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Wir nennen es Wirtschaftsdemokratie

Es ist eine Frage des Menschenbildes, wie wir Wirtschaft organisieren – ein Interview mit Gernot Pflüger.
Text: Winfried Kretschmer

Ein anderes Unternehmen ist möglich. Gernot Pflüger leitet seit 19 Jahren eine Firma, die gänzlich anders organisiert ist: ohne Chef und ohne Hierarchie, mit einer demokratischen Beteiligung der Mitarbeiter an den Entscheidungen, totaler Transparenz aller Vorgänge und einem Einheitsgehalt für alle. Kurzum: als Wirtschaftsdemokratie.

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Gernot Pflüger ist Inhaber und Co-Geschäftsführer der Veranstaltungsfirma CPP in Offenbach. Über deren hierarchiefreie und demokratische Organisationsform hat er ein Buch geschrieben: Erfolg ohne Chef.

Herr Pflüger, lassen Sie mich in die Rolle des Skeptikers schlüpfen: Ein Unternehmen ohne Chef, geht das denn?
Letztlich geht es mehr um Institutionen und um die damit einhergehenden Rollenbilder als darum, völlig frei und ohne eine letzte Entscheidungsinstanz als Unternehmen zu agieren. Insofern wendet sich unsere Firmenkultur mehr gegen die institutionelle Rolle eines Chefs als gegen den Chef als Chef.

Und wenn einer Ihrer Mitarbeiter Chef zu Ihnen sagt, dann ist das als Schimpfwort gemeint, schreiben Sie?
Wenn jemand Chef zu mir sagt, dann ist das auf Deutsch gesagt ein Synonym für „Arschloch“. Dann will mir mein Kollege sagen, dass ich mich in irgendeiner Form falsch verhalten habe, dass ich ihn nicht ernst genommen habe oder dass ich gerade dabei bin, einen Fehler zu begehen. Chef ist bei uns in der Firma tatsächlich ein Schimpfwort.

Man könnte nun sagen: Ohne Chef, das mag in einem kreativen Laden wie dem Ihren funktionieren, aber Industrie, Handel, normaler Mittelstand – no way! Was sagen Sie?
Ich würde das verneinen. Unser Arbeitsleben ist von einem Menschenbild geprägt, das in keiner Weise den Realitäten standhält. Und das wir interessanterweise auch nur im Arbeitsleben praktizieren. Da wird davon ausgegangen, dass der Mensch doch nicht Herr seiner eigenen Angelegenheiten ist und nicht von zwölf bis Mittag schauen kann. Und dass man ihn kontrollieren, in einer Hierarchie verwalten und permanent überprüfen muss. Hier liegt der Widerspruch, der nicht nur für die Kreativbranche gilt, sondern für jedes Unternehmen. Tatsächlich ist es so, dass Selbständigkeit, Mitgestaltung, Mitbestimmung und Eigenverantwortung in jeder Branche positive Wirkung entfalten. Jedes noch so kleine Quantum an Freiheit und Verantwortung, das man den Leuten gibt, wird in der Praxis honoriert. Aber unser klischeehaftes Menschenbild redet uns immer noch etwas anderes ein. Das sagt: „Freiheit und Demokratie im Arbeitsleben, das funktioniert nie!“ Obwohl gerade bei den sehr erfolgreichen Unternehmen die Realität etwas anderes sagt.

Der klassische Einwand: Man kann die Leute doch nicht einfach machen lassen, die legen sich doch auf die faule Haut!
Diese Klischees sagen: „Der Mensch muss beaufsichtigt werden! Wenn er nicht beaufsichtigt wird, dann wird er faul, und dann ist er nicht mehr produktiv.“ Umgekehrt wird ein Schuh daraus: In Wirklichkeit bieten gerade starre hierarchische Systeme hervorragende Möglichkeiten, Freiräume zu erobern und dort Dienst nach Vorschrift zu leisten. Hinzu kommt: Diese verschiedenen Ebenen der Zuständigkeit, die auch genau definieren, was man sagen darf und was nicht, sind ein Riesenhindernis für Flexibilität und Innovation.

Das heißt, eine Organisation, die ohne Hierarchie auskommt, setzt die Potenziale ihrer Mitarbeiter weit besser frei als eine hierarchische Organisation?
Exakt. Früher, als ich selbst als Angestellter gearbeitet habe, hat es mich immer wieder verwundert, wie wenig da wirklich gearbeitet wird. Da muss man visibel sein, um in den Hierarchien voranzukommen. Man muss schauen: Welche Leute müssen mich kennen und müssen einen Namen mit meinem Gesicht verbinden? Mit wem muss ich mich verbünden? Und, und, und ... Das ist ja alles letztlich Zeit, die überhaupt nicht in das Ergebnis der Firma eingeht! Es ist unglaublich, welch enormes Quantum an Produktivität und Effektivität freigesetzt wird, wenn man den ganzen hierarchischen Kram im Arbeitsleben weglässt! Kein: „Guten Morgen, Chef. Ich fand Ihren Vortrag gestern super. Der hat mich wirklich inspiriert!“ (lacht). Sondern hier wird auf kleinem Dienstweg kommuniziert. Man hat hierarchisch nichts zu gewinnen oder zu verlieren. Man ist Projektleiter immer nur auf Zeit, und nur dadurch legitimiert, dass man sich in einem bestimmten Bereich besser auskennt als andere – wir nennen das „Kompetenzhierarchie“.

Konkret: Wie gehen Sie mit unterschiedlicher Leistung und Leistungsbereitschaft um?
Wir Menschen sind ja nicht alle gleich, nicht gleich leistungsfähig und vor allem nicht immer gleich leistungsfähig. Es kommt regelmäßig vor, dass hier jemand „seine Krise hat“, wie man das so schön ausdrückt, und eine Zeit lang nicht mit dem gewohnten Druck arbeitet. Dann übernehmen Kollegen einen Teil seiner Tätigkeiten. Aber irgendwann auf Kollegenebene heißt es dann: „Jetzt ist mal gut, jetzt hat der lange genug Krise gehabt!“ Man geht auf den zu, und von Gleich zu Gleich wird gesagt: „Mein lieber Freund: Jetzt bitte wieder! Ich habe es satt, deine Arbeit mit zu erledigen!“ Interessant ist – und da gibt es auch Experimente aus der Spieltheorie, die das bestätigen –, dass der Zeitraum bis zu dem Punkt, wo es den Kollegen reicht, genau dem Zeitraum entspricht, den diese für sich selbst in so einem Fall in Anspruch nehmen würden.
Kurzum, der Mensch ist – im Arbeitsleben wie auch im Privatleben – viel altruistischer, als man ihm nachsagt. Er ist viel besser in der Lage, seinen Eigennutzen zugunsten eines überschaubaren Allgemeinnutzens zurückzustellen – er muss nur verstehen, warum!

Sie treffen unternehmerische Entscheidungen gemeinsam mit Ihren Mitarbeitern?
Das System, was wir bei uns praktizieren, haben wir Wirtschaftsdemokratie genannt. Das beinhaltet, dass alle Angelegenheiten, die von elementarer Bedeutung für die gesamte Firma sind, auch die Zustimmung der überwiegenden Mehrheit aller erfordern. Konkret bedeutet das: Unsere Mitarbeiter kaufen für ihre eigenen Abteilungen ein. Sie entscheiden gemeinschaftlich darüber, wie viel vom Firmenergebnis investiert, wie viel zurückgelegt und wie viel in Form von Bonusgehältern ausgezahlt wird. Sie entscheiden über Neueinstellungen und, falls das tatsächlich mal vorkommt, Kündigungen. Sie entscheiden teilweise auch, welche Ressourcen wir in welche Projekte einbringen. Die Gestaltungsmöglichkeiten bei uns sind sehr weitgehend. Das System fördert Dynamik und Weiterentwicklung in jeder nur denkbaren Art und Weise und bringt enorm positive Resultate.

Klingt harmonisch – was aber, wenn es Konflikte und widerstrebende Interessen gibt?
Wir haben zwei Geschäftsführer, die das Recht der letzten Entscheidung haben. Wenn wir in einer Situation feststecken, wo die Gruppe sich nicht einigen kann, dann – aber nur in einer solchen Situation – hat das Wort von Thomas und mir schon ein anderes Gewicht als das unserer Kollegen. Aber wir haben ein Gegengewicht, das Vetorecht: Wenn jemand miterleben muss, dass sich etwas Wesentliches für ihn verändert und er das nicht mittragen kann, dann kann er Veto einlegen. Das ist eine Art Kollegennotbremse. Das Witzige ist, dass das Recht der letzten Entscheidung auf Geschäftsführerseite und das Recht des Vetos auf der Mitarbeiterseite sich sehr gut austarieren. Das kommt etwa zwei, drei Mal im Jahr vor, und zwar jeweils auf beiden Seiten.

Sie haben einen Einheitslohn – ist das nicht der Sozialismus, den Sie eigentlich ablehnen? Ist einheitliche Entlohnung nicht im Kern ungerecht?
Das stimmt. Das Problem ist nur, dass noch niemand ein gerechtes System gefunden hat. Denn Leistungsmessungssysteme gehören zu den Systemen, die noch in der Sekunde, in der sie starten, sofort ihr Messergebnis verändern. Wenn irgendein Wissenschaftler darauf käme, dass Leute mit grünen Baseballmützen produktiver sind, was meinen Sie, wie lange es dauert, bis in einer Firma alle grüne Baseballmützen tragen? So funktionieren aber Leistungsmessungssysteme.

Okay, aber gerechter wird ein Einheitslohn dennoch nicht.
Nur, woran soll ich Leistung messen? Ist das Umsatz, ist das Gewinn, ist das Innovation? Wie kommen Leute wie unser Prokurist darin vor? Der arbeitet nicht aktuell in Projekten mit, sorgt aber auf eine wunderbare Art und Weise dafür, dass unser Backoffice und unser Cashflow funktionieren. Wie soll ich den denn bewerten im Vergleich zu jemandem, der beispielsweise Videoschnitt macht? Messe ich bei dem einen Videoschnittminuten und bei dem anderen Bilanzsummen? Es ist völlig egal, welche Kriterien man nimmt, man wird immer an Grenzen stoßen. Bis zu dem Tag, wo ein gerechtes Bemessungssystem erfunden ist, werden wir beim einheitlichen Gehalt bleiben, weil es der beste Kompromiss in dieser Angelegenheit ist.

Ein Manager würde sagen: Die Leute bekommen weder mehr Geld, wenn sie mehr leisten, noch haben sie eine Aufstiegschance – wie um Himmels willen soll ich die denn motivieren?
Ich glaube, dass Gehalt und Position überbewertet werden. Es ist nicht so sehr die Höhe des Gehalts oder die Position in einer Firma, sondern das Gefühl, ein Teil der Firma zu sein, was Menschen wirklich belohnt. Bei uns weiß jeder: Ich habe einen aktiven und wahrgenommenen Anteil am Firmenergebnis. Wir kommunizieren auch, was Projekte bewirken. So hat jeder auf dem Schirm, was er zum Ganzen beiträgt. Niemand nimmt dem anderen die Erfolge weg, sondern die sind immer transparent und man kann sehen, was man selber dazu beigetragen hat. Nach meiner Erfahrung ist das eine viel nachhaltigere Belohnung als alle anderen Systeme, die ich kennengelernt habe.

Motivation entsteht aus Identifikation?
Die Identifikation mit der Firma und die Tatsache, dass man immer unmittelbar mit den Erfolgen und mit all dem, was man zum Firmenerfolg beigetragen hat, assoziiert wird, hat eine viel nachhaltigere Wirkung auf die Motivation der Leute. Wir haben eine Stakeholder-Firma im Unterschied zur Shareholder-Firma. Das heißt, alles, was hier erwirtschaftet ist, ist transparent und kommt allen in gemeinschaftlicher Art und Weise zugute. Wir sind jetzt im 19. Jahr, und unsere Personalfluktuation aufaddiert ist vier. Also vier Leute, die hier Vollzeit gearbeitet haben, sind je wieder gegangen. Ich denke, das spricht für die Motivationslage.

Es ist letztlich doch eine Frage des Menschenbildes, wie wir Unternehmen, wie wir Wirtschaft organisieren?
Ja, ich bin der festen Überzeugung, dass die Art und Weise, wie wir Wirtschaft heute organisieren, auf einem fehlgeleiteten Menschenbild basiert. Ein Mensch, gerade im Arbeitsleben, ist viel schlauer, viel verantwortungsbewusster und viel leistungsfähiger, als man ihm gemeinhin nachsagt. Er muss nur verstehen, wofür er das tut. Und er braucht eine Rückmeldung dafür. Das ist keine Sache von Ausbildung, es ist auch keine Sache von Zuständigkeit. Die Frage ist vielmehr, inwieweit man dem dem Menschen innewohnenden Taten- und Gestaltungsdrang sowie seinem Sicherheits- und Wahrnehmungsbedürfnis Raum einräumt. Das, was im Privatleben funktioniert, funktioniert im Arbeitsleben genauso.


Zitate


"Wenn jemand Chef zu mir sagt, dann ist das auf Deutsch gesagt ein Synonym für 'Arschloch'." Gernot Pflüger über seine Firma ohne Chef

 

changeX 17.12.2009. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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Zum Buch

: Erfolg ohne Chef. Wie Arbeit aussieht, die sich Mitarbeiter wünschen. Econ Verlag, Berlin 2009, 268 Seiten, ISBN 978-3-430-20086-8

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Autor

Winfried Kretschmer
Kretschmer

Winfried Kretschmer ist Chefredakteur und Geschäftsführer von changeX.

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