Crossover Society

Zukunftsgestaltung braucht Werte - sonst verfehlt die Entwicklung ihr Ziel.

Von Klaus Burmeister, Andreas Neef und Beate Schulz-Montag

Planlos treibt die Informationsgesellschaft dahin. Der Mensch, der eigentlich in ihrem Mittelpunkt stehen sollte, bleibt auf der Strecke und hadert ohnehin mit der eigenen Entwicklung. Was wir brauchen, ist eine klare Vision einer wünschenswerten Welt.

In so manchem Szenario ist die Informationsgesellschaft eine hoch technisierte und reibungslos funktionierende Welt, in der mobile, gebildete und wohlsituierte Menschen dank intelligenter Vernetzung entspannt das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden können. Diese Informationsgesellschaft macht wirklich Spaß: "information at your fingertips" in der "always-on world", kurz: moderner "digital lifestyle". Unsere technischen Tools zur Informationsbeschaffung und -verarbeitung werden immer smarter, breitbandiger, allgegenwärtiger. Die gelegentliche Berührung des digitalen Universums mit der physischen, der realen, der analogen Alltagswelt offenbart jedoch Zustände, die immer noch vorsintflutlich und regelrecht fortschrittsresistent anmuten. Vernetzte Info-Systeme, intelligente Verkehrstelematik, reibungslose Abläufe in einer hoch technisierten Lebenswelt? Wer daran glaubt, ist lange nicht mehr Bahn gefahren. Schon kleine Störereignisse bringen das komplexe System durcheinander; wer im Zug sitzt (oder verzweifelt darauf wartet, dass der Zug kommt), "erfährt" buchstäblich die tiefe Kluft zwischen den vollmundigen Prophezeiungen von Politik und Industrie und der teilweise grotesken Wirklichkeit der Informationsgesellschaft, die auf Bahnsteigen und in Zugabteilen meist eine Desinformationsgesellschaft ist.

Mythos Informationsgesellschaft.


Ungeachtet der oft schlechten Erfahrungen im Umgang mit den Interfaces und informationstechnisch vernetzten Systemen werden die Mythen der Informationsgesellschaft wie ein Mantra wiederholt: In der Informationsgesellschaft gibt es einen freien Austausch über die globale Datenautobahn, der einen ungehinderten Zugang zu Information und Wissen ermöglicht und so Bildung und Wohlstand für alle schafft. Dabei wird sogar die Umwelt entlastet: dank des papierlosen Büros und einer Senkung des Verkehrsaufkommens durch Telearbeit und Videokonferenzen. Immaterielle Produkte (die per se keine Schadstoffe hinterlassen) bilden den Kern der wirtschaftlichen Wertschöpfung.
So ist es dann leider doch nicht. Zugegeben, die Informationsgesellschaft hat das Entstehen einer wissensbasierten Ökonomie gefördert. Mit neuen elektronischen Interaktions- und Partizipationsmöglichkeiten, durch die prinzipiell jeder Empfänger auch zum Sender werden kann, hat sie die Presse- und Meinungsfreiheit und damit zentrale Bürgerrechte weiter gestärkt. Doch die Produktivitätszuwächse der Informationsökonomie kommen nur einer relativ kleinen Wissenselite zugute, neue Monopole entstehen. Auch führt der Einsatz von Informations- und Kommunikationstechnologien nicht zwangsläufig zu Verbesserungen der Lebensqualität. Viele Menschen erleben die Segnungen des Info-Zeitalters in Form von Informationsüberflutung, Überforderung und Frustration, oftmals bedingt durch die Überkompliziertheit der Geräte und Systeme. Automatisierung schafft dabei nicht nur ein Mehr an Komfort, sondern führt auch zu einer gewissen Entmündigung der Technik-Benutzer. In unserer informationstechnisch durchdrungenen "Autofokusgesellschaft" wird die Option, etwas manuell zu tun, zum Luxus.
Die Informationsgesellschaft ist auch kein Öko-Paradies, sondern bringt neue Umweltbelastungen hervor. Der Papierverbrauch schwillt unvermindert an. Die Verkehrsbelastung nimmt weiter dramatisch zu, insbesondere natürlich im Bereich des Warenverkehrs. E-Commerce und vernetzte Produktionsprozesse bescheren dem Logistiksektor einen Boom und werden bis 2010 zu einer weiteren Verdopplung des Lastverkehrs auf den Straßen führen. Über die andauernde Beleidigung des Menschen durch den Stau kann auch der Internetanschluss im Auto nicht wirklich hinwegtrösten.
Kurz: Die abgebremste Karriere der Informationsgesellschaft zeigt eindrücklich die Janusköpfigkeit, die allen "großen Zukunftsprojekten" zu eigen ist.
So unterschiedlich die Wirkungen der Informationsgesellschaft, so vielfältig sind auch die Strategien, mit ihrer Komplexität umzugehen. Verweigern und offline bleiben sind für einen anhaltend hohen Prozentsatz der Bevölkerung reale Optionen. Für die anderen sind Zappen und Surfen derzeit die erfolgreichsten Bewältigungsversuche. Die unterschiedlichen Strategien von Aneignung, Nutzung und Bewältigung entwickeln sich innerhalb zunehmend segmentierter Teilöffentlichkeiten oder Communities, die sich teils überlagern, teils nebeneinander her existieren (was Jürgen Habermas, Oskar Negt und Alexander Kluge im Übrigen schon lange vor Einführung des kommerziellen Fernsehens und Internets voraussahen). Den großen Mega-Plan für die Gestaltung der Informationsgesellschaft hat es - abgesehen von einigen wenigen Versuchen wie 1993 Al Gores Initiative für eine "National Information Infrastructure" für die USA - indes nie gegeben. Die Bibel der Informationsgesellschaft ist nicht geschrieben worden.

Wissen statt Information: Der Mensch kommt wieder ins Spiel.


Die zwiespältigen Erfahrungen mit der Informationsgesellschaft und ihre ungelösten Probleme im Gepäck, kündet die viel beschworene "Wissensgesellschaft" von neuen Hoffnungen und Perspektiven. Schon 1975 von dem Theoretiker der postindustriellen Gesellschaft Daniel Bell postuliert, soll sie aus der Sackgasse der IT-Bezogenheit und der Informationsüberlast herausführen. Die neue Qualität der Wissensgesellschaft gegenüber der Informationsgesellschaft liegt vor allem darin, dass in der Wissensgesellschaft der Mensch als handelndes Subjekt mit all seinen Erfahrungen, Intuitionen und Erinnerungen ins Spiel kommt. Erst die bewusste Verarbeitung, Auswahl, Bewertung und Verknüpfung von Informationen zu etwas Neuem, zu Ideen, Problemlösungen und Handlungen, zu Produkten und Dienstleistungen lassen "Wissen" entstehen. Eine Kulturleistung, die bislang - und daran haben auch die Fortschritte der Künstlichen Intelligenz nur bedingt etwas geändert - nur der Mensch zu vollbringen in der Lage ist.
Dieses Wissen ist an Subjekte (Individuen, Institutionen) gebunden. Im Gegensatz zu materiellen Ressourcen verbraucht sich Wissen durch seine Nutzung nicht, sondern vermehrt sich, indem es mit anderen Subjekten geteilt wird. Wenn alle Mitarbeiter eines Software-Konzerns gleichzeitig kündigen würden, so bliebe von diesem nichts übrig als einige wertlose Schreibtische, Computer und Bürogebäude.
Aber auch die an die Ressource Mensch gebundene Wissensgesellschaft leidet unter Überangebot an Informationen, der Fülle an Stoff, aus dem Wissen entstehen könnte. Die Folge: "information fatigue" angesichts einer ständigen Informationsüberlastung. Was also tun? Schneller lesen, quer lesen ("browsing"), Informationen parallel aufnehmen ("multitasking"), Informationen komprimieren, filtern - oder einfach noch länger arbeiten, weil die Zeit nicht reicht? All diese Strategien der Informationsverarbeitung führen erfahrungsgemäß schnell an unsere physische Grenzen. Und schließlich geht es in der Wissensgesellschaft eben nicht darum, immer größere Mengen an Informationen in immer kürzerer Zeit aufzunehmen, sondern darum, das Aufgenommene auch zu verstehen. Informationen müssen stets durch den Flaschenhals individueller Aufmerksamkeit. Und diese lässt sich (noch) nicht endlos steigern.
Die Verkünder der Wissensgesellschaft fordern daher, den Menschen zukünftig genau in denjenigen Fähigkeiten zu stärken, die ihm einen souveränen Umgang mit der informationell bedingten Unübersichtlichkeit gestatten. Hinzu kommt die Stärkung ethischer Entscheidungskompetenz: Im kommenden Zeitalter von Bio-, Gen- und Nanotechnologie stellen sich normative Fragen, etwa die nach dem richtigen Umgang mit menschlichem Leben, verschärft - und die lassen sich nun einmal nicht allein mit Faktenwissen beantworten.
Drittens schließlich die Stärkung kulturellen Wissens: Weltumspannende Kommunikationsnetze und eine globalisierte Ökonomie führen, auch wenn uns die kommerziellen Oberflächenphänomene einer globalen Markenkultur dies suggerieren mögen, nun einmal nicht automatisch zu einer globalen Kultur. Im Gegenteil: Menschen, Regionen und Religionsgemeinschaften ringen heute mehr denn je um ihre kulturelle Identität. Das verlangt von jedem Einzelnen ein breites kulturelles Wissen - auf Gebieten wie Geschichte, Religion, Kunst und Literatur, Philosophie und Moral, Wissenschaft und Technik.
Der Mensch muss also wieder in den Mittelpunkt rücken, das haben nicht nur die Apologeten der Wissensgesellschaft inzwischen erkannt, sondern auch die Erfinder anderer X-Gesellschaften. Der Empiriker der Spaß-, Erlebnis- und Freizeitgesellschaft Horst W. Opaschowski zitiert eine repräsentative Umfrage aus dem Jahr 2001 (Freizeit-Monitor): Was heute und in Zukunft wichtig sei und sowohl dem Individuum als auch der Gesellschaft Stabilität verleihe, seien vor allem drei Werte: Hilfsbereitschaft (sagen 57 Prozent der über 14-Jährigen), menschliche Wärme (54 Prozent) und soziale Gerechtigkeit (51 Prozent).
Nach den Enttäuschungen der Informationsgesellschaft mutet die Wissensgesellschaft also irgendwie sympathisch an: Sie bringt den Menschen in Stellung gegen den eher technologisch dominierten Ansatz der Informationsgesellschaft.
Wir müssen uns aber eingestehen, dass ihre Gestaltungskraft (und damit die Halbwertszeit ihrer öffentlichen Wahrnehmung) eher als gering einzuschätzen ist: Ihre Vertreter fordern zwar eine neue Werteorientierung, bieten aber keine Bezugspunkte, wie und woraus sich diese konstituieren könnte.
Außerdem taugt die von ihnen verkündete Wissensgesellschaft wegen ihres teilweise naiven Rückgriffs auf die Bedeutung des individuellen Wissens nur bedingt als Bezugsrahmen, um die neuen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu meistern: Schließlich droht nicht nur die Gesellschaft immer mehr aus den Fugen zu geraten, auch unsere Vorstellung vom Menschen selbst wird massiv in Frage gestellt.

Was aber bleibt vom Menschen?


Vor knapp zwei Jahren entbrannte die alte Diskussion um den Einfluss neuer Technologien auf die menschliche Evolution erneut. Auslöser war Bill Joys Aufsatz "Why the future doesn't need us" im amerikanischen Kult-Magazin Wired. Aufbauend auf den Thesen des Robotik-Philosophen Hans Moravec malte Joy ein Horrorbild: Der Mensch sei durch Nano-, Gen- und Robotiktechnologien und unter den Bedingungen weiterhin exponentiell wachsender Rechnerleistungen auf dem besten Wege, sich selbst abzuschaffen. Oder sich zumindest stark zu verändern. Warum in Zukunft überhaupt noch die Mühsal des Lernens auf sich nehmen? Unser Gehirn, mit Hilfe nichtbiologischer Intelligenz aufgerüstet, wäre dann in der Lage, sich Wissen direkt aus dem Computer ins Gehirn herunterzuladen. Und wenn der Mensch an seine natürlich-biologischen Grenzen gerät, taub, blind, krank oder einfach nur alt wird - kein Problem: Teile unseres Gehirns oder Nervensystems werden durch Elektronik-Implantate ersetzt, Krebszellen durch Nanobots zerstört und neue Gewebe oder Organe aus Stammzellen einfach nachgezüchtet. Der Mensch als Cyborg, als kybernetischer Organismus, in dem sich die Grenzen zwischen natürlichen und künstlichen Anteilen verwischen.
Doch gemach. Ganz so nah ist diese Zukunft nun auch wieder nicht. Und weder Intelligenz noch Lernprozesse biologischer Systeme sind bislang ausreichend untersucht worden, als dass man in der Lage wäre, diese in künstlichen Systemen nachzubilden.
Ähnlich verhält es sich mit der Genforschung. Als im Februar 2001 das menschliche Genom mit einem großen Paukenschlag als "entschlüsselt" gefeiert wurde, war den wenigsten bewusst, dass die Genom-Forschung noch ganz am Anfang steht.
Es reicht eben noch nicht, die Abfolge der DNA-Bausteine zu kennen, um zu wissen, was den Menschen ausmacht. Die Kartografierung der DNA ist also ein vergleichsweise kleines Unterfangen verglichen mit der Aufgabe, sie auch zu interpretieren und zu verstehen. Bekanntlich besteht das Paradox der Wissensgesellschaft darin, dass mit dem Aufdröseln von Nichtwissen in handhabbare Lösungen und bearbeitbare Probleme zugleich immer auch neues Nichtwissen erzeugt wird, wobei das Nichtwissen schneller wächst als das Wissen. Möglicherweise stehen wir nach der Entschlüsselung des Proteoms also wieder vor ganz neuen Fragestellungen.
Andererseits: Wie lang oder kurz die Zeithorizonte auch sind, innerhalb derer sich die genannten Entwicklungen vollziehen werden, ist letztlich nebensächlich. Der Trend weist jedenfalls in dieselbe Richtung: Der Mensch ist auf dem Weg, die Evolution in die eigene Hand zu nehmen, statt sie dem Zufall zu überlassen. Auch wenn solche Zukunftsvisionen wie Stoff für Science Fiction und Horrorschocker klingen, möge man sich vergegenwärtigen, dass diese Entwicklungen faktisch stattfinden und vorangetrieben werden. Nicht erst seit heute wird menschliches Leben durch Technologie transformiert. Der Mensch ist in diesem Prozess aktiv gestaltender Treiber und passiv Getriebener zugleich.

Zukunftsgestaltung braucht Werte - und Engagement.


Der Bundestag hat in diesem Jahr nach langem Ringen einen Kompromiss mit strengen Auflagen zum Import von Stammzellen verabschiedet, die aus menschlichen Embryonen gewonnen wurden. Er hat damit Entscheidungen getroffen, die politisch konsensfähig sind.
Die wirklich heiklen Fragen wurden jedoch abermals in die Zukunft vertagt: Wo beginnt menschliches Leben? Wo endet es? Worin besteht es überhaupt? Und schließlich: Wie will und wie soll die Gesellschaft in Anbetracht des zu erwartenden wissenschaftlich-technischen Fortschritts mit solchen Problemen umgehen? Also wird derzeit überall nach neuen Werten gerufen. Ethik liegt im Trend.
"Der Horror vor der normentleerten Welt wird gerne mit der Rede von den �Werten' zugedeckt", schreibt Gero von Randow in der Wochenzeitung Die Zeit. Aber um welche Werte kann es eigentlich noch gehen, wenn, wie am Beispiel "Embryonenschutz" sichtbar wird, "Ethik-Dumping" längst zum Standortfaktor geworden ist? Die Gebote Gottes, Ekel vor dem Unnatürlichen, Schutz der Natur oder gar der Menschenwürde?
Am Beispiel der Bio- und Gentechnologie wird deutlich, dass die Grundfeste unseres tradierten Moral- und Wertesystems längst einem morastigen Untergrund gewichen ist, auf dem wir, nach festen Trittstellen suchend, nur mehr von Problem zu Problem tappen. Was für die einen ein bloßer Zellhaufen ist, ist für die anderen ein bereits schützenswertes Individuum, was für die einen eine krankheitsverhindernde Keimbahntherapie ist, ist für die anderen ein unzulässiger Eingriff in die Schöpfung.
Die Fortschritte in den Lebenswissenschaften erfordern aber eine klare Haltung. Wer kann aber schon wirklich gegen die Stammzellentherapie sein, wenn sie dazu beiträgt, Menschenleben zu retten? Wollte heute noch irgendjemand Organtransplantationen in Frage stellen oder das Abschalten der Herzschrittmacher fordern? Warum in Gottes Namen (!) soll es nicht sinnvoll sein, dass man Kinder durch Chipimplantate für die Wettbewerbsanforderungen der Zukunft "aufrüstet"? Warum verlängern wir das Leben von Menschen in einer alternden Gesellschaft, wenn die Gesellschaft sich Alter und Krankheit immer weniger leisten kann?
Die "essentielle Unbestimmtheit und formbare Weichheit der Welt" (so der polnische Soziologe Zygmunt Bauman) ist ein Kennzeichen der postmodernen Welt, in der wir leben. Alles scheint beliebig, alles scheint gestaltbar, alles möglich. "Design yourself" ist Mythos und einzig erkennbarer Angelpunkt zugleich. Aber haben wir denn überhaupt eine Idee, wie und womit wir das Gestaltungsvakuum positiv füllen wollen? Was fangen wir an mit der Freiheit und den Möglichkeiten, die uns die neuen Technologien bescheren?
An dieser Stelle muss Gesellschaft wieder bewusst ins Spiel gebracht werden, als notwendiger Orientierungsrahmen für die individuelle Lebensgestaltung. Ob diese dann mit dem Label Informations- oder Wissensgesellschaft versehen, als Dream oder Network Society charakterisiert wird, ist nicht entscheidend.
In der Realität existieren alle diese Teilgesellschaften oder Entwicklungsdimensionen parallel, sie durchdringen und beeinflussen sich gegenseitig. Und jede dieser Gesellschaften hat ihre Propheten und ihre Kritiker, ihre Helden und ihre Verlierer. Wenn man möchte, könnte man, einen aktuellen Begriff aus der Musik aufgreifend, von einer zukünftigen "Crossover Society" sprechen. Ob diese auf Vielfalt und Komplexität programmierte Gesellschaft dann die geforderten Orientierungs- und Integrationsleistungen überhaupt erbringen kann, ist jedoch zu bezweifeln.

Eine fatale Eigendynamik.


Dennoch sind echte Alternativen derzeit nicht in Sicht. Warum? Trotz der vermeintlichen Freiheiten leben wir in einer Gesellschaft, die zwar die Vielfalt predigt, aber den Versuch, gegen den Strich zu denken, behindert oder zumindest nicht unterstützt. Als Kinder der 70er und 80er Jahre befriedigt uns das selbstverständlich nicht. Wir beharren auf dem Standpunkt der Einmischung und der (Mit-)Gestaltung. Die Verantwortungsethik des Konzepts einer nachhaltigen Entwicklung steht uns dabei näher als ein Laissez-faire-Regime, als eine grenzenlose De-Regulierungslitanei, die doch nur ihre eigene Phantasielosigkeit kaschiert.
Nüchtern betrachtet, entwickelt sich die Welt, getrieben von den Fortschritten in Wissenschaft und Technik, dem Verkehr von Waren und Kapital sowie der Politik, besonders in Zeiten der Kriege. Die Erfolge der Wissenschaft unterliegen einer starken Eigendynamik und werden immer stärker zur eigentlichen Antriebskraft. Entdeckungen, Erfindungen und Innovationen - einmal in die Welt gebracht, bestimmen sie Art und Tempo gesellschaftlicher Entwicklung.
Doch wer wollte die Freiheit der Forschung aufhalten? Was technisch möglich ist, wird auch gemacht (werden). Wenn wir es nicht machen, machen es eben die anderen. Die Gesellschaft regelt dann die Folgen oder passt die Wirklichkeit den neuen Verhältnissen an.
Der Wandel vollzieht sich allerdings so rasant, dass die Gesellschaften und ihre Adaptionsmechanismen stets rettungslos hinterherhinken. Schon der Philosoph Günther Anders erkannte vor bald einem halben Jahrhundert: Wir können mehr herstellen, als wir uns vorstellen können.
Was bleibt, ist ein fatales Dilemma: Die wissenschaftlich-technische Entwicklung versetzt uns in die Lage, selbst Schöpfer und Gestalter unserer Welt zu sein; nur schwindet mit der Vision grenzenloser Machbarkeit die Vorstellung von einer wünschbaren Welt. Es bleibt ein Unbehagen vor der Freiheit, die wir meist nur negativ dadurch zu gestalten wissen, dass wir artikulieren, was wir nicht wollen.
Der junge mazedonische Theaterregisseur Galin Stoev sagt in einem Interview: "In der Post-Informationsgesellschaft wird Phantasie zum wertvollsten Kapital werden." Recht hat er. Machen wir uns nichts vor, von den drängenden Fragen, die die Weiterexistenz der Menschheit auf diesem Planeten entscheiden werden, von der globalen Klima-Problematik über die Ressourcen-Knappheit und weltweite Aufrüstung bis hin zur wachsenen Schere zwischen Arm und Reich, ist keine einzige wirklich gelöst, das zeigt der aktuelle Bericht des Worldwatch Institute deutlich.

Gestaltungskraft sinnvoll nutzen.


Um diese komplexen Probleme nur annähernd bewältigen zu können, brauchen wir viel Mut, Kreativität und soziale Kompetenzen, vor allem aber eine gut entwickelte Diskurskultur, um immer wieder neu und konsensual die Bedingungen auszuhandeln, unter denen wir Technologien zulassen und sinnvoll nutzen. Und hier gibt es, trotz globaler Märkte und Handelswege, weltweit vernetzter Communities (mittlerweile sind allein mehr als 24.000 NGOs auf internationaler Ebene tätig) und politischer Institutionen, kurz: einer Vielzahl von Bühnen, auf denen so viel kommuniziert wird wie nie, noch eine Menge zu tun.
In den vergangenen Jahrzehnten wurde dem Aufbau von - technologischen wie sozialen - Netzwerken sehr viel Aufmerksamkeit und Energie gewidmet. Die Gestaltungskraft der puren Vernetzung wurde jedoch überschätzt. Um die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu bewältigen, muss es jetzt darum gehen, die Netzwerke im positiven Sinne handlungsfähig zu machen. Dafür brauchen wir kreative Verknüpfungen, sinnstiftende Zusammenhänge zwischen Menschen und Kulturen sowie Kooperationsbeziehungen, die von Verantwortungsbewusstsein und gegenseitiger Achtung geprägt sind. Darüber hinaus müssen wir neue institutionelle Arrangements treffen, die eine gleichberechtigte Teilhabe der unterschiedlichen Interessengruppen gewährleisten.
Bei allem bleibt zu bedenken, dass die Entwicklungsmöglichkeiten der Gesellschaft immer auch von den ökonomischen Rahmenbedingungen bestimmt werden. Allzu oft gehen unsere Zukunftsprojektionen stillschweigend vom Zustand anhaltender Prosperität und damit von linearen Fortschritten und "weichen" Übergängen aus. Realistische Zukunftsentwürfe müssen jedoch auch mögliche Störereignisse und denkbare Brüche in der gesellschaftlichen Entwicklung mitdenken, um zu tragfähigen Umsetzungsstrategien zu gelangen. Was wir also brauchen, sind Innovationen, die neben dem technischen Fortschritt auch bewusst soziale und kulturelle Neuerungen umfassen.
Diese Formel mag wenig innovativ klingen, aber vielleicht ist gerade das Überdenken unserer zwanghaften Technologie-Fixierung schon ein wichtiger Schritt zu einem vernünftigeren Umgang mit unserer Zukunft.

Klaus Burmeister, Andreas Neef und Beate Schulz-Montag sind Zukunftsforscher und Gesellschafter der Z_punkt GmbH Büro für Zukunftsgestaltung in Essen, Karlsruhe und Berlin. Sie beraten Großunternehmen bei der Erarbeitung von Langfriststrategien und im Bereich des Innovationsmanagements.

Buchtipp:
Dieser Beitrag ist eine gekürzte Leseprobe aus Was kommt nach der Informationsgesellschaft?, dem aktuellen Buch der Bertelsmann Stiftung (Gütersloh 2002, 308 Seiten). Mit freundlicher Genehmigung der Autoren.

www.z-punkt.de
www.bertelsmann-stiftung.de

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