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Lernen, auf sich zu achten

Resilienz ist die Kompetenz, in hochkomplexen Zusammenhängen zu bestehen - ein Gespräch mit Sylvia Kéré Wellensiek
Interview: Tatjana Krieger

Und immer wieder die Komplexität: Sie ist die große Herausforderung heute. Nicht nur in Organisationen, in der Gesellschaft, sondern auch im eigenen Leben. Eine Buchautorin sagt: Resilienz ist ein Kompetenzbündel, das befähigt, Komplexität zu meistern. Und sie erläutert, wie man es entwickelt: Auf sich achten. Sich selbst reflektieren. Interessiert und offen bleiben. Den Blick auf das Mögliche richten. Und Ruhe bewahren.

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Sylvia Kéré Wellensiek ist Spezialistin auf dem Gebiet der Resilienz und hat zahlreiche Bücher zum Thema veröffentlicht, zuletzt zusammen mit Joachim Galuska als Co-Autor den Titel Resilienz - Kompetenz der Zukunft.
 

Frau Wellensieck, in Ihrem Buch beschreiben Sie Resilienz als ein ganzes Kompetenzbündel. Welche Fähigkeiten bündelt Resilienz genau? 

Der typische Überbegriff lautet Widerstandskraft. Aber für mich ist die zentrale Eigenschaft, dass ein Mensch sich selbst reflektiert. Dass er Selbstbewusstsein entwickelt und die Fähigkeit, innezuhalten. Und - gerade wenn es wehtut - im Lernprozess bleibt. Dazu gehört, eine interessierte Offenheit zu behalten und immer wieder den Blick auf das Mögliche zu richten. Ein resilienter Mensch hat die Fähigkeit, aus wenig viel zu machen: Er nimmt an, was vorhanden ist, untersucht genau, ohne es sich schöner oder schlechter zu reden, schaut auf die realistischen Möglichkeiten, ergreift und gestaltet sie.
 

Wovon hängt es ab, ob ein Mensch diese innere Widerstandskraft entwickelt? 

Wir wissen aus Studien, dass vieles in den Genen liegt. Aber was davon aktiviert wird, hängt von der Sozialisation ab. Ich glaube, dass in jedem von uns eine innere Seelenkraft liegt, ein Antrieb, etwas aus unserem Leben zu machen. Diese individuelle Wesensart, die jeder mitbringt, ist nicht leicht zu beschreiben, da sie auch etwas Geheimnisvolles in sich trägt.
 

Ist eine starke oder schwache Resilienz im Erwachsenenalter Schicksal oder lässt sie sich noch beeinflussen? 

Es gibt vulnerable Eigenschaften, die uns verletzlich machen, sich aber durch eine bewusste Verarbeitung komplett drehen lassen. Empfindliche Erwachsene oder Jugendliche können, wenn sie sich damit beschäftigen, aus einer Schwäche eine Stärke machen. Ein sensibler Mensch hat viel mehr Wahrnehmungskanäle und nimmt dadurch mehr Dinge auf, über die er sich innerlich stärken und die er nutzen kann. Es ist also nicht mein Anliegen, dass Menschen sich ein dickes Fell wachsen lassen, sondern eine gute Mischung aus hoher Sensibilität und Stabilität entwickeln. Man muss sich bewusst machen: Was kann ich aus meinem Erfahrungswissen heraus? Und was kann ich bewusst trainieren?
 

Sind Belastungen, gerade im Wirtschafts- und Berufsleben, heute wirklich größer geworden oder sind wir umgekehrt angreifbarer? 

Jede Generation hat ihre eigenen Herausforderungen. Was die Menschen im Krieg erlebt haben, ist unvorstellbar und unvergleichbar. Sie waren aber auch nicht aufgefordert, so hochsensibel zu agieren, wie es heute der Fall ist. Die meisten Menschen müssen im Wirtschaftsleben heute anders kommunizieren und sich auf vielfältige Vernetzungen und Verknüpfungen einlassen. Das heißt, sie müssen Verbindung zulassen und sich selbst damit durchlässiger und weicher machen. Oder nehmen wir Partnerschaften oder den Umgang von Müttern und Vätern mit Kindern. Alles ist emotionaler geworden. Dadurch sind wir sensibler. Es ist auch ein ganz anderer Anspruch vorhanden, sich selbst zu entwickeln. Wir entfernen uns von rein funktionalen Lebensstrukturen. Viele Menschen wollen nicht nur ein Hamster im Rad sein, wollen nicht von anderen gesteuert werden. Und damit beginnt die große Aufgabe, sich selbst gut zu steuern und gut abzugleichen.
 

Was sind für Sie persönlich die entscheidenden Veränderungen der letzten Jahre, die heute unsere Resilienz auf die Probe stellen? 

Wir haben viel mehr Informationen zu verarbeiten, und es ist der Anspruch gestiegen, dass wir lernen - und zwar schnell lernen. Die Veränderungsquote ist höher. Auch ich habe in den letzten Jahren so viel gelernt wie nie zuvor. Dabei musste ich mich immer wieder neu definieren, neue Rollen annehmen und mich neuen Aufgaben stellen. Das alles braucht nicht nur Offenheit, sondern auch Abenteuerfreude.
 

Für Sie ist Resilienz die Kompetenz der Zukunft. Wie kommen Sie zu diesem Urteil? 

Die Welt wirkt nicht so, als würde sie langsamer werden. Wenn wir also das, was gerade passiert, nach vorne denken, können wir davon ausgehen, dass von Menschen immer mehr Flexibilität verlangt wird. Die klassischen, relativ langsamen und gefestigten Berufswege existieren nicht mehr. Es wird eine unglaubliche Mobilität verlangt und eine ständige Präsenz auf allen Kanälen gleichzeitig.
 

Wie ist das zu bewältigen? 

Wir brauchen ein festes Standbein, um weiter fröhlich mit unserem Spielbein zu agieren. Dieses Standbein setzt eine wirkliche Verortung in der eigenen inneren Ruhe und Kraft voraus. Dazu gehört auch Klarheit in den Werten: darüber, wo die eigene Heimat ist, wo man hingehört, wo man sich auf allen Sinnesebenen "ernähren" kann und Anlehnung findet. All das gehört gleichzeitig betrachtet.
 

Was können Betriebe, die von hohen Erschöpfungsquoten betroffen sind, dazu beitragen, die Resilienz ihrer Belegschaft zu stärken? 

Wichtig ist, dass die Herausforderung erkannt und offen kommuniziert werden kann. Ich erlebe es täglich in Firmen, dass sich das mittlere Management dringend wünscht, dass auch die obere Hierarchieebene die Problematik durchdringt und aktiv steuert. Leider passiert es immer noch oft, dass die zunehmende Arbeitsbelastung nach unten wegdelegiert wird. Oder dass Ziele nicht mit Sinn und Verstand gesetzt werden. Oft werden Ziele zu hoch gesteckt - und zwar ohne solide Prüfung der Risiken und Ressourcen.
 

In Ihrem Buch schlagen Sie vor, in Unternehmen eine Entwicklungskette aufzubauen. Wie könnte so etwas aussehen? 

Für eine Entwicklungskette im Sinne der Bewusstseinsentwicklung ist es wichtig, dass ein Thema verstanden wird. Man braucht Möglichkeiten, darüber zu sprechen und sich bewusst damit auseinanderzusetzen. Deshalb möchte ich mit meinen Vorträgen möglichst verschiedene Hierarchieebenen erreichen. Wenn ein Unternehmen offen und interessiert ist, gilt es strategisch zu überlegen, welche Ebene man zuerst schult. Doch Resilienz ist nichts, was man nach einem Vortrag verstanden hat. Es ist ein innerer Entwicklungsprozess. Im besten Fall fängt man bei den Führungskräften an, von wo aus es sich systematisch über verschiedene Abteilungen und Ebenen weiterentwickelt, bis hin zu Mitarbeitern mit Schlüsselfunktionen.
 

Als Stressfaktor haben Sie die Komplexität des modernen Lebens und Arbeitens identifiziert. Wieso Komplexität? 

Stellen Sie sich einen Menschen vor, der viele Bälle in der Luft hat. Wenn er jonglieren kann, macht ihm das große Freude - sofern er die Anzahl der Bälle im Griff hat. Werden dann einer oder zwei dazu geworfen, verwandelt sich die Freude in Stress und Panik. So erlebe ich die Menschen heute: Sie haben unglaublich viele Sachen unter einen Hut zu bringen. Die meisten sind ihrem Unternehmen dabei loyal ergeben und versuchen, zusätzliche Aufgaben zu meistern. Doch mit all dem, was ihnen zugeworfen wird, bewegen sie sich bereits in dünner Luft. Wehe, es kommt noch etwas dazu. Dann besteht die Gefahr, dass die Situation kippt. Wenn ein Mensch unter Stress steht und dünnhäutig wird, dann fahren seine gesamten Kompetenzen herunter: Er sieht weniger, er kann weniger gut kommunizieren, er wird rigider in seinen Perspektiven, ist weniger offen und ungeduldiger. Es braucht viel innere Ruhe, um in hochkomplexen Zusammenhängen seine Kapazität zu behalten.
 

Ist die Komplexität heutzutage überhaupt in den Griff zu bekommen? Oder ist das ein Anspruch, an dem man letztlich scheitern muss? Kann es wirklich das Ziel sein, noch mit der letzten Zumutung zurechtzukommen? 

Es kann nur funktionieren, wenn jeder an seiner eigenen Selbststeuerung arbeitet. Aber natürlich gibt es Grenzen. Jeder kann sich bis zu einem gewissen Punkt besser aufstellen: Immer effizienter arbeiten, immer besser priorisieren, immer besser delegieren - aber jeder Tag hat nur 24 Stunden. In Firmen ist das natürlich auch so. Dort gibt es verschiedene Akteure, die einen sind belastbarer, die anderen weniger. Zeitweise kann ein Team auf Hochtouren laufen - aber niemals auf Dauer. Trotzdem sind wir noch lange nicht an dem Punkt, dass die äußeren Aufgaben absolut zu viel werden. Alles ist eingekleidet in eine Atmosphäre innerhalb einer Firma. Und oft hat diese Atmosphäre viel mehr Gewicht.
 

Inwiefern? 

Wenn schlecht und ungenau kommuniziert wird, wenn Menschen nicht mitgenommen und eingebunden werden, dann verursacht eine solche Kommunikations- und Führungskultur viele Reibungsverluste.
 

Wodurch zeichnet sich umgekehrt eine resiliente Organisation aus? 

Ganz wichtig ist, immer wieder einen Schritt zurückzutreten, sich Zusammenhänge anzusehen, klar zu analysieren und dabei Symptome von der Wurzel her zu unterscheiden. Die Verantwortlichen sollten sich fragen: Was machen wir hier eigentlich und welche Folgewirkung hat unser Tun? Wollen wir das oder können wir etwas durch Erkenntnis besser steuern? Dazu gehört es, den Menschen und die Zahlen, Daten und Fakten gemeinsam zu sehen. Der Mensch ist heute die größte Ressource eines Unternehmens und muss als solche betrachtet werden. Man würde auch eine Maschine nicht ständig überstrapazieren. Nur weil der Mensch so etwas Dehnbares an sich hat und oft "Ja" sagt, wo er "Nein" denkt, ist er nicht grenzenlos zu benutzen.
 

Und das Naheliegende ist keine Lösung? Strukturen vereinfachen und Personal entlasten wäre undenkbar?  

Es gibt Unternehmen, die einfach enge Handlungskorridore haben. Aber gerade wenn die Finanzen für mehr Personal nicht reichen, ist es wichtig, die Menschen, die da sind, besonders aufmerksam und umsichtig, wertschätzend und liebevoll einzusetzen. Wenn man schon mit weniger Personal fahren muss, dann gilt es, genau hinzuschauen: Wie lassen sich die besten Bedingungen kreieren, damit diese Menschen ihr Bestes geben können. Aber man kann nicht immer Personal reduzieren und dann auch noch schlechte Bedingungen bieten.
 

Ist Resilienz also die Antwort auf die Burnout-Problematik? 

Burnout muss man differenziert betrachten. Es ist ja ein Sammelbegriff für vielfache Erschöpfungserkrankungen und eine hochkomplexe Thematik. Über eines bin ich mir aber sicher: Wer sich mehr mit sich selbst beschäftigt und lernt, sich selbst gegenüber fürsorglich zu sein, statt die Krankheit als Ventil zu benutzen, um seine Bedürfnisse zum Ausdruck zu bringen, hat eine höhere Chance, einer Krankheit zu entgehen. Vieles im psychosomatischen Bereich ist durch ein reifes Bewusstsein und durch eine reife Selbststeuerung besser zu verarbeiten.
 

Ist Gesundheit, auch seelische, demnach noch Privatsache? 

Natürlich ist Gesundheit weiterhin ein persönliches Thema, das ich durch Hunderte Entscheidungen am Tag, etwa über Ernährung, Schlaf oder Bewegung, beeinflusse. Gleichzeitig sind wir eingebettet in eine Gesellschaft und in ein Arbeitsumfeld. Alle diese Ebenen haben eine Auswirkung auf unsere Gesundheit. Von daher ist es ein Gesamtgefüge. Auch die Gesellschaft und der Arbeitgeber müssen etwas zur Verfügung stellen, damit ein Mensch lernt, gut mit sich umzugehen. Zu wissen, wie das geht, ist eine Form von Bildung. Und es ist nur logisch, dass volkswirtschaftlich unterm Strich etwas herauskommen wird, wenn der Mensch von klein auf lernt, auf sich zu achten. 


Zitate


"Ein resilienter Mensch hat die Fähigkeit, aus wenig viel zu machen: Er nimmt an, was vorhanden ist, untersucht genau, ohne es sich schöner oder schlechter zu reden, schaut auf die realistischen Möglichkeiten, ergreift und gestaltet sie." Sylvia Kéré Wellensiek: Lernen, auf sich zu achten

"Alles ist emotionaler geworden. Dadurch sind wir sensibler." Sylvia Kéré Wellensiek: Lernen, auf sich zu achten

"Es braucht viel innere Ruhe, um in hochkomplexen Zusammenhängen seine Kapazität zu behalten." Sylvia Kéré Wellensiek: Lernen, auf sich zu achten

 

changeX 04.07.2014. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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Quellenangaben

Zum Buch

: Resilienz - Kompetenz der Zukunft. Balance halten zwischen Leistung und Gesundheit. Beltz Verlag, Weinheim 2014 2014, 207 Seiten, 24.95 Euro, ISBN 978-3-407-36550-7

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Autorin

Tatjana Krieger

Tatjana Krieger ist freie Journalistin in München und schreibt über Beruf, Karriere und Weiterbildung.

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