiger eingezahlt hat. Die Arbeitslosenversicherung sollte für alle Pflicht werden. Die Beiträge zur Sozialversicherung müssten progressiv gezahlt werden, damit auch Wenigverdiener einen Anreiz haben, einzuzahlen. Da künftig diese gering qualifizierten Arbeitskräfte immer schlechtere Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben werden, sollten wir für diese Menschen Beschäftigungsmöglichkeiten schaffen, um soziale Verwerfungen in unserer Gesellschaft zu vermeiden. Denn die Zahl der Geringqualifizierten wächst.
Es gibt einen wachsenden Bedarf an einfachen Dienstleistungen in den Haushalten. Wenn solche Arbeitsverhältnisse für eine Familie steuerlich als Betriebskosten absetzbar wären, hätten sie ein Interesse, ihre privaten Helfer legal zu beschäftigen. Das ließe sich durch eine Reduzierung des Ehegattensplittings finanzieren. All diese Reformmaßnahmen sind ohne großen Sozialabbau machbar. Politisch erfordern sie natürlich einen gewaltigen Kraftaufwand.
Doch die Diskussion ist im Moment festgefahren. Wie bekommen wir mehr Rationalität und frischen Wind in die Debatte?
Das geht nur über eine hartnäckige öffentliche, intellektuelle Auseinandersetzung. Wie in diesem Interview.
Das Interview hier als PDF-Datei öffnen >>
Gustav A. Horn:
Die deutsche Krankheit:
Sparwut und Sozialabbau.
Thesen gegen eine verfehlte Wirtschaftspolitik,

Carl Hanser Verlag, München/Wien 2005,
240 Seiten, 22.90 Euro,
ISBN 3-446-22919-1
www.hanser.de
Anja Dilk ist Redakteurin bei changeX.
© changeX [17.03.2005] Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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: Die deutsche Krankheit.. Sparwut und Sozialabbau. Thesen gegen eine verfehlte Wirtschaftspolitik. . Hanser Verlag, München/Wien 1900, 240 Seiten, ISBN 3-446-22919-1

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Anja Dilk
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Anja Dilk ist Berliner Korrespondentin, Autorin und Redakteurin bei changeX.

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