Meditationen eines Arbeitslosen
Denkpause. Wie mich Seneca aus der Krise holte - das neue Buch von Jean-Louis Cianni.
Von Florian Michl
Seine Arbeit los sein - das rührt nicht nur an die materielle Existenz, sondern an die Identität einer Person. Ein arbeitsloser PR-Manager hat erfahren, wie sich das anfühlt. Und darüber ein Buch geschrieben. Darin beschreibt er, wie er bei den Philosophen Rat suchte. Und fand. Deren wichtigster: Kümmere dich weniger darum, was du hast, als darum, was du bist. / 22.02.08
Cianni CoverWer bin ich? Männlich, 49 Jahre alt, verheiratet, Vater dreier Kinder, PR-Chef einer Fluglinie - das war einmal. Dann: "ein Arbeitsloser, ein vom Gefühl der eigenen Wertlosigkeit besessener Mensch". Schreibt Jean-Louis Cianni in seinem sehr persönlichen Buch. Darin spricht er über die Dekonstruktion seiner bisherigen Realität. Über seine Ängste. Und vor allem darüber, wie er zu einer neuen Identität fernab von "strategischen Brainstormings, Flugplänen und Pressekonferenzen in großen Hotels" gefunden hat: mithilfe der großen Denker des Abendlandes. Mithilfe jener, denen man nachsagt, dass sie keinen Sinn für das praktische Leben hätten, weil sie ihren Blick mehr auf das Firmament über sich richteten als auf den Weg vor sich. Auf die letzten Dinge mehr als auf das Diesseits. Wie Sokrates, Seneca, Epikur, Augustinus, Heidegger. Im Nachdenken über sie und sich setzt Cianni seine aufgelöste Identität erneut zusammen. "Ich sah in aller Deutlichkeit, was die Arbeit mir vom Leben genommen hatte, was ich alles erduldet hatte, all die Zwänge, die Unterdrückung, und zugleich musste ich mir eingestehen, dass ich ohne Arbeit kein Mensch mehr war."
Kein Mensch? Was ist der Mensch überhaupt? Und das Ich im Besonderen? Wie beeinflussen Arbeit und Arbeitslosigkeit unsere Konstruktion der Wirklichkeit, die Grenzen und Möglichkeiten des Ich? Clement Rosset gibt eine erste Antwort darauf, indem er zwischen einer sozialen und persönlichen Identität unterscheidet: "In jeder Identitätskrise 'bröckelt' zunächst die soziale Identität und bringt schließlich jenes zerbrechliche Gebilde ins Wanken, das man für sein Ich hält." Ausgelöst beispielsweise durch Arbeitslosigkeit, eine besondere Notlage, die für Cianni nicht nur eine Schwächung der sozialen Identität bedeutet, sondern überhaupt deren Ende, den Tod. Dementsprechend interessiert ihn, was die Philosophen über den Tod dachten und was sie für den Umgang mit ihm empfahlen. Aber auch wie sie sich im Augenblick ihres Todes selbst verhielten. Herausgekommen ist dabei keine philosophische Abhandlung, wie der Autor selbst sagt. Vielmehr gut durchdachte Gedanken zu einem ernsten Thema. Dabei streift Cianni, der Arbeitslose, in seinen Meditationen das Zeitempfinden ebenso wie die Einsamkeit und das Selbstwertgefühl.

Sei der du bist.


In der Apologie des Sokrates, schreibt Cianni, lädt Platon dazu ein, sich weniger darum zu kümmern, was man hat, als darum, was man ist. "Er versteht seine Definition von Weisheit - das Eigene tun - buchstäblich und widmet den letzten Tag seines Lebens seiner Lieblingsbeschäftigung: dem philosophischen Gespräch." Im Mittelpunkt dabei: der ihm bevorstehende Tod. Für Sokrates kein Grund, sich zu fürchten: Entweder stürze uns der Tod ins Nichts, meint er, dann ist er nur ein "Schlaf, in welchem der Schlafende auch nicht einmal einen Traum hat". Oder er ist eine "Auswanderung von hinnen an einen anderen Ort". In beiden Fällen ein Gewinn, sagt Sokrates ironisch gegenüber seinen Richtern, die ihn zum Tode verurteilen.
Dem Arbeitslosen bleibt die Frage, was für ihn selbst "das Eigene" ist. "Das Schreiben war immer die Achse meines beruflichen Tuns, mein innerer Kern. Gerät ein Unternehmen in eine Krise, besinnt es sich gern auf sein Kerngeschäft, um sich dann neu zu orientieren. Das werde ich nun auch tun: Ich werde meditieren und schreiben." Die Folge ist nicht nur eine Bestimmung des Ich, sondern auch eine regelmäßige und strukturierte Aufgabe, die dem Alltag wieder Sinn verleiht. Und der Zeit die Zähne zeigt.

Nicht genug davon.


Denn Arbeitslosigkeit stellt auch die Uhrzeiger neu: Rennen wir ihnen im Berufsalltag hechelnd hinterher, bewegen sie sich gar nicht mehr, wenn die Arbeit weg ist. Das hat seinen Grund, lernen wir bei Augustinus und seiner Konzeption der Zeit: Sie existiert nicht außerhalb unseres Geistes; sie ist nichts Gegebenes, es gibt kein Zeitatom. "Sie verstreicht in uns, ohne dass wir irgendeinen Zugriff auf sie hätten." Die Folge sind zwei Zeitströme, sagt Cianni. "Einerseits die Zeit der Hyperaktivität, stressig, hysterisch, entfremdet, brutal, aber auf eine Weise dennoch konstruktiv. Und andererseits das endlose Andauern der Arbeitslosigkeit, verlangsamt, schuldbeladen, schlaff und korrosiv." Entkommen kann man dieser Maschinerie, indem man sich ganz bewusst für das entscheidet, was man tut - im Falle Ciannis: schreiben. Dann gelte eine andere Zeit, die nicht geschleppt werden muss, sondern sich selbst trägt, die manchmal sogar einfach davonfliegt, frei von Bitterkeit und Gewissensbissen, leicht wie ein Augenblick des Glücks.
Manchem Leser dieses Büchleins mag es bei der Lektüre ähnlich ergehen. Das Unglück der Arbeitslosigkeit bleibt trotzdem bestehen, wie auch jeder, den es trifft, für sich selbst den passenden Umgang damit finden muss. Jean-Louis Cianni hat für sich eine Lösung gefunden: "Ich kam über den Unfall meiner beendeten Karriere zum Notwendigen, über die Arbeit zur Kreativität, über die Entfremdung zur Freiheit. Was ich am Leben verlor, gewann ich am Sein." Dann ist jedem die Arbeitslosigkeit zu wünschen? Nein, natürlich nicht. Denn "wenn das der Fall wäre, könnten wir nicht genug davon kriegen".

Florian Michl ist freier Mitarbeiter bei changeX.

Jean-Louis Cianni:
Denkpause.
Wie mich Seneca aus der Krise holte.

Econ Verlag, Berlin 2008,
240 Seiten, 16 Euro.
ISBN: 978-3-430-20038-7
www.ullsteinbuchverlage.de/econ

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: Denkpause. . Wie mich Seneca aus der Krise holte. . Econ Verlag, Berlin 1900, 240 Seiten, ISBN 978-3-430-20038-7

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Florian Michl
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Florian Michl schreibt als freier Autor für changeX.

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