Eingeborene der digitalen Netze

Das Manifest der Digital Natives - von Robert Dürhager und Timo Heuer.

Digital Natives denken anders, kommunizieren anders und arbeiten anders als analog geprägte Menschen: online, vernetzt und hierarchiefrei. Ihre Kultur ist im Entstehen, ihre Auswirkungen aber sind erst im Ansatz begriffen. Wie sie die Welt sehen, haben zwei Digital Natives in einer programmatischen Erklärung niedergeschrieben. changeX dokumentiert das Manifest der Digital Natives. / 13.07.09

Illustration von Limo LechnerWir sind die Assimilanten der digitalen Kultur, unser Leben gestalten wir digital. Dies ist unser Manifest. Es richtet sich an alle, die mit uns kommunizieren oder kollaborieren möchten.

Wir sind die Generation Internet
Wir sind die Evolution der Fernseh-Generation, deren gemeinsames Schicksal der Passivität noch heute Kultur und Gesellschaft prägt. Indem das Leben der Zuschauer hinter geschlossenen Türen stattfindet, entwickeln diese in Abgrenzung zur Masse ihre Individualität. Doch während die Fernseh-Generation selbst bei Ausflügen ins interaktive Internet sich hinter Pseudonymen versteckt und weiterhin passiv als (Be-)Sucher Inhalte auf nun neue Weise konsumiert, sind wir es, welche die Interaktivität als (Be-)Nutzer tatsächlich leben. So sind wir Individuen in der Unterschiedlichkeit unserer Netzwerke, immer und überall online, als Peer im Kontakt mit unseren Netzwerken. Die Tauschkultur im Netz ist unser Werk und die offene Gesellschaft unser Ziel.

Das Netz wirkt auf die Welt
Wir Digital Natives verstehen das Virtuelle als Teil der Realität. Auch wenn Virtuelles nicht physisch ist, hat es dennoch einen erheblichen Einfluss auf das Denken und Fühlen. Betrachtet man das Internet als geistigen Lebensraum, so sind dessen Auswirkungen reale Wirklichkeit. Indem wir online sind, flüchten wir nicht vor der Realität, sondern partizipieren an der virtuell erweiterten Realität des 21. Jahrhunderts.

Netzwerke sind die besseren Problemlöser
Wir arbeiten vernetzt und kollaborieren in dynamischen und offenen Netzwerkteams. In unserem Arbeitsleben spielt die kollektive Intelligenz eine große Rolle. Crowdsourcing ist ein Begriff, der nicht nur unsere Arbeitsweise geprägt hat, sondern unser ganzes Denken. Nicht zuletzt wegen der vielfältigen Kommunikationsinstrumente, von (Micro-)Blogs bis Wikis, können wir jederzeit und zu jedem Thema mit anderen zusammenarbeiten. Eine Arbeit, die uns bisher Stunden gekostet hätte, wird durch ein Micro-Posting zu einer Sache von Minuten. Die Schwierigkeit eines Problems misst sich bei uns nicht am Wissen des Individuums, sondern seiner Fähigkeit zur vernetzten Kommunikation. Abhängig vom Grad der individuellen Vernetzung gelingt es uns, für fast jedes Problem eine Lösung zu finden.
Allerdings funktioniert Crowdsourcing nur, wenn die Arbeit öffentlich zugänglich ist. Wir Digital Natives fordern deshalb die digitale Öffnung und digitale Modernisierung der Arbeitswelt. Zu viele Ideen sind als Interna gestorben. Sie erhielten nie die Chance, die Welt zu verändern oder wenigstens Sympathie für das Unternehmen zu erwirtschaften.

Wir befreien die Arbeit
Klassische Neun-bis-fünf-Uhr-Jobs sind ein Relikt aus den Zeiten der Industrialisierung. Es wird Zeit, die Arbeit von starren Arbeitsmodellen zu befreien. Als Netzwerkindividuen befinden sich unsere globalen Kontakte in verschiedenen Zeitzonen, sodass die klassischen Arbeitszeiten für uns kontraproduktiv sind. Und auch den Arbeitsablauf wollen wir flexibel gestalten können. So lassen sich verschiedene Aufgaben miteinander verknüpfen und damit effizienter und schneller erledigen, wenn nicht sogar Synergieeffekte dafür sorgen, dass inhaltlich neue Ideen gefunden werden.
Genauso arbeiten wir lieber ortsunabhängig an der Stelle, die uns gerade am nützlichsten erscheint. Das kann ein Café, ein Büro oder das Homeoffice sein. Das Internet erlaubt uns, von überall aus mühelos auf arbeitsrelevante Daten und Instrumente zugreifen zu können.
Flexible und öffentliche Arbeitsmöglichkeiten, flache Hierarchien und Mitbestimmung sowie Vertrauen, motivierende Herausforderungen und eine ergebnisorientierte gerechte Bezahlung sind die Arbeitsqualitäten unserer Wahl.

Arbeit kann nur privat sein
Unser Wertesystem kennt neben Lohn auch den Wert der Selbstverwirklichung und Eigenmotivation. Zwischen Arbeit und Privatleben zu unterscheiden fällt unter diesen Voraussetzungen schwer. Für uns gehört es zum Alltag, dass viele Angelegenheiten in beide Kategorien fallen und somit immer nach persönlichen Maßstäben und anhand allgemeiner Moralvorstellungen bewertet werden.
Eine Arbeitsstelle messen wir also daran, welche persönlichen Wachstumschancen sie uns eröffnet und wie motivierend ihr Arbeitsumfeld für uns sein kann. An Unternehmen schätzen wir, neben dessen Transparenz und Offenheit, auch den sozialen Umgang mit Arbeitnehmern und Umwelt.

Unsere Verantwortung zur Öffentlichkeit
Weil wir unsere Stärke in der öffentlichen Zusammenarbeit wissen, teilen wir nur zu gerne unser geistiges Kapital und schaffen damit freie Wissensressourcen. Konkurrenzdenken gibt es bei uns nicht, dafür aber Wettbewerb um die besseren Ideen und Reputation für erbrachte Leistung.
Wir kennen das Potenzial von freiem Wissen und fordern deshalb den freien Zugang zu allen steuerlich geförderten Forschungsergebnissen und Lernmaterialien. Gleichzeitig soll es Bildungseinrichtungen finanziell und inhaltlich ermöglicht werden, die zur Verwendung der Informationen notwendige Medienkompetenz an die zukünftigen Generationen vermitteln zu können.
Für uns ist es von großer Wichtigkeit, dass freie Wissensressourcen gefördert, erhalten und für jeden zugänglich gemacht werden. Als Digital Natives unterstützen wir deshalb alle Initiativen, die Informationen und Werkzeuge frei und wiederverwendbar verfügbar machen.
Die neuen Medien verstehen wir allgemein als Chance für eine bessere Welt. Ihre Veranlagung (im Sinne des lateinischen "virtus" für Kraft, Tugend), Informationen zu verteilen und zu verarbeiten, ermöglicht es den Menschen, auf viele neue Arten miteinander zu kommunizieren und sich auszutauschen. So stellt unsere digitale Kultur schon jetzt räumliche, kulturelle und damit auch politische Grenzen infrage und bietet eine echte Chance für einen partizipativ-demokratischen Kosmopolitismus. Denn als Digital Natives sind wir Weltbürger und eine der ersten globalen Generationen. Erste Schritte hin zu einer partizipativ-demokratischen Weltpolitik wären die uneingeschränkte Transparenz politischer Arbeit und Entscheidungsfindung sowie der vielfältige Ausbau der Online-Partizipation.

Das Netz hat eine Kultur
Wir verstehen das Internet als sozialen Kulturraum. Mit unseren realen Identitäten prägen wir dessen Inhalte und mit unseren sozialen Beziehungen dessen Vergesellschaftung. Im Rahmen der Legalität und manchmal auch im konstruktiven Diskurs mit dieser, sind wir hier die Exekutive, ist unsere Moral die Judikative und unser Code die Legislative. Eine vierte Gewalt wählen wir durch unsere Aufmerksamkeit.
In der globalen und diversiven Wirklichkeit unserer Netzwerke verstehen wir Relevanz vor allem als soziale Relevanz. Unsere mehrdimensionalen Netzwerke bieten die Möglichkeit des Erfahrungsaustausches und der gemeinsamen Bewertung. Aufgrund der sozialen Beziehung sind Empfehlungen und Informationen aus einem dieser Netzwerke besonders relevant.
Als Digital Natives sind wir uns bewusst, dass unsere Kultur vom technischen Fortschritt abhängig ist. Genau deswegen nutzen wir frühzeitig technische Innovationen, um einerseits neue Möglichkeiten für unsere Kultur zu erkunden, und andererseits, um mit unserem Feedback Fehlentwicklungen entgegenzuwirken.

Dem Netz gehört die Zukunft
Wie jedes Medium hat auch das Internet seine Schwächen. Durch Interaktivität und Vernetzung lässt sich jedoch Transparenz aufbauen, weswegen das Internet den anderen Massenmedien überlegen ist. Die Möglichkeit der polydirektionalen Kommunikation ermöglicht es zudem, ein vielfältigeres Abbild der Wirklichkeit zu liefern, was das Internet zum passenden Medium einer postmodernen Welt macht. Das Netz etabliert sich zu Recht als Leitmedium und dessen offene Kultur eignet sich wie keine andere als Maßstab für eine gerechte Gesellschaft der Zukunft.

Credits:
Moritz Avenarius, Björn Bauer, Nicole Braun, Andreas Dittes, Anna Dürhager, Bettina Fackelmann, Anne Grabs, Jana Hochberg, Boris Jäger, Alexander Rausch, Christian Spannagel, Dominik Wind, Simon Wind.


Robert Dürhager und Timo Heuer sind bekennende Digital Natives. Ihr Manifest verfassten sie im Zuge der Vorbereitung des dritten nationalen IT-Gipfels. Es erschien zuerst in dem Buch DNAdigital.


Mit einer Illustration von Limo Lecher.


Buhse / Reinhard CoverWillms Buhse / Ulrike Reinhard (Hg.):
DNAdigital - Wenn Anzugträger auf Kapuzenpullis treffen.
Die Kunst, aufeinander zuzugehen.

whois verlags & vertriebsgesellschaft
260 Seiten, 29.80 Euro
ISBN 978-934013-98-8
www.dnadigital.de



changeX [13.07.2009] Das Manifest der Digital Natives ist veröffentlicht unter der Lizenz Creative Commons 3.0 "Namensnennung - Keine kommerzielle Nutzung - Weitergabe unter gleichen Bedingungen" http://creativecommons.org/licenses/by-nc-sa/3.0/de

changeX 13.07.2009. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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Zum Buch

: DNAdigital – Wenn Anzugträger auf Kapuzenpullis treffen. Die Kunst, aufeinander zuzugehen. whois verlags & vertriebsgesellschaft, 2008, 260 Seiten, ISBN 978-934013-98-8

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Robert Dürhager

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