Kollektiv erfolgsgeil

Burnout ist kein individuelles Problem, sondern ein strukturelles - ein Interview mit Markus Väth
Interview: Heike Littger

Herr Müller war schon immer so perfektionistisch. Heißt es, wenn Herr Müller aus den Latschen kippt. Burnout gilt immer noch als Einzelschicksal: Herr Müller ist halt nicht tough genug. Nein, unsere Arbeitsgesellschaft muss endlich ihre grandiose Selbstlüge eingestehen: Burnout ist kein individuelles Problem, sondern ein strukturelles. Es wurzelt in unserem unerbittlichen Arbeitsmodell. In einer kollektiven Erfolgsgeilheit, die nur Leistung als Maßstab kennt.

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Es braucht eine gesellschaftliche Debatte über unser unerbittliches Arbeitsmodell. Sagt Markus Väth und lenkt den Blick auf Burnout als strukturelles Problem.
Markus Väth hat Psychologie und Informatik studiert und bei einem großen Software-Unternehmen zunächst im Personalbereich, später als Business-Analyst gearbeitet. 2005 hat sich Väth mit seiner Nürnberger Beratungsfirma Mensch & Chance als Coach und Speaker selbständig gemacht. Der Schwerpunkt des 36-Jährigen: Burnout - Vorbeugung und Bekämpfung.
 

Herr Väth, unter dem Schlagwort "Burnout" listet Amazon 505 Bücher - Sie haben jetzt noch eins geschrieben, warum? Wissen wir nicht mittlerweile, um was es geht?  

Die meisten glauben zu wissen, um was es geht - und sind damit unseren Wissenschaftlern weit voraus. Obwohl der Begriff seit 30 Jahren populärwissenschaftlich Karriere macht, sind sich Psychologen, Psychiater und Mediziner immer noch nicht einig, was Burnout überhaupt ist. Eine echte Störung im klinischen Sinn? Eine Unterform der Depression? Eine Modediagnose für gestresste Großstädter? Es gibt keine klaren Kriterien, nach denen ein Psychologe oder Hausarzt eindeutig feststellen kann: "Dieser Mensch hat Burnout." Es ist vielmehr eine Ausschlussdiagnose - eine Diagnose, die fällt, wenn jemand über Müdigkeit, Energiemangel, Kopfschmerzen, Hoffnungslosigkeit oder sogar Selbstmordgedanken klagt und nichts anderes passt. Kurz gesagt: Wir doktern an den Symptomen herum, ohne zu wissen, was überhaupt die Ursachen sind und wie eine Erfolg versprechende Therapie aussehen könnte.
 

In der Regel kommen die Betroffenen für mehrere Wochen in eine Klinik und werden wieder aufgepäppelt ...  

... genau das ist das Problem. Meiner Meinung nach ist Burnout kein individuelles Problem, sondern ein strukturelles. Zu mir kommen Geschäftsführer, Consultants, Arbeitnehmer, aber auch Programmierer, Sachbearbeiter, Lehrer. Ich nehme mir viel Zeit, höre mir ihre Geschichten an - und den allermeisten muss ich dann sagen: "Sorry, nicht Sie haben ein Problem. Ihre Firma hat eins!" Wie bei einer Kette, deren schwächstes Glied reißt, kann man das Glied - in diesem Fall den Mitarbeiter - reparieren oder austauschen. Das ist der Status quo in der heutigen Burnout-Behandlung. Oder man sorgt dafür, dass die Kette insgesamt stabiler wird. Das wäre die intelligentere und langfristigere Lösung.
 

Wie reagieren Ihre Klienten? 

Wenn der Burnout-Patient zum Management gehört, stehen die Chancen ganz gut, dass es nicht bei einem Einzelcoaching bleibt. Bei normalen Angestellten stoße ich jedoch schnell an Grenzen. Der Betroffene hat in der Regel keine Gestaltungsmacht. Er kann keine Geschäftsprozesse verändern, keinen Wertewandel initiieren, keine Informations- und Trainingsmaßnahmen einleiten. In solchen Situationen verarzte ich den Klienten so gut wie möglich. Aber es bleibt wie gesagt Symptombekämpfung. Es ist wie in den sozialpsychiatrischen Tagesstätten: Die Berater können sich ein Bein ausreißen, abends gehen die Kids wieder nach Hause zu ihren Drogenfreunden oder ihren kaputten Familien und nichts ändert sich. Ein für alle Beteiligten frustrierendes, ressourcenfressendes und unproduktives Phänomen.
 

Nicht ganz - am Massenphänomen Burnout lässt sich extrem gut verdienen. Eine ganze Industrie aus spezialisierten Ärzten, Therapeuten, Coachs lebt von den Ausgebrannten.  

In der Tat. Die Burnout-Industrie springt von Umsatzhoch zu Umsatzhoch. Aber das kann sie nur, weil wir glauben, dass Burnout ein Problem des Einzelnen ist. "Herr Müller war schon immer so perfektionistisch", heißt es, wenn Herr Müller aus den Latschen kippt. Also ist es sein Problem, er muss an sich arbeiten und seine Burnout-Persönlichkeit managen. Doch die Wahrheit ist: Für den Einzelnen gibt es oft nichts zu managen. Der tatsächliche Burnout ist das Endergebnis einer langen Kette von Fehlentwicklungen: das inhumane Prinzip Multitasking, die Entgrenzung des Arbeitslebens, die Illusion des Zeitmanagements, die Nichtbeherrschung der neuen Kommunikationstechnologien, schlecht ausgebildete Chefs sowie fragwürdige Unternehmenswerte und gesellschaftliche Leitbilder. Wir müssen weg von der Bringschuld des Einzelnen und seiner individuellen Therapie. Moorbäder, Yogastunden oder Schweigeseminare - das ist nicht die Lösung!
 

Dann lassen Sie uns über die gesellschaftliche Leitkultur sprechen. In Ihrem Buch schreiben Sie, wir seien kollektiv erfolgsgeil.  

Es muss immer weitergehen, nichts kann so bleiben, wie es ist. Und wenn es mal nicht weiter bergauf geht oder ein Abrutschen droht, tun wir wenigstens so, als wären wir immer noch obenauf. In München zum Beispiel sind schicke Wohnungen im Zentrum mittlerweile für Durchschnittsverdiener unbezahlbar. Doch anstatt in eine kleinere, nicht so repräsentative Wohnung am Stadtrand zu ziehen, kauft sich manch einer ein tolles Auto - einen BMW, Audi, Mercedes oder Porsche - und schläft auch darin. No rent, but car nennt man dieses Phänomen - Hauptsache den Schein wahren. Klar schütteln wir darüber den Kopf, aber finden wir es wirklich abnormal?
Das Streben nach Erfolg ist als Quasireligion weitgehend akzeptiert. Das eigene Leben wird gegen Vergleichspersonen und -gruppen gebenchmarkt: Was hat er, was habe ich? Hinzu kommt, dass Erfolg mit Status, Macht und einem dicken Bankkonto gleichgesetzt wird. Und dass es so etwas wie ein verbindliches, übergeordnetes Wertesystem nicht mehr gibt. Jeder bastelt sich aus dem Setzkasten der ethischen Orientierung einfach sein eigenes moralisches Weltbild. Ein bisschen Christ, ein bisschen Salon-Kommunist, ein bisschen Selbsterfahrungskurs mit Darmspülung. Das ist bedrohlich: Denn wenn ich mein moralischer Master of the Universe bin und allein die Regeln aufstelle, dann habe ich nichts, woran ich mich festhalten kann, wenn mein Universum zusammenbricht. Und natürlich auch nichts, an dem ich mich hochziehen kann, um wieder auf die Beine zu kommen.
 

Woher kommt diese Erfolgsgeilheit?  

Das fängt oft schon in frühester Kindheit an. Sie wären erstaunt, in wie vielen Familien es Zuwendung ausschließlich gegen gute Noten, gutes Benehmen, gute Leistung gibt. Besonders Väter, die nicht gelernt haben, Gefühle auszudrücken, weichen gerne auf dieses Tauschgeschäft aus. Die guten Noten des Kindes oder ein bestimmtes Hobby, das dem Vater gefällt, geben ihm die Gelegenheit, ohne Gesichtsverlust loben zu können und gleichzeitig Mann zu bleiben. Aus dieser Erfahrung "Zuwendung gegen Leistung" wird ein Erfolgs- und Lebensprinzip, das oft das ganze Leben durchzieht. Die Betroffenen machen sich abhängig vom Lob ihrer Lehrer, ihrer Partner, ihrer Chefs - und mutieren über die Jahre zu perfekten, äußerst belastbaren, genügsamen, selbständigen und überall einsetzbaren Arbeitskräften, die gerne die Eigeninitiative ergreifen und niemals "Nein" sagen. Hilfe annehmen kommt nicht infrage. Denn das Leben muss man alleine meistern, sonst ist man nichts wert. Das haben Mummy und Daddy einem gründlich beigebracht.
 

Selbständig, genügsam, überall einsetzbar - hört sich aus Arbeitgebersicht nach Wunschkandidat an.  

Zuerst einmal ja. Wenn Sie Burnout-Biografien studieren, steht am Anfang in der Regel die berühmte Win-win-Situation, bei der das Unternehmen und der Burnout-Anfällige sich gegenseitig in die Hände spielen. Die Firma bekommt einen Mitarbeiter, der sich von Anfang reinkniet, kompetent und mit hoher Energie. Der Burnout-Anfällige wiederum kann sich beweisen, will produktiv sein und das alte Muster von Liebe gegen Leistung einmal mehr voll ausleben. Doch diese Gleichung kann im Arbeitsleben niemals aufgehen.
 

Sie vergleichen Burnoutler mit Junkies ... 

... der Stoff des Burnoutlers besteht aus Gehalt, Status, Anerkennung. Mit der Zeit wird der Burnout-Junkie immer abhängiger von seinem Stoff, er braucht intensivere Kicks: mehr Arbeit, schwierigere Aufgaben, mehr Verantwortung, mehr Kommunikation. Bis zum Tipping Point, der Grenze, an der die als angenehm empfundene Herausforderung plötzlich ins Bedrohliche abrutscht, weil einem die Ressourcen zu deren Bewältigung ausgehen: zu wenig Zeit, zu wenig Energie, eine generelle Überforderung des Organismus bis hin zum Zusammenbruch. Der klassische Burnout-Betroffene will belastet werden. Darin besteht ja der Kitzel. Nur dass der Mechanismus irgendwann zwangsweise ins Gegenteil umschlägt, denn der menschliche Organismus ist nicht grenzenlos belastbar.
 

Was ist also der Ausweg aus der kollektiven Burnout-Falle? Ein radikales Umdenken auf allen Ebenen?  

Verstehen Sie mich nicht miss. Ich will unseren kollektiven Geisteszustand nicht ins Mittelalter zurückbomben. Das ist weder möglich noch erstrebenswert. Es geht um die richtige Balance. Damit meine ich nicht die individuelle Work-Life-Balance. Sondern ein neues Gleichgewicht des Bewusstseins zwischen Arbeitsleistung, angemessener Vernetzung und Kommunikation, Rückzug und einem Selbstwert, der nicht nur aus Arbeit besteht. Dieses Gleichgewicht ist nichts, was der Einzelne nur mit sich selber ausmacht. Es ist ein gesellschaftlicher Lernprozess, der sich zwischen unterschiedlichen Polen einpendeln muss. Und dort spielen so scheinbare banale Fragen eine Rolle wie: Habe ich meiner Frau noch etwas zu sagen, auch wenn ich nicht über die Arbeit spreche? Wie lange darf ich mein Telefon ausschalten, ohne in Gewissensnöte gegenüber meinem Chef zu geraten? Wann habe ich das letzte Mal über wirklich wichtige Dinge des Lebens nachgedacht? Würde ich wollen, dass meine Kinder den gleichen Job machen wie ich? Wenn nicht: warum nicht? Die Koordinaten unserer mentalen Landschaft werden sich verschieben, sobald genügend Leute anfangen, sich solche Frage zu stellen.
 

Ist die Zeit schon reif dafür? 

Ich denke ja. Es findet ein Bewusstseinswandel statt. Lebensqualität, Bio-Food, Klimawandel, Nachhaltigkeit dringen in der Debatte um unsere Zukunft und die Zukunft unserer Kinder immer mehr durch. Neben dem Bruttoinlandsprodukt schlagen Forscher erstmals ernsthaft vor, zur Messung des Fortschritts einen Glücksindex einzusetzen, der die Zufriedenheit und damit ein Stück weit auch die mentale Gesundheit der Bevölkerung misst. Das ist ein Riesenfortschritt.
 

Und wie sieht es mit dem Bewusstseinswandel in den Unternehmen aus?  

Unter meinen Kunden wissen geschätzte 40 Prozent, dass Zeitmanagement-Seminare, Führungskräfte-Coachings und Work-Life-Balance-Vorträge nicht ausreichen. Die anderen 60 Prozent halten an der Theorie "Burnout = Einzelschicksal" fest. Das Problem ist: Die Human-Research-Truppen haben im Unternehmen nicht das nötige Standing, um wirklich etwas bewegen zu können. Und die Geschäftsleitung hat nur ihre Zahlen im Blick.
Doch auch hier arbeitet die Zeit für uns. Intelligente und hervorragend ausgebildete Fachkräfte sind nichts, was in Deutschland demnächst an den Bäumen wachsen wird. In Zeiten von Fachkräftemangel müssen sich Unternehmen gut überlegen, wie sie mit ihren Leuten umgehen. Und sie können es sich schlicht nicht mehr leisten, dass ihre Mitarbeiter tage-, ja wochenlang fehlen.
 

Haben Sie schon mal ausgerechnet, wie viel Burnout die Wirtschaft kostet? 

Eine Untersuchung des Statistischen Bundesamtes kommt auf 100.000 Burnout-Fälle im Jahr 2010. Das sind nur die offiziell gemeldeten, die Dunkelziffer ist wesentlich höher. Im Durchschnitt fehlten sie 19 Tage - auch diese Zahl ist äußerst konservativ, ein richtiger Burnout-Patient braucht Monate, um sich zu erholen. Doch bleiben wir dabei. 100.000 Burnoutler und 19 Tage. Wenn wir davon ausgehen - auch eine Zahl des Statistischen Bundesamtes -, dass ein Mitarbeiter 30 Euro pro Stunde wert ist, also 240 Euro am Tag, hätte die deutsche Wirtschaft im vergangenen Jahr 456 Millionen Euro verloren. Allein durch die Fehlzeiten ihrer ausgebrannten Arbeitskräfte, da ist noch keine Ersatzkraft eingerechnet.
Ergo: Schluss mit menschenfeindlichen Prozessketten und dem Verheizen motivierter Leute. Schluss mit Führungskräften, die diese Bezeichnung nicht verdienen. Und Schluss mit Scheindebatten. Wenn wir wirklich Burnout eindämmen wollen, müssen wir ans Eingemachte. Denn in den Wurzeln des Burnouts - Leistungsorientierung, Perfektionismus, der Drang zum "höher, schneller, weiter" - liegen auch unsere Erfolgsrezepte für eine dynamische, komplexe Arbeitsgesellschaft. Das tut weh - aber einen anderen Weg sehe ich nicht.
 


Zitate


"Wir doktern an den Symptomen herum, ohne zu wissen, was überhaupt die Ursachen sind und wie eine Erfolg versprechende Therapie aussehen könnte." Markus Väth: Kollektiv erfolgsgeil

"Meiner Meinung nach ist Burnout kein individuelles Problem, sondern ein strukturelles. Zu mir kommen Geschäftsführer, Consultants, Arbeitnehmer, aber auch Programmierer, Sachbearbeiter, Lehrer ... - und den allermeisten muss ich dann sagen: ,Sorry, nicht Sie haben ein Problem. Ihre Firma hat eins!‘" Markus Väth: Kollektiv erfolgsgeil

"Das Streben nach Erfolg ist als Quasireligion weitgehend akzeptiert." Markus Väth: Kollektiv erfolgsgeil

 

changeX 01.01.2012. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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: Feierabend hab ich, wenn ich tot bin. Warum wir im Burnout versinken. GABAL Verlag, Offenbach 2011, 240 Seiten, 19.90 Euro, ISBN 978-3-86936-231-1

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Autorin

Heike Littger
Littger

Heike Littger ist selbständige Journalistin und wohnt in Mountain View, Kalifornien. Sie schreibt als freie Autorin für changeX.

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