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Experte für sich selbst

Jeder Mensch trägt das Wissen über seine eigenen, für ihn passenden Lösungen in sich - ein Interview mit Iris Fischer
Interview: Winfried Kretschmer

Die Zeit besser planen, sich mehr bewegen, Sport treiben, soziale Kontakte pflegen, Achtsamkeitsübungen, Meditation. Was wird Burnout-Gefährdeten nicht alles nahegelegt, um ihre Situation zu verbessern. Alles wohlmeinende Ratschläge, die meist nicht viel nützen, oft aber die Lage verschlimmern, sagt eine Coachin. Bei der Suche nach eigenen, passenden Lösungen soll ein neues Coaching-Tool helfen, das "Burn-0-Meter". Was das ist? Wir haben nachgefragt.

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Burn-0-Meter? Wie bitte? Was beim ersten Hören etwas befremdlich klingt, erschließt sich beim näheren Hinsehen: Es handelt sich um ein Coaching-Tool für die Burnout-Prävention, das die individuelle Ausprägung von Resilienzfaktoren in Form einer auf dem Boden markierten Skala visualisiert und erfahrbar macht. Eine Art "begehbares Resilienzfeld" gewissermaßen. Entwickelt hat das Tool die systemische Supervisorin Iris Fischer. Im Interview erläutert sie die Hintergründe der Methode.
Iris Fischer ist Systemische Coachin, Business Coach, Supervisorin und Dozentin mit eigener Firma HRC - HumanResourcesConsulting in München.
 

Burnout. Ausgebranntsein, Zustand der totalen Erschöpfung. Üblicherweise ein Fall für fremde Hilfe, richtig? 

Üblicherweise - ja. Denn wer sich im Hamsterrad einer individuellen Überforderungssituation dreht, findet nur selten alleine den Ausstieg oder gewinnt dauerhaft inneren Abstand. An Ratgeberliteratur zur Selbsthilfe mangelt es zwar nicht, doch fokussiert diese meist auf Wohlbekanntes wie "die Zeit besser planen", "sich ausreichend bewegen", "Sport treiben", "mehr soziale Kontakte pflegen", "Achtsamkeitsübungen erlernen" und so fort.
 

Was ist falsch an diesen wohlbekannten Ratschlägen? 

Für die meisten Menschen stellen solche Ratschläge zusätzliche Aufgaben dar, die erledigt werden wollen. Sie treiben deshalb das Hamsterrad eher an, als es zu stoppen. Zum Gefühl der totalen Erschöpfung kommen im schlimmsten Fall noch Versagens- und Schuldgefühle hinzu: innere Selbstgespräche im Sinne von "Ich schaff das einfach nicht!" oder "Das kann ich doch nicht, das ist ja mein Problem!", was wiederum die Erschöpfungsspirale und das Gefühl des Ausgeliefertseins verstärkt ...
 

... wie kommt man da raus? 

Die meisten Menschen wählen den Weg, sich nach weiterer Ratgeberliteratur umzusehen. Anstelle des ersten dicken Wälzers mit tausend Tipps greifen sie dann zur Taschenbuchvariante, sie versuchen, zum x-ten Mal Zeit für Sport einzuplanen oder nun wirklich einen Yoga-Kurs zu belegen. Die Erfolgsquote ist jedoch recht gering - denn etwas, was nicht aus einem selbst heraus entstanden ist und nicht wirklich zu einem persönlich passt, wird meist nur aus schlechtem Gewissen übernommen - und meist bald wieder eingestellt. Das ist ähnlich wie der Jo-Jo-Effekt bei Diäten - hinterher hat man schlimmstenfalls ein paar Kilo mehr, die Situation aber ist unverändert, die Frustration darüber meist gestiegen.
 

Warum verfehlen solche Ratschläge ihre Wirkung? 

Diese Ratschläge sind gut gemeint und im Grunde auch richtig. Aber es sind alles Ratschläge über den Kopf des Betroffenen hinweg. Ihm fehlt es aber vielleicht am Zugang, an der Zeit, am Wissen et cetera. Und die geballte Ladung an Ratschlägen zur Stressreduktion und Burnout-Prävention trifft dann mit vielen kleinen Pfeilen gleich auf unseren Ratsuchenden - und hinterlässt im besten Fall ein inneres Seufzen, löst aber im schlimmeren Fall eine negative Selbstbezichtigungsspirale aus: "Ich bin einfach zu phlegmatisch, zu unsportlich, zu einzelgängerisch." Also ein Sich-Ergeben in das vermeintliche Unfähigsein, das vermeintliche "Falschsein". Das verstärkt die Hoffnungslosigkeit nur.
 

Es gibt eine grundsätzliche Kritik an der Haltung, die hinter solchen Ratschlägen steckt? 

Meine grundsätzliche Kritik enthält zwei Punkte: Das Ungute an diesen gut gemeinten Ratschlägen ist, dass sie nach dem Gießkannenprinzip über dem Ratsuchenden ausgegossen werden und damit die Situation verstärken können. Hilfreicher ist es, sich am Individuum zu orientieren, an der spezifischen Situation des Ratsuchenden selbst, und diesen dabei zu begleiten, die für ihn passenden Lösungen zu (er)finden und umzusetzen. 

Zum anderen wissen wir aus der systemischen Wissenschaft, der Coaching-, Therapie- und Beratungsforschung um die Unmöglichkeit einer gelingenden Intervention in Menschen als autopoietische, sich selbstreferenziell erhaltende "bio-psycho-physische Systeme". Ich kann als "Umwelt" des anderen so viele gute Ratschläge geben, wie ich mag - sie werden selten ankommen und werden noch seltener nachhaltig umgesetzt.
 

Das heißt, die Lösung kann nicht von außen kommen, nur von innen? 

Jeder Mensch trägt das Wissen über seine eigenen, für ihn passenden Lösungen in sich: Jeder ist Experte für sich selbst. Das gilt auch und gerade, wenn es um Burnout-Prävention und "ein gutes, bekömmliches Leben" geht. Es gibt keine vorgefertigten Lösungen, die Coachs und Berater Burnout-gefährdeten Klienten vermitteln müssten.
 

Was zeichnet eine systemische Vorgehensweise in der Burnout-Prävention aus? 

Genau das Gegenteil der beschriebenen unguten Vorgehensweise. Die Aufgabe des Coachs ist es, den Menschen zu unterstützen, einen Zugang zu seinen eigenen Kenntnissen und Fähigkeiten zu finden und eigene Lösungen zu erarbeiten. "Systemisch" heißt: Informationssammlung gemeinsam mit dem jeweiligen Individuum; Orientierung am jeweiligen individuellen Kontext, also den äußeren und inneren Rahmenbedingungen; Fokussierung auf individuell-subjektiv passende Lösungen sowie achtsames Begleiten beim (Er-)Finden hilfreicher Ressourcen und Fähigkeiten. Dies alles basierend wie gesagt auf dem Wissen um die Unmöglichkeit einer gelingenden Intervention in Menschen.
 

Was zeichnet resiliente Menschen aus? 

Resiliente Menschen durchleben ebenso anstrengende und energiezehrende Lebenssituationen wie alle anderen. Dennoch gelingt es ihnen, sich nicht davon bestimmen zu lassen. Sie haben keine Neigung zur Selbstüberforderung, sie achten auf ihre Schonung und berichten selten von Erschöpfungserleben. Sie erkennen die Anforderungen an und schwingen gefühlsmäßig mit. Und schaffen es gleichzeitig, sich in einem für sie selbst stimmigen Ausmaß von den Geschehnissen zu distanzieren. So kommen sie besser durch schwierige Zeiten.
 

Distanzieren heißt, Abstand zu gewinnen? 

Ja, das bedeutet jedoch kein innerliches Weglaufen von den belastenden Gedanken oder Situationen. Und auch kein zwanghaftes übertrieben positives Denken. Sondern eine Balance aus beidem: ein Anerkennen dessen, was gerade ist, und gleichzeitig ein Erkennen der Möglichkeiten des eigenen Lebens. Also: "Es ist eben gerade so. Und das ist belastend. Und ich habe schon vieles bewältigt und werde auch durch diese Situation kommen. Die Welt dreht sich weiter, und morgen ist ein neuer Tag und nächstes Jahr ein anderes Jahr. Und neben dieser belastenden Situation habe ich gleichzeitig weiterhin vieles andere, was mich erfreut und mir guttut." Das bedeutet, dass resiliente Menschen ihr Leben anders bewerten, anders wahrnehmen und dadurch auch anders gestalten.
 

Resilienz hat man. Resilienz kann man entwickeln. Welche der beiden Aussagen ist richtig? 

Meiner Meinung nach stimmen beide Aussagen. Es gibt Menschen, die mit einer für sie passenden Resilienz im Leben stehen. Und es gibt andere, die diese nach und nach entwickeln können.
 

Wie entwickelt man Resilienz? 

Mein Rezept hierfür lautet: durch Umfokussieren auf die Lösung, ohne die aktuelle Situation aus dem Blick zu verlieren, durch Erkennen der eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten, und vor allem durch "sich selbst Erlaubnisse geben". Es geht darum, die eigene Passung zu finden. Jeder Mensch sollte für sich selbst erkennen, welche Ausprägung der Resilienzfaktoren für ihn in seinem beruflichen und privaten Umfeld geeignet und bekömmlich ist.
 

Was ist nun das Burn-0-Meter? Das ist eine ungewöhnliche Bezeichnung ...  

Das Burn-0-Meter ist eine systemisch-fundierte Coaching-Struktur, durch deren Einsatz der Coach oder Therapeut dem Coachee ermöglicht, sein persönliches "Resilienzfeld" zu finden und auch Wege dorthin. Es ist eine visualisierte Skala, ähnlich einem Thermometer, auf der der Coachee entlangläuft und so über mehrere Sinne erfährt, welche Ausprägung sich für ihn bekömmlich anfühlt.
 

Was zeichnet diese Methode aus? 

Neben dem durchgehend systemischen Ansatz, also dem Eingehen auf die individuelle Situation mit den individuellen Rahmenbedingungen und Fähigkeiten, vor allem das lösungsorientierte Umfokussieren: weg von der Angst vor Burnout, hin zur Vorfreude aufs Wohlergehen. Und nicht zuletzt das Arbeiten im Gehen und das Erspüren der individuell passenden Ausprägung der drei relevantesten Resilienzfaktoren: passendes Perfektionsstreben, passende Distanzierungsfähigkeit, ausreichend schöne Erlebnisse.  

Die aktuellen Erkenntnisse der Neuropsychologie bestätigen indirekt die Wirksamkeit dieses Coachings: Wenn andere Regionen des Gehirns aktiviert werden und diese Zellen häufiger "miteinander funken", stabilisieren sich diese Verbindungen. Eine verbesserte Balance und eine erhöhte "Bewältigungs- und Lebensgelassenheit" stellen sich ein, vielleicht sogar ein Wohlergehen.
 

Was ist neu daran? 

Die radikale Einfachheit und eben das Umfokussieren weg von der Angst hin zur Freude auf Resilienz. Das wirkt einfach, ist jedoch hochkomplex. Und hochwirksam, wie mir Coaches und Therapeuten berichten, die mit dieser Methode bereits arbeiten.
 

Welche Haltung erfordert das vom Coach? 

Positive Neugier auf die Wirklichkeitskonstruktionen des Coachees und dessen Fähigkeiten, Offenheit für dessen Ideen und Erkenntnisse - also eine Haltung des "wohlwollenden Nicht-Wissens". Nur wenn der Coach auf jedwede Bewertung, Vorannahme oder Zuschreibung verzichtet, kann sich der Coachee wirklich selbst reflektieren, entdecken und entfalten. Der Coach ist Experte für die Methode und die Begleitung, der Coachee Experte für sich selbst, sein Leben, seine Ideen, sein Wissen, seine Wünsche, seine Fähigkeiten.
 

Noch mal das Wichtigste ganz kurz? 

"Statt sich in den Burnout drehen, einmal andere Wege gehen." Dabei heißt es übrigens bewusst "einmal" und nicht "einfach" - denn einfach ist es nicht, eingeschliffene Verhaltens- und Denkweisen zu verändern oder neue hinzuzunehmen. Es wird auch nicht immer gelingen, und auch nicht immer durchgehend. Doch wer es einmal gespürt und erfahren hat, wie es sich anfühlt, wird es sich immer öfter gönnen und erlauben wollen!
 

Das Interview haben wir schriftlich per E-Mail in einer Frage- und einer Nachfragerunde geführt.
 


Zitate


"Ich kann als ,Umwelt‘ des anderen so viele gute Ratschläge geben, wie ich mag - sie werden selten ankommen und werden noch seltener nachhaltig umgesetzt." Iris Fischer: Experte für sich selbst

"Jeder Mensch trägt das Wissen über seine eigenen, für ihn passenden Lösungen in sich: Jeder ist Experte für sich selbst." Iris Fischer: Experte für sich selbst

"Es gibt keine vorgefertigten Lösungen, die Coachs und Berater Burnout-gefährdeten Klienten vermitteln müssten." Iris Fischer: Experte für sich selbst

"Der Coach ist Experte für die Methode und die Begleitung, der Coachee Experte für sich selbst, sein Leben, seine Ideen, sein Wissen, seine Wünsche, seine Fähigkeiten." Iris Fischer: Experte für sich selbst

 

changeX 18.12.2015. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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Quellenangaben

Autor

Winfried Kretschmer
Kretschmer

Winfried Kretschmer ist Chefredakteur und Geschäftsführer von changeX.

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