Zu glättende Wogen

Gestaltungsräume im Zeitalter der Komplexität (4)
Von Cornelius Patscha, Holger Glockner und Klaus Burmeister

Wie werden wir in Zukunft arbeiten und leben? Thema der Expertenkommission "Arbeits- und Lebensperspektiven in Deutschland". Ein Positionspapier steckt das Feld ab: eine Kurzfassung in fünf Folgen. Folge 4 untersucht gesellschaftliche Gleichberechtigung, Teilhabe und Zusammenhalt im Deutschland von morgen.

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Wirtschaftswachstum und staatliche Umverteilung haben sich in der Vergangenheit in Deutschland vor allem in der Steigerung der Realeinkommen der privaten Haushalte gezeigt und so insbesondere den unteren Einkommensschichten eine Aufstiegsperspektive gegeben. Doch der internationale Wettbewerbsdruck hat sich in Deutschland bemerkbar gemacht. Verglichen mit 1990 hat die Kaufkraft des durchschnittlich verfügbaren Arbeitseinkommens in Deutschland nur minimal zugelegt. Während des vergangenen Jahrzehnts stagnierten die Realeinkommen für fast alle Einkommensgruppen oder sind sogar gesunken. Dabei ist eine Polarisierung der Einkommen von Haushalten mit sehr niedrigem und Haushalten mit sehr hohem Einkommen festzustellen, denn nur die sehr hohen Einkommen konnten signifikante Zuwächse erzielen.  

Mehrere Faktoren beeinflussen diesen Trend. Zum einen wurde der Niedriglohnsektor in der ersten Hälfte des letzten Jahrzehnts deutlich ausgeweitet. Die Größe des Niedriglohnsektors ist jedoch seit 2006 relativ konstant geblieben, sodass die Zunahme der Mini- und Midi-Jobs nicht allein verantwortlich gemacht werden kann. Hinzu kommt, dass die Brüche in Erwerbsbiografien angewachsen sind. Unterbrechungen in der Beschäftigung schlagen sich jedoch häufig in sinkendem Einkommen nieder. Zudem ist, nicht zuletzt auch infolge der gestiegenen Teilzeitbeschäftigung, die durchschnittliche Arbeitszeit gesunken, was sich in niedrigeren durchschnittlichen Monatslöhnen niederschlägt.  

Diese Entwicklung wird vor allem in Verbindung mit der Entwicklung der Haushaltsstruktur in Deutschland relevant. Wird ein Haushalt durch die Aufnahme einer Teilzeitbeschäftigung zum Mehrverdienerhaushalt, steigt im Allgemeinen das verfügbare Haushaltseinkommen. Die Haushaltsgröße ist jedoch in den vergangenen zwei Jahrzehnten in Deutschland deutlich zurückgegangen, das heißt, Teilzeitbeschäftigungen werden zunehmend von Alleinstehenden und vor allem Alleinerziehenden ausgeübt. Des Weiteren sind auch die Reallöhne für Berufseinsteiger gesunken. Im Vergleich zum Jahr 2000 fiel das Medianeinkommen für Berufseinsteiger im Jahr 2010 um rund sechs Prozent niedriger aus. Nicht unerwähnt bleiben darf hier der sinkende Einfluss der Gewerkschaften, die in den letzten zehn Jahren fast zwei Millionen Mitglieder verloren haben. Auch die Reichweite der Tarifverträge hat abgenommen: Derzeit werden nur noch 54 Prozent der Beschäftigten in Westdeutschland und 37 Prozent in Ostdeutschland nach Tarif entlohnt.


Arbeiten als Working Poor


Die Wirtschaftskrise hat in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts auch ihre Spuren bei der Armutsrisikoquote in Deutschland hinterlassen. Ohne Sozialtransfers wäre im Jahr 2010 fast jeder vierte Deutsche arm oder von Armut bedroht gewesen, was einem moderaten Anstieg von knapp einem Prozentpunkt verglichen mit 2005 entspricht. Unter Einbeziehung der Sozialtransfers sinkt die Quote auf 15,2 Prozent der Bevölkerung, die mit einem Einkommen von weniger als 60 Prozent des äquivalenzgewichteten Medianeinkommens auskommen müssen. Damit ist mehr als jeder sechste Deutsche armutsgefährdet. Hier machen sich die zu Beginn des letzten Jahrzehnts durchgeführten Kürzungen bei den Sozialleistungen deutlich bemerkbar. Auch die Ausweitung des Niedriglohnsektors lässt sich an der Armutsstatistik ablesen: In keinem anderen EU-Land mit Ausnahme Bulgariens ist im vergangenen Jahrzehnt der Anteil der "Working Poor" - der Anteil der Bevölkerung, der trotz Arbeitseinkommens von Armut bedroht ist - stärker gestiegen als in Deutschland.  

Die größte Kürzung bei den Sozialleistungen hat im Rentensystem stattgefunden. Sie wird sich jedoch erst in den kommenden Jahrzehnten spürbar auswirken, wenn die Anpassungen der Rentenformel zu greifen beginnen und sich das kontinuierliche Sinken des gesetzlich garantierten Sicherungsniveaus immer deutlicher bemerkbar machen wird: Bis 2025 sinkt das Sicherungsniveau von heute 50,2 Prozent auf dann 46,2 Prozent. Private Vorsorge wird von der Politik als zentrale Lösung betrachtet und somit für die Bürger immer wichtiger. Tatsächlich bleibt die private Vorsorge in Deutschland jedoch deutlich unter dem von der Politik vorgesehenen Niveau, sodass eine signifikante Zunahme der Altersarmut in Deutschland kaum noch abzuwenden ist.


Soziale Mobilität ganz mobil


Dass die private Altersvorsorge in Deutschland bisher nur unzureichend ausgeprägt ist, mag einerseits an der Mehrfachbelastung der sogenannten "Sandwich-Generation" der 35- bis 55-Jährigen liegen, die sich gleichzeitig um die Kindererziehung, die Pflege der eigenen Eltern und die private Altersvorsorge kümmern muss, und sich damit finanziell überfordert fühlt. Andererseits mag auch die Veränderung der sozialen Mobilität eine Rolle spielen, die vor allem die jüngere Generation, aber auch die Sandwich-Generation spüren. Der derzeitige Trend zeigt für junge Menschen eine abnehmende Wahrscheinlichkeit, einen sozialen Aufstieg zu erleben, während die Tendenz, gegenüber dem Elternhaus einen sozialen Abstieg zu erleben, deutlich ansteigt. Die Perspektive auf einen Lebensabend in Armut gehört für einen guten Teil der in Deutschland lebenden Menschen zur Lebenswirklichkeit.  

Für den sozialen Zusammenhalt einer Gesellschaft ist es aber nicht förderlich, wenn eine wachsende Zahl an Menschen das Gefühl nicht abschütteln kann, keine realistische Perspektive auf eine Verbesserung ihrer Lebensumstände zu haben. Für Politik und Gesellschaft stellt sich somit die Frage, wie in Zukunft gesellschaftlicher Friede und Zusammenhalt in Zeiten der Globalisierung ermöglicht werden können. Vorschläge für die Umgestaltung der deutschen Sozialsysteme nach dem Vorbild komplett aus Steuern finanzierter skandinavischer Sozialsysteme oder die radikale Neuausrichtung im Sinne eines allgemeinen Bürgergelds oder bedingungslosen Grundeinkommens werden zunehmend diskutiert. Doch angesichts der immer noch wachsenden Staatsverschuldung und der kaum einschätzbaren Kosten eines Umbaus werden diese Optionen vonseiten der Politik mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht innerhalb der nächsten zehn Jahre umgesetzt werden.  

Unternehmen können über karitative Spenden hinaus Verantwortung übernehmen, indem sie jungen Menschen Einstiegs- und Entwicklungschancen bieten. Dennoch ruht die Verantwortung für den Erfolg junger Menschen weiterhin zuallererst auf den Schultern der Eltern und ihrer eigenen Initiative. Anlass zur Hoffnung bietet allerdings der Aufbau selbst organisierter sozialer Hilfsnetzwerke, die auf Basis von Bürgergruppen und Nachbarschaftsinitiativen entstehen.


Kernthesen


  • Wachstum und Wohlstand in einer nivellierten Gesellschaft, die zentralen Konstitutionsbedingungen der sozialen Marktwirtschaft in Deutschland, erodieren.

  • Sozialer Zusammenhalt und gesellschaftlicher Friede in Deutschland sind im zunehmenden Maße bedroht.

  • Nur ein radikales Neudenken und Umsteuern entlang verschiedener Politikfelder, von der Sozial- über die Arbeitsmarkt- und Bildungs- bis hin zur Wirtschafts- und Forschungspolitik können einer grundlegenden Revision gerecht werden.

  • Gesucht wird eine tragfähige und konsensuale Grundlage für einen nachhaltigen sozialen Zusammenhalt, der Selbstverantwortung, Teilhabe und Chancengerechtigkeit ermöglicht.

 

Folge 5 erscheint in der kommenden Woche. 


changeX 22.10.2013. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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Klaus Burmeister
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Klaus Burmeister ist Gründer und Managing Partner von Z_punkt The Foresight Company.

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Holger Glockner
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Holger Glockner ist Director Foresight Consulting / Member of the Management von Z_punkt.

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Cornelius Patscha
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Cornelius Patscha ist Foresight Analyst bei Z_punkt. Er studierte Volkswirtschaftslehre mit den Schwerpunkten Internationale Wirtschafts-beziehungen und Wirtschafts- und Sozialpolitik an der Christian-Albrechts-Universität Kiel und der Universidad de Logroño in Spanien. Dabei sammelte er Forschungserfahrung in der Entwicklungsökonomie und praktische Erfahrung im Bereich Corporate Foresight.

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