Lust. Last. Mist.

Dancing - das neue Theaterstück von Natacha de Pontcharra.

Von Winfried Kretschmer

Die Firmentoilette als Panoptikum der Arbeitswelt. Fünf Menschen spinnen ein Beziehungsgeflecht aus Macht, Erniedrigung, aus Mobbing und Intrigen, aus großen und kleinen Verletzungen. Die Firmentoilette als Schauplatz kleiner Zurichtungen und großer Beschädigungen. Eine schrille Parabel über das, was Menschen so treiben, während sie arbeiten: Karriere und Selbstverwirklichung fest im Blick, die Kollegen abschätzig im Visier und den täglichen Frondienst tonnenschwer auf den Schultern. Ein sehenswertes Theaterstück über Lust und Last der Arbeit. Jetzt im Theater Ingolstadt.

Bettina Schmidt und Johannes Langer
Bettina Schmidt und
Johannes Langer in
"Dancing".
Foto: André Pöhlmann
Eine Geschichte vom Hörensagen: In den Vereinigten Staaten hat ein Vorgesetzter einen seiner Angestellten dabei erwischt, als er während der Arbeit getanzt hat. Daraufhin hat er ihn gezwungen, bis zum Ende des Tages weiterzutanzen - wenn er aufhöre, so drohte er, würde er ihn fristlos entlassen. Der Angestellte ist noch vor Ende des Tages an einem Herzinfarkt gestorben. Diese Geschichte hat ein Bekannter der französischen Bühnenautorin Natacha de Pontcharra erzählt. Sie wurde zum Ausgangspunkt für das Bühnenstück Dancing. Uraufgeführt wurde es im Jahr 2000 in Frankreich, im Theater Ingolstadt ist es nun zum zweiten Mal auf einer deutschen Bühne zu sehen.

Beziehungsgeflecht aus Macht, Erniedrigung, Mobbing und Intrigen.


Dancing erzählt freilich nicht nur die Geschichte dieser Demütigung. Pontcharra hat die Story um- und ausgebaut. Der Befehl, weiterzutanzen, bildet nur den Kulminationspunkt, den makabren Höhepunkt einer szenischen Revue, die sich um eine Unternehmenskultur dreht, in der die Beziehungen auf Macht gründen und die Erniedrigung des Anderen als eigener Sieg gefeiert wird. "Mich hat es interessiert, die Mechanismen und die spezifischen Machtmissbräuche in der Arbeitswelt zu untersuchen", beschreibt die Schriftstellerin das Anliegen ihres Stückes. Fünf Personen (plus die Stimme des obersten Chefs aus dem Off) reichen ihr, um auf der Bühne den Mikrokosmos eines Unternehmens entstehen zu lassen. Zwischen diesen fünf entspinnt sich ein Beziehungsgeflecht aus Macht, Erniedrigung, aus Mobbing und Intrigen, aus großen und kleinen Verletzungen in einem Unternehmen, von dem man nur so viel erfährt, dass es auf internationalen Märkten tätig ist - ein Global Player also.
Das Unternehmen dient aber nicht nur als Kulisse für menschliche Abgründe, sondern ist selbst der Abgrund, in dem sich menschliche Tragödien abspielen. Es herrscht die blanke Angst, die Angst vor dem Versagen, die Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes. Mit Ironie und einem guten Schuss Boshaftigkeit zeichnet Pontcharra die schöne neue Arbeitswelt. Glücklicherweise lässt sie die Moralkeule im Requisitenlager. Das Stück ist daher keine moralisierende Abrechnung mit der bösen Wirtschaftswelt, wie sie derzeit auf dem Literaturmarkt en vogue ist. Es ist kein Lehrstück, das eine Wahrheit verbreiten will, sondern ein überzeichnetes Psychogramm eines Betriebes. Und eine Parabel über das, was die Menschen dort treiben - während sie arbeiten. Mit Konsequenzen: Für viele Menschen ist der Arbeitsplatz zum zentralen sozialen Ort in ihrem Leben geworden, wichtiger als Familie, Freizeit, Urlaub. Und es ist nur konsequent, wenn Literatur und Theater die Arbeitswelt zu ihrem Spielfeld machen.

"In den Sanitäranlagen eines Unternehmens."


Schauplatz des Stückes ist indes kein Großraumbüro oder Chefzimmer, sondern die luxuriös ausgestattete Firmentoilette. Chrom, Spiegel, senfgelbe Kacheln, Wascharmaturen, die automatisch aus der Wand fahren - das ist der Schauplatz der elf Szenen des Stücks. Ein Kunstgriff, der mitten in dem funktional organisierten und geregelten Raum des Unternehmens einen Ort der zufälligen Begegnung und der Privatheit schafft. Auf der Toilette wird geredet, wie sonst vielleicht nur auf dem Flur, flüsternd über zwei Schreibtische hinweg oder hinter vorgehaltener Hand. Hier begegnen sich Mitarbeiter zufällig und ungeplant, reden frei von Termindruck und Aufgabenplanung. Nicht zuletzt ist der Ort auch Kommentar - Sätze, die anderswo Eindruck heischen, wirken hier leicht anrüchig, erhalten den Beigeruch der Latrinenparole. Das Bühnenbild trägt einen Hauch von Absurdität in das Geschehen.
Diese Firmentoilette ist der Schauplatz von Begegnungen und kleinen Geschichten, die von "kleinen Zurichtungen und großen Beschädigungen" erzählen. Da ist zunächst Monsieur Simon, der Manager, der sich von Job suchenden Arbeitslosen verfolgt sieht, vor ihrem Ansturm auf die Toilette flieht, dort aber von einem Bewerber namens Brunier aufgespürt wird, diesen erst zur Schnecke und dann zu seinem persönlichen Assistenten macht - und damit nichtsahnend selbst die Säge am Bein seines Abteilungsleiterstuhles ansetzt. Simon ist die tragische Figur im Stück, persönlich und beruflich erledigt. Während seine Position in der Firma unterminiert wird, ist seine Ehe bereits am Ende; von der Haushälterin erfährt er via Handy, dass ihn seine Frau verlassen hat.

"Man verbiegt mir absichtlich den Nagel, und dabei macht man mich kaputt."


Da ist überdies Estelle, die hochhackige Karrierefrau im bürograuen Business-Kostüm, die den tragischen Tod ihres Hundes nie verwunden hat, sich nun zwanghaft um die Sauberkeit der Toilette sorgt und sich dabei von einem unbekannten Kollegen verfolgt sieht, der immer wieder den Nagel für das Handtuch aus der Wand reißt: "Man verbiegt mir absichtlich den Nagel, und dabei macht man mich kaputt."
Dann Hélène, die schüchtern-naive Angestellte, die hofft, beim ersten internationalen Meeting ihre Fremdsprachenkenntnisse zur Geltung zu bringen, aber leider erfahren muss, dass sie als das "flachste Mädchen der Etage" eine lebende Sushi-Platte für die japanischen Gäste abgeben soll, nackt auf dem Teakholztisch - "eine echt gute Idee der Kommunikation von Monsieur Simon", wie dessen persönlicher Assistent Fabrice Brunier Speichel leckend preist.
Brunier, der Ex-Arbeitslose, im Sanitärraum zum persönlichen Assistenten geadelt, ist der Aufsteiger, der seine Chance zu nutzen weiß. Er entpuppt sich als kühl kalkulierender Karrierist, dem sein Förderer auf dem Weg nach oben nur im Weg steht. Und es dauert nicht lange, bis er ihn beiseite geräumt hat. Ein paar Interna über Simon, die er dem obersten Chef im Aufzug in die oberen Etagen steckt, das reicht. Monsieur Simon ist erledigt - und Brunier, der seine biedere Business-Kluft gegen einen weißen Anzug getauscht hat, wechselt zum Abschluss seiner Metamorphose die Straßenschuhe gegen zum Outfit passende weiße Sneaker. Und bezieht das Büro über dem von Simon.

"In einem Unternehmen hat jeder die Pflicht, mittelmäßig zu sein."


Brunier ist der Prototyp des Angestellten im Großunternehmen; er verkörpert das Handlungsmuster, das Abertausende von Bruniers in den Großraumbüros Tag für Tag leben. Das Mittelmaß als Maßstab: "In einem Unternehmen hat jeder die Pflicht, mittelmäßig zu sein, sein kleines Bündel auf seinem Weg zu tragen, im rechten Rhythmus mit den anderen." Die Gunst des Augenblicks zu nutzen gilt als legitim, zu viel zu tun dagegen als unkollegial. "Ein Team muss zusammenhalten", predigt Brunier, "zusammenhalten in der Form, im selben Rhythmus, alle im Gleichschritt, gemächlich. Kommt nicht in Frage, dass jemand schneller läuft als die anderen, um die Kollegen als Drückeberger hinzustellen." Nicht vorpreschen ist das Gebot des Karrierismus. Nur im richtigen Augenblick so weit aus dem Sumpf des Mittelmaßes herausragen, dass man seine Chance nicht übersieht. Und nicht übersehen wird. Das ist mit böser Ironie gezeichnet und trifft die Mentalität der Blender und Karrieristen höchst präzise.
Doch ist letztlich der Aufsteiger im lächerlichen, weißen Dandyanzug nicht die zentrale Figur. Es ist Barbour, der braun gewandete Buchhalter, dessen tölpelhafte Unbeholfenheit in alltäglichen Dingen in eigentümlichem Gegensatz zu seinem analytisch scharfen Verstand steht. Er ist der Trottel der Etage, ein nützlicher Idiot, der Ordner schleppt, sich fürsorglich um die Topfpflanzen kümmert (die er mit Mineralwasser aus dem Getränkeautomaten gießt) und versunken vor dem laufenden Wasserhahn die Wassermoleküle beobachten will. Noch nie hat er eine Frau berührt, noch nie getanzt. Nur einmal stand er an der Tanzfläche einer Diskothek, wusste nur nicht, ob er zuerst das rechte oder das linke Bein heben sollte.
Das gesteht er Hélène, die dem sensiblen jungen Mann ihr Herz ausgeschüttet hat. Sie ist schwanger, und das in einem Unternehmen, wo dies verpönt ist. Ihr droht der Verlust des Arbeitsplatzes. Sie wäre nicht die Erste. Zwischen der gedemütigten Hélène und dem seltsamen Barbour entspinnt sich ein Gespräch, entwickelt sich Sympathie, und schließlich bringt Hélène Barbour die ersten Tanzschritte bei. Das Stück treibt auf das Ausgangsmotiv zu: Dancing. Als der degradierte Simon erschöpft die Toilette betritt, trifft er auf Barbour, der sich wie in Trance im Walzertakt im Kreise dreht. Als der innehält, befiehlt ihm Simon weiterzumachen.

"Nein, machen Sie weiter, Barbour ..."


Barbour muss tanzen und dreht sich wie ein Tanzbär im Kreise. Das ist mehr als eine Demonstration von Macht. In diesem Bild verbirgt sich auch eine Parabel über die Arbeit. Denn die Arbeit ist für Barbour die Erfüllung, in seiner Freizeit ist nur Langeweile; und als ihn Bekannte in die Diskothek schleppen, steht er sich nur selbst im Weg. Die Arbeit ist der Ort, wo der eigenartige Barbour ganz bei sich ist. Hier hat er seine Topfpflanzen, seine Ordner. Und hier, nicht in der Freizeit, findet er letztlich auch einen Menschen, der ihn versteht, der ihn an die Hand nimmt und ihn zum Tanzen bringt. Doch beinahe im selben Moment, als er sich noch im Takt der Musik wiegt, wird sein Traum zum Zwang. Er muss tanzen. Arbeit als Paradoxon: Sie bietet das Potenzial zur Verwirklichung des Selbst, und doch muss sie getan werden. Sie ist Last und Lust. Man kann nicht mit ihr und nicht ohne sie leben. Sie ist die unsichtbare Kette am Hals nicht nur des Tanzbären Barbour.

"... ich bin fertig."


Der Schluss ist offen, verdammt offen. Zwischen Rebellion, Verweigerung und Erschöpfung ist semantisch kaum ein Unterschied. "Ich bin fertig", sagt Barbour, und hört auf zu tanzen. Simon, dessen Macht gebrochen ist, bittet, fleht, doch weiterzutanzen - und schließlich ist er es, der stirbt. Vertauschte Rollen. Doch Brunier hat den nonkonformen Barbour längst ins Home-Office abgeschoben - Aufgabenbeschreibung: ein leeres Blatt Papier.
Einen Schlussvorhang gab es nicht, aber auch so gilt: alle Fragen offen. Darf man in der Arbeit tanzen? Arbeit, was ist Arbeit? Und kann man Wassermoleküle beobachten? Tanzen sie? Tanzen Sie?

DANCING
Stück von Natacha de Pontcharra,
Aufführung am Theater Ingolstadt,
Regie: Silvia Armbruster,
Info unter www.theater.ingolstadt.de,
Aufführungsrechte: theater verlag desch, München

Termine:
3. 4. 2004 / 19:30 Uhr
4. 4. 2004 / 19:00 Uhr
10. 4. 2004 / 19:30 Uhr
17. 4. 2004 / 19:30 Uhr
18. 4. 2004 / 19:00 Uhr
24. 4. 2004 / 19:30 Uhr
25. 4. 2004 / 19:00 Uhr
26. 4. 2004 / 19:30 Uhr
17. 5. 2004 / 19:30 Uhr
18. 5. 2004 / 19:30 Uhr
25. 5. 2004 / 19:30 Uhr
26. 5. 2004 / 19:30 Uhr
28. 5. 2004 / 19:30 Uhr

Winfried Kretschmer, Journalist und Autor, arbeitet als freier Mitarbeiter für changeX.

© changeX [31.03.2004] Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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Winfried Kretschmer
Kretschmer

Winfried Kretschmer ist Chefredakteur und Geschäftsführer von changeX.

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