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Beobachter im Multiversum

Eine demokratische Gesellschaft braucht eine professionelle Form der Selbstbeobachtung - ein Gespräch mit Bernhard Pörksen
Interview: Anja Dilk

Das Vertrauen ist im Keller, die Medienverdrossenheit wächst. Der Journalismus ist in der Krise. Ringt um seine Rolle in einer digitalen Öffentlichkeit, in der jeder zum Publizisten wird. Weiterhelfen kann die konstruktivistische Theorie der Erkenntnis, sagt unser Interviewpartner. Denn sie weckt ein Gespür für die produktive Selbstirritation. Für die Frage, ob man ein Phänomen nicht auch ganz anders sehen, ganz anders beschreiben kann. Wer sich der Subjektivität seiner Wahrnehmung, der individuell geprägten Konstruktion von Realität bewusst ist, schaut anders hin. Essenziell für Leute, deren Job es ist, genau hinzuschauen.

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"Ich bin mir sicher, dass ich mir nicht sicher sein kann." Das ist die Grundbotschaft des Konstruktivismus. Sie bietet eine höchst produktive Ausgangsposition für Leute, die professionell mit Beobachtungen arbeiten. Sagt Bernhard Pörksen, Professor für Medienwissenschaft an der Uni Tübingen.
 

Herr Pörksen, das Vertrauen zu Journalisten scheint an einem Tiefpunkt angelangt. Lügenpresse, schimpfen die Anhänger von Pegida. Schmutzschreiber, zetern Beobachter des politischen Journalismus. Die schreiben doch alle, was sie wollen, und nur voneinander ab, lästert der Stammtisch. Woran liegt dieser Vertrauensverlust, selbst in akademischen Kreisen? 

Der Vertrauensverlust ist ein schleichender Wandel. Seit einigen Jahren beobachten wir eine wachsende Medienverdrossenheit. Das Berufsprestige sinkt drastisch, vor allem gibt es eine zunehmende Medienskepsis. Die aktuelle Medienverdrossenheit macht sich an Reizthemen wie der Ukraine-Berichterstattung, dem Fall Wulff oder Sarrazin fest. Wie oft in so einem Klima bekommt die Fraktion der radikalisierten Medienkritiker Zulauf, die die Kritik ideologisch radikalisieren. Journalisten sind korrupt, so heißt es, gekauft, folgen einer anonymen Macht, in deren Auftrag sie manipulieren. Verschwörungstheorien blühen. Und langsam wird das Bild vom bösen Treiben von Journalisten zum Kernthema einer neuen Bewegung, die sich kaum als Bewegung und sicher nicht als soziales oder politisches Milieu fassen lässt. Sie ist äußerst radikal im Urteil, aber weltanschaulich pluralistisch, nicht eindeutig rechts oder links. Ihre Gemeinsamkeit ist allein der böse Blick auf das Treiben von Journalistinnen und Journalisten.
 

Woher kommt das?  

Natürlich gibt es ein Bündel von Gründen. Da sind zum einen die Fehlleistungen im Journalismus selbst. Falsch interpretierte Symbolfotos, die nicht von dem Ort stammen, den sie vorgeben. Geschönte Bilder wie bei den Demonstrationen nach dem Anschlag auf Charlie Hebdo, die unkritisch die Inszenierungsrituale der Politik verbreiten. Da ist die massive ökonomische und politische Verunsicherung in Europa, die die Suche nach Schuldigen befeuert. Wie immer in Zeiten der Deutungsunsicherheit gedeihen Ideen einer medialen Verschwörung. Da ist die technologische Revolution, die die Medienverdrossenheit erst sichtbar macht. Früher war das Publikum weitgehend vom Kommunikationsprozess ausgeschlossen. Die Leser und Zuschauer konnten nur reagieren - und das erst am Ende des Prozesses: wenn der Beitrag gesendet, der Artikel gedruckt, der Fernsehtalk geführt war. Dass aber der Leserbrief oder Zuschauerkommentar in der Öffentlichkeit wahrgenommen wurde, war nicht eben wahrscheinlich. Heute dagegen kann sich jeder jederzeit einklinken und kommentieren. "Here comes everybody" - so lautet eine kluge Formel des Netztheoretikers Clay Shirky zur Lage der Medienwelt.
 

Ist denn die extrem kritische Haltung gegenüber dem Journalismus neu? 

Nein, aber sie besitzt eine neue Qualität. In den 60er-, 70er-Jahren etwa richtete sich die Wut gegen einzelne Institutionen. Die Springer-Presse wurde angefeindet. Heute ist die Medienverdrossenheit von den Institutionen zur Profession insgesamt gewandert. Und sie macht auch vor dem klassischen Qualitätsjournalismus nicht Halt.
 

Der Journalismus steht mit dem Rücken zur Wand, manche beschwören schon seinen Untergang. Damit ist die vierte Gewalt im Staat bedroht. Warum regt sich eigentlich keiner auf?  

Die Krise des Journalismus sehen vor allem Journalisten selbst mit Sorge. Ansonsten verhält sich die demokratische Öffentlichkeit in der Tat erstaunlich ruhig, man könnte von einem Versagen des akademischen Milieus sprechen. Gerade jene, die hochklassigen Journalismus als kritische Reflexionsinstanz der eigenen - wissenschaftlichen - Arbeit bräuchten, schweigen. Der letzte warnende Zwischenruf kam von Jürgen Habermas 2007. Seitdem herrscht weitgehend Stille. Kurzum: Es fehlen die gesellschaftliche Solidarität und die Bereitschaft, sich für die Qualität der Medien einzusetzen.
 

Woher kommt das Schweigen im akademischen Milieu? 

Schwer zu sagen. Vermutlich spielt die ohnehin sichtbare Selbstabschottung des Wissenschaftssystems eine Rolle - die Orientierung an Drittmitteln, Fachaufsätzen, internen Reputationskriterien, die eine neue Hermetik erzeugen und ein vitales Debattenklima eher gefährden. Gesellschaftlich ist das eine bedenkliche Entwicklung.
 

Zurück zu den Journalisten selbst - ist die Berichterstattung denn tatsächlich schlechter geworden?  

Nein, das denke ich nicht. Und doch braucht der Journalismus in einer digitalen Gesellschaft mehr Transparenz und einen intensiveren Dialog mit dem Publikum. Er muss klarmachen, wie er arbeitet, was seine Kriterien und seine Vorgehensweisen sind. Journalisten selbst sind als Dialogpartner gefragt. Sie müssen begreifen lernen, dass diese Aufgabe zum notwendigen Zweitjob für sie geworden ist, den sie parallel stemmen müssen.
 

Stellen sich Qualitätsmedien bereits diesem Dialog?  

Medien suchen durchaus das Gespräch mit den Lesern. So ein Dialog kann Vertrauen schaffen. Es ist wichtig, dem Leser zu signalisieren: Wir nehmen euch ernst. Es ist wichtig, Fehler zu korrigieren. Aber das heißt nicht, dass Redaktionen nun alle inneren Debatten und Meinungsfindungsprozesse nach außen tragen müssen. Die gläserne Redaktion ist keine sinnvolle Arbeitsgrundlage.
 

In Ihrem Buch rücken Sie die Rolle des Journalisten als Beobachter ins Zentrum. Die Methode und Denkfigur des Konstruktivismus könne neue, bereichernde Impulse für die Herangehensweise von Journalisten liefern. Inwiefern?  

Der Konstruktivismus ist hilfreich, um die alte Tugend des Zweifelns und der Skepsis wieder in den Vordergrund zu stellen. Wer sich der Subjektivität seiner Wahrnehmung, der individuell geprägten Konstruktion von Realität bewusst ist, schaut anders hin. Der Konstruktivismus liefert dafür eine äußerst nützliche Basistheorie. Seine Grundthese: Es gibt keine absolut gültige Wirklichkeit, die uns zugänglich wäre, sondern nur ein Multiversum unterschiedlicher Deutungen. Ich würde sagen: Der Konstruktivismus ist Medizin gegen die Blickverengung, den Dogmatismus. Er animiert den Beobachter, den Erkennenden, immer wieder neu und anders auf die Welt zu schauen, seine Urteile und Vorurteile immer wieder zu überprüfen.
 

... damit ein Journalist nicht Gefahr läuft, zu sagen: Ich bin mir sicher, so ist es ... 

... ja. Der Konstruktivismus weckt ein Gespür für die produktive Selbstirritation. Könnten wir das nicht auch ganz anders sehen? Wie könnten wir ein Phänomen völlig anders beschreiben, entdecken, uns ihm nähern?
 

Diese kritische, hinterfragende und sich selbst infrage stellende Beobachterrolle wird Journalisten allerdings immer weniger zugetraut. Weder in puncto Kompetenz noch in Sachen Legitimation. Wie sollte denn der optimale Beobachter sein?  

Er ist jemand, der so genau wie möglich hinschaut, der um seine individuelle Voreingenommenheit weiß und sich selbst mit einer gewissen Skepsis betrachtet, ohne im Strudel des Totalzweifels unterzugehen. Und nur am Rande: Die meisten Probleme in den Medien entstehen aus einem zu großen Maß an Gewissheit, nicht weil man zu viel zweifeln würde.
 

Wie kann sich der Beobachter angemessen im Spannungsfeld zwischen Beobachtung und Objektivität bewegen? Über die Möglichkeiten "objektiver" Darstellung wird ja kontrovers diskutiert. "Objektivität ist die Wahnvorstellung, Beobachtungen könnten ohne Beobachter gemacht werden", sagte der österreichische Physiker und Vordenker Heinz von Foerster. "Journalisten haben zu berichten, was ist. Sie haben das Wahre vom Falschen, die Spreu vom Weizen zu trennen. Ich beharre darauf, dass die Medien und auch das Fernsehen in der Lage sind, Wirklichkeit darzustellen", forderte der frühere ZDF-Chef Klaus Bresser. Das eine klingt radikal, das andere naiv. 

Sicher. Natürlich brauchen wir im Alltag elementare Begriffe wie Wahrheit oder Wirklichkeit. Und doch müssen wir uns vor vorschnellen Urteilen und Einschätzungen hüten. Indem wir für unsere Zweifel immer wieder eine Begründung suchen, uns die Gruppeneinflüsse und die kulturellen Prägungen klarmachen und kritisch reflektieren, wie sehr sie unsere Wahrnehmung prägen. Die grundlegende Botschaft des Konstruktivismus besagt letztlich: Ich bin mir sicher, dass ich mir nicht sicher sein kann. Das ist eine höchst produktive Ausgangsposition.
 

Kritik am Journalismus ist auch Kritik an der Ausbildung. Eine Frage an Sie als Hochschullehrer. Was muss sich an der Ausbildung ändern?  

Der klassische Journalismus hat an Glamour verloren, der Bereich PR, Werbung, Corporate Publishing dagegen wächst rasant. Deshalb gibt es eine große Verunsicherung in der Branche: Für welchen Beruf, für welchen Markt bilden wir eigentlich aus? Und doch: Eine demokratische Gesellschaft braucht eine professionelle, ethischen Standards verpflichtete Form der Selbstbeobachtung. Das ist der Journalismus, die vierte Gewalt im Staat. In der Ausbildung können wir nur gegensteuern, indem wir jungen, klugen, neugierigen Menschen in praktischen und theoretischen Arbeiten anschaulich machen, wie aufregend und faszinierend dieser Beruf nach wie vor sein kann. Und sie schulen - als kritische, über sich selbst und ihre Wahrnehmung immer wieder neu reflektierende Beobachter.
 

Wie aber soll sich der Journalismus künftig finanzieren, wovon sollen Journalisten leben?  

In der Tat ist das Refinanzierungsproblem noch nicht gelöst. Gerade freie Journalisten im Printbereich nähern sich der Situation des armen Poeten - ihr Beruf ist oft mehr Hobby und Berufung als ernsthafter Gelderwerb.
 

Dieser Tage hat die taz mit der Zeile aufgemacht: "Kostenloser Journalismus hat seinen Preis." Sie wirbt um 20.000 freiwillige Abonnenten für die Online-Ausgabe - um ihre Unabhängigkeit zu wahren. Die Süddeutsche dagegen führt die Bezahlschranke ein, Springer hat fast alle Printprodukte verkauft - dem Journalismus steht das Wasser bis zum Hals.  

Die Eine-Million-Euro-Frage des Qualitätsjournalismus ist zweifellos noch nicht beantwortet. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als auf die disruptive Innovation zur Refinanzierung hochwertigen Journalismus zu warten. Früher oder später wird es sie geben, auch wenn jetzt noch keiner ahnt, wie sie aussehen könnte.
 

Zur Person: Bernhard Pörksen ist Professor für Medienwissenschaft an der Uni Tübingen. Er beschäftigt sich mit der Macht digitaler Öffentlichkeit und mit Inszenierungsstilen in Politik und Medien. Seine Bücher über das konstruktivistische und systemische Denken - unter anderem mit Heinz von Foerster und Humberto Maturana - bieten eine fundierte und gut lesbare Einführung und wurden in mehrere Sprachen übersetzt. Sein zusammen mit dem Kommunikationspsychologen Friedemann Schulz von Thun verfasstes Buch Kommunikation als Lebenskunst wurde zum Bestseller. 


Zitate


"Es fehlen die gesellschaftliche Solidarität und die Bereitschaft, sich für die Qualität der Medien einzusetzen." Bernhard Pörksen: Beobachter im Multiversum

"Journalisten selbst sind als Dialogpartner gefragt. Sie müssen begreifen lernen, dass diese Aufgabe zum notwendigen Zweitjob für sie geworden ist, den sie parallel stemmen müssen." Bernhard Pörksen: Beobachter im Multiversum

"Wer sich der Subjektivität seiner Wahrnehmung, der individuell geprägten Konstruktion von Realität bewusst ist, schaut anders hin." Bernhard Pörksen: Beobachter im Multiversum

"Der Konstruktivismus ist Medizin gegen die Blickverengung, den Dogmatismus. Er animiert den Beobachter, den Erkennenden, immer wieder neu und anders auf die Welt zu schauen, seine Urteile und Vorurteile immer wieder zu überprüfen." Bernhard Pörksen: Beobachter im Multiversum

"Der Konstruktivismus weckt ein Gespür für die produktive Selbstirritation. Könnten wir das nicht auch ganz anders sehen? Wie könnten wir ein Phänomen völlig anders beschreiben, entdecken, uns ihm nähern?" Bernhard Pörksen: Beobachter im Multiversum

"Die meisten Probleme in den Medien entstehen aus einem zu großen Maß an Gewissheit, nicht weil man zu viel zweifeln würde." Bernhard Pörksen: Beobachter im Multiversum

"Die grundlegende Botschaft des Konstruktivismus besagt: Ich bin mir sicher, dass ich mir nicht sicher sein kann. Das ist eine höchst produktive Ausgangsposition." Bernhard Pörksen: Beobachter im Multiversum

"Eine demokratische Gesellschaft braucht eine professionelle, ethischen Standards verpflichtete Form der Selbstbeobachtung." Bernhard Pörksen: Beobachter im Multiversum

 

changeX 19.03.2015. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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Zum Buch

: Die Beobachtung des Beobachters. Eine Erkenntnistheorie der Journalistik. Carl-Auer Verlag, Heidelberg 2015, 298 Seiten, 34.95 Euro, ISBN 978-3-8497-0066-9

Die Beobachtung des Beobachters

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Autorin

Anja Dilk
Dilk

Anja Dilk ist Berliner Korrespondentin, Autorin und Redakteurin bei changeX.

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