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Mauern können fallen

Ein Report von der Falling Walls Conference 2013
Report: Anja Dilk

Es ist eine geschichtsträchtige Metapher, in Berlin um den 9. November: die Berliner Mauer als Symbol für all die Mauern, die noch fallen können. Die die Menschheit heute noch in ihrer Weiterentwicklung hindern. Hunger, Armut, Krankheit, Nichtwissen. Next walls to fall. Ein Report von einer beeindruckenden Konferenz, die zeigt, worauf es künftig ankommt. Disziplingrenzen überwinden. Exklusivwissen demokratisieren. Unerwartetes zusammenbringen.

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Sie sind schizophren? Hören Stimmen, sehen Wesen von anderen Planeten über das Trottoir spazieren? "Kein Problem", sagt Sophia Vinogradov und lacht verheißungsvoll ins Publikum, wie ein Magier, der gleich die Tauben aus dem Zylinder zaubert. "Werden Sie ein Londoner Taxifahrer." Wie bitte? "Londoner Taxifahrer müssen so viele Straßen lernen, dass sich nach zwei Jahren das Gehirn verändert." Der Hippocampus vergrößert sich - durch Training.  

Die Beobachtung der neuronalen Veränderungen im Taxifahrerhirn brachten die Psychiatrieprofessorin und ihr Team an der University of California auf eine revolutionäre Idee: Könnten nicht Menschen mit Schizophrenie ihren Realitätssinn, der im präfrontalen Kortex entsteht, auf ähnliche Weise trainieren? Vinogradov entwickelte ein Set neurowissenschaftlich basierter Computerspiele, mit denen sich typische Symptome schizophrener Patienten bekämpfen lassen. Schon nach sechs Monaten waren Patienten wieder lebensfähig wie gesunde Menschen auch, der Krankheitsfortschritt wurde gestoppt. Die Übungen gibt’s praktisch als Computerapp. Jetzt muss Vinogradov nur noch ihre Fachkollegen in den Psychiatrien weltweit überzeugen, dass ihr etwas Außergewöhnliches gelungen ist - ein Durchbruch. One of the next walls to fall.


Entscheidend ist, loszugehen


Mauern können fallen, selbst jene, die unüberwindbar scheinen und für die Ewigkeit zementiert. Egal ob in Wissenschaft oder Kunst, Bildung oder Politik. Mit sehr persönlichen Worten erinnert daran Bundesbildungsministerin Johanna Wanka in ihrem Eröffnungsvortrag zur Falling-Walls-Konferenz 2013. Für die Ostdeutsche war es weniger der 9. November, sondern der 9. Oktober, an dem eine entscheidende Mauer fiel. Nach den Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der DDR gingen die Leipziger zum Protest auf die Straße - obwohl sie wussten, dass auf Befehl des Regimes schon die Krankenwagen an den Ausfallstraßen bereitstanden, die Krankenhäuser Blutkonserven aufgestockt hatten. Der Staat wollte schießen lassen. Trotzdem versammelten sich die Menschen zur Demonstration, und es kamen mehr denn je. "Am 9. Oktober fiel die Mauer der Angst", sagt Wanka. "Für mich ist das bis heute ein Beispiel, dass selbst große Transformationsprozesse gelingen können, mag auch der Weg nicht immer geradeaus führen. Doch das wirklich Entscheidende ist, loszugehen."  

Es ist diese Mischung von internationaler wissenschaftlicher Brillanz und persönlicher Erinnerung an die Zäsur des Mauerfalls von 1989, die Falling Walls so unverwechselbar macht. Zum fünften Mal fand die Konferenz in diesem Jahr an den Tagen um den neunten November statt. Wie immer mit einer überwältigenden Dichte von Spitzenforschern und -denkern aus aller Welt. Wie immer in diesem herausragend inszenierten Format, in dem ein Schauspieler ebenso liebenswürdig und feinsinnig wie eindringlich die Redner nach 15 Minuten mit kleinen Einlagen an das Ende ihrer Redezeit erinnert. Wie immer ausgetüftelt bis in die Spitzen. Etwa wohldurchkomponiertes Brainfood im Vorbeigehen angeboten statt mächtigem Cateringeinerlei. Wie immer mit Speakern aus Dutzenden Disziplinen, die sich zum Auftakt an ihren 9. November 1989 erinnern. Und, natürlich, wie immer mit der Frage: Was sind die nächsten Mauern, die fallen werden? Wo lassen sich (Fach-)Grenzen überwinden und Brücken bauen, wo könnten Lösungen für globale Probleme wie Klima, Energie, Gesundheit, Ernährung, Sicherheit, nachhaltiges Wirtschaften liegen?


The next walls to fall


Vielleicht mit den Forschungen von Jill Farrant, Professorin für Molekulare Pflanzenphysiologie an der Universität Kapstadt in Südafrika, die dem Geheimnis von "Wiederauferstehungspflanzen" (resurrection plants) zunehmend auf die Spur kommt und damit einen entscheidenden Beitrag im Kampf gegen den Hunger in einer Welt des Klimawandels leisten könnte. Wie gelingt es diesen Pflanzen, über viele Jahre zu überleben, selbst wenn sie 95 Prozent ihres Zellwassers verloren haben? Wenn man sie gießt, sind sie nach 24 bis 72 Stunden wieder voll erblüht. Wahrscheinlich, so Farrant, schaffen sie das, indem sie in Dürrezeiten den Chlorophyll-Anteil auf ein Minimum beschränken und in ihrem Inneren mit chlorophylllosen Blättern vor Licht schützen. Farrants Ziel: Sie möchte mithilfe ihrer Forschungen trockenheitsresistente Sorten schaffen und so dem Hunger in trockenen Ländern einen Riegel vorschieben.  

Vielleicht mit den Erkenntnissen von Anita Goel, Absolventin von Harvard und Stanford und CEO ihres Unternehmens Nanobiosym, das im neuen Feld der Nano-Biophysik forscht und die neuen Erkenntnisse in Produkte übersetzt. Der tragbare Virus-Detektor Gene-Radar zum Beispiel analysiert aus einem Blutstropfen jede Krankheit mit einem genetischen Fingerabdruck. Werkzeuge wie diese bieten eine gewaltige Chance für eine dezentrale und bezahlbare medizinische Grundversorgung gerade in Entwicklungsländern.  

Noch ergiebiger, daran lässt Stephen Friend, führender Onkologe und Präsident der Non-Profit-Forschungsorganisation Sage Bionetworks keinen Zweifel, sind solche Forschungsanstrengungen natürlich, wenn sie als offene Systeme funktionieren. Statt Patenten und Veröffentlichungen von Papers in renommierten Fachzeitschriften pusht Sage Bionetworks daher die Zusammenarbeit zwischen Pharmaunternehmen und akademischer Forschung über offene Kooperationsplattformen. Die permanenten Sensationsmeldungen von Forschungsdurchbrüchen - von der Alzheimer-Therapie bis zum menschlichen Genomprojekt - verdeckten nur, wie "extrem multikomplex" vor allem die Biologie ist und wie unglaublich schwer wirkliche wissenschaftliche Fortschritte heute sind. "In Wahrheit kennen wir oft nicht mal die Regeln, nach denen Prozesse in der Biologie wirklich funktionieren", so Friend. Demokratisierung der biomedizinischen Forschung, gut strukturiert und offen für jeden, eine Art weltweites "GPS for health" ist daher seine Vision, der er mit Sage Bionetworks zum Durchbruch verhelfen will. "Wir lieben es, einfache, lineare Erfolgsgeschichten zu erzählen." 

Oder vielleicht mit den Innovationen von Luc Steels, der an der Universität Pompeu Fabra im spanischen Barcelona und als Direktor des Sony Science Computer Laboratory Paris über künstliche Intelligenz forscht. Sein Forschungsergebnis sitzt ruhig in der ersten Reihe, als würde es aufmerksam den Ausführungen seines Erbauers lauschen. Ein wenig sieht der Roboter Myon aus wie die Klon-Krieger aus Star Wars, und wenn Steels in einem Video präsentiert, wie die lackweiße Kunstgestalt im vorsichtigen Austausch von Gesten und Lauten mit einem anderen Myon die Grundlagen einer eigenen kleinen Sprache entwickelt, scheint Science-Fiction berührend nah. Steels ist Linguist. Er entschied, dass es der falsche Weg ist, Robotern die Muster menschlicher Sprache beizubringen, wenn man eine kreative künstliche Intelligenz erschaffen will. "Wir lassen die Roboter miteinander spielen, damit sie ein Verhältnis zu sich und ihrem Körper gewinnen", so Steels. "Wir geben ihnen keine Sprache an die Hand, sondern nur Strategien, um selbst kreativ zu werden." Ein wegweisender Schritt zur Erforschung künstlicher Intelligenz.


Popularisierung wegweisender Ideen


Die Liste der spannenden Forschungsergebnisse ließe sich lange fortsetzen. Das atemlose Vortragsstakkato von Spitzenergebnissen aus der Wissenschaft gleicht einem Innovationssturm, der in Atem hält. Egal ob der Elementarteilchenforscher Rolf-Dieter Heuer von der Europäischen Organisation für Nuklearforschung (CERN) das Publikum mit auf die Reise in die neuesten Durchbrüche der Welt der Mikroteilchen nimmt, Harvard-Astronom Robert P. Kirshner von seinem Vordringen in das letzte Dunkel des Universums erzählt, Daniel G. Nocera, Erfinder des ersten künstlichen Blattes, über die nächsten Schritte zur menschengemachten Fotosynthese vorträgt oder Nobelpreisträger Jules A. Hoffmann von seinen Entdeckungen zur Aktivierung der angeborenen Immunität berichtet. Doch letztlich sind es nicht die Ergebnisse einzelner Top-Forscher, die die Falling Walls so faszinierend und unverwechselbar machen, sondern die ungeheure Breite und Dichte der Präsentationen. Vor allem beschränkt sich die Konferenz nicht auf Durchbrüche in den so leicht beeindruckenden naturwissenschaftlichen Disziplinen, sondern holt genauso die kritische Reflexion in den Sozial- und Geisteswissenschaften ins Boot.  

Wenn etwa Star-Philosophin Onora O’Neill ungeheuer präzise das Jammern über "die Vertrauenskrise", den Zusammenbruch des sozialen Zusammenhalts, als Irrtum entlarvt, den aufgeregten Ruf nach allgegenwärtiger Transparenz als Teil des Problems ausmacht und ihre Ideen für eine intelligente Vertrauens- und Verantwortlichkeitskultur entwickelt. Wenn etwa Mark Pagel, Professor für Evolutionsbiologie an der britischen University of Reading, unser arg simples Bild von Innovation und Erfindergeist als Mythos aufdeckt und überzeugend aufzeigt, dass wir nur als Kollektiv erfinderisch sind. Weil letztlich jede Innovation auf vorangegangenen Innovationen fußt und, wie die Evolution in der Natur, auf der immer gleichen Abfolge des Kopierens, Modifizierens und Neukombinierens von Ideen anderer basiert. Deshalb berge Digitalisierung der Welt, so Pagel, ein noch nie da gewesenes Innovationspotenzial - vorausgesetzt wir lernen mehr als je zuvor, statt Google und die anderen da draußen für uns denken zu lassen.


Unerwartetes zusammenbringen


Klar wird: Die Trennung von Natur- und Geisteswissenschaften gehört auf den Müll. Die globale Welt braucht das Miteinander. Auch deshalb gehört die Falling Walls mittlerweile zu den vielleicht besten Konferenzen überhaupt. Und wo sonst, außer in den TED-Talks, gibt es diese Kombination von Breite und Dichte so prägnant, differenziert, kurzweilig und perfekt inszeniert? Das hat freilich seinen Preis. Denn was nicht stattfindet, ist der Fachdiskurs über die Tragfähigkeit der aktuellen Durchbrüche. Wo gibt es Einwände? Wo könnte der Weg doch in die falsche Richtung führen? Wie relevant sind die einzelnen Ideen tatsächlich? Angesichts der spezialisierten Wissenschaftswelt des 21. Jahrhunderts - das Publikum kann das inhaltlich nicht beurteilen. Es bleibt zuzuhören, der Auswahl zu vertrauen und die Popularisierung wegweisender Ideen zu genießen.  

Und letztlich geht es nicht um eine Debatte über die einzelnen Ideen. Sondern darum, den Blick zu erweitern, einen Wissenschaftsdiskurs zwischen den Fachdisziplinen anzufachen. Unerwartetes zusammenbringen, neue Fragen stellen; Wissenschaft mit Wirtschaft, Politik, Medien und Kultur verbinden; Menschen inspirieren, noch bestehende Mauern einreißen. Wer in den Pausen Wissenschaftler, Politikvertreter, Unternehmer im anregenden Talk beobachtet, wer sieht, wie sich dicke Menschentrauben vor den kleinen Boxen im Pausensaal bilden, in denen die Speaker für Fragen zur Verfügung stehen oder draußen auf der Terrasse an der Spree Visitenkarten und schnelle Kooperationsideen tauschen, versteht die Mechanik dieser Konferenz. Ideen teilen, Bünde schmieden, Kontakte pflegen. Dass in diesem Jahr das Konferenzformat um einen Start-up-Wettbewerb erweitert wurde (The Falling Walls Venture) und der begleitende Nachwuchswettbewerb Falling Walls Lab, in dem 100 Jungwissenschaftler im Drei-Minuten-Zyklus ihre Ideen präsentieren, sehr gut besucht ist, zeigt, wie weit sich die Falling Walls international bereits etabliert hat.


Rüberschwimmen, einfach so


Der letzte Vortragszyklus steht bevor. Die Besucher tanken Kraft mit einem starken Kaffee und Keksen. Ein Grüppchen diskutiert über die heute Morgen live via Videoübertragung eröffnete Online-Kunstaktion des unter Hausarrest stehenden chinesischen Künstlers Ai Weiwei mit Olafur Eliasson, Professor an der Berliner Universität der Künste (www.moonmoonmoonmoon.com). Roboter Myon ist mit Professor Steels und seinem Team wieder zu seinem Präsentationsstand geschlichen und hat schweigend an der Fensterfront des Radialsystems Platz genommen. Der Blick aus dem herrlichen Veranstaltungszentrum in der alten Maschinenhalle des Abwasserpumpwerks V reicht über die Spree. Gegenüber liegt Kreuzberg. Häuserwände voller Graffiti, Klubs am Wasser, Abbruchflächen, daneben Neubauten aus Stahl und Glas. Früher patrouillierten hier die Grenzschützer, die Kalaschnikow im Anschlag. Heute kann man herüberschwimmen. Einfach so.  

Bildnachweis: Falling Walls Conference © Kay Herschelmann 


changeX 15.11.2013. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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Autorin

Anja Dilk
Dilk

Anja Dilk ist Berliner Korrespondentin, Autorin und Redakteurin bei changeX.

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