Mehr Open Space im Barcamp

Wie aus einem Zufall ein neues Format für gemeinsames Lernen entstand
Text: Silke Luinstra

Was ist das AUGENHÖHEcamp? Eine Unkonferenz auf jeden Fall, ohne Agenda und vordefinierte Themen. Genau besehen ist es eine Mischung aus Barcamp und Open Space, ein Veranstaltungsformat mit hoher Energie und großer Autonomie. Ein skizzenhafter Umriss dieses Settings.

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Es war einmal auf einem Barcamp: Am Ende einer Veranstaltungspause wurde ich von einem der Organisatoren zurück in die Arbeitsräume gebeten - obwohl ich gerade mitten im Gespräch mit einem anderen Teilnehmer war. Meine Irritation war groß, denn in einem Barcamp sollten doch Eigenverantwortung, Selbstbestimmung und Selbstorganisation als Leitprinzipien gelten! Hier aber galt das offenbar nicht. Im Nachdenken über diese Episode wurde mir klar, dass ich mir etwas mehr Open Space in diesem Barcamp gewünscht hätte.  

Dieses Ereignis war Anlass, ein eigenes Format zu entwickeln: Das AUGENHÖHEcamp ist eine Mischung aus Barcamp und Open Space. In AUGENHÖHEcamps kommen Menschen zusammen, die Entwicklungsprozesse in ihren Organisationen aktiv gestalten - als Geschäftsführerin, Unternehmer, Führungskraft, Personaler, Organisationsentwicklerin oder engagierter Mitarbeiter. Wie in Barcamps üblich gibt es auch beim AUGENHÖHEcamp keine vor der Veranstaltung kuratierte und erstellte Agenda mit Vorträgen und festen Workshopthemen. Stattdessen erstellen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer die Agenda selber, indem sie ihr Wissen, ihre Themen, ihre Vorgehens- und Sichtweisen anderen zugänglich machen, aber auch ihre Fragen und Anliegen einbringen.  

Dabei ist jeder eingeladen, etwas einzubringen, aber niemand ist dazu verpflichtet. Es sei aber betont: Eine Frage zu haben reicht. Niemand muss einen vorbereiteten Vortrag oder Workshop mitbringen - aber auch das ist willkommen.  

Alle Themen und Fragen werden aufgenommen, es wird nicht abgestimmt oder priorisiert. Auch hier gilt die Selbstorganisation. Und wenn es irgendwo mal richtig voll wird, regelt auch das die Selbstorganisation - und trainiert sie zugleich …


Vier Prinzipien und das Gesetz des Open Space


Durch Moderation wird eine Minimalstruktur gesetzt, die es ermöglicht, sich selbst zu organisieren und Eigenverantwortung zu übernehmen. Bei der Moderation orientiert sich das AUGENHÖHEcamp stark an den vier Prinzipien und dem Gesetz des Open Space:  

Die vier Prinzipien:  

  • Erstens: Wer immer kommt, es sind die Richtigen.

  • Zweitens: Was immer geschieht, ist das Einzige, was geschehen kann.

  • Drittens: Es beginnt, wenn die Zeit reif ist.

  • Viertens: Vorbei ist vorbei. Nicht vorbei ist nicht vorbei.

Das Gesetz der zwei Füße ermuntert die Teilnehmer zu prüfen, ob sie in einer Session gerade etwas beitragen oder lernen - und andernfalls die Gruppe zu verlassen, sie mit ihrer Abwesenheit zu ehren.  

Diese vier Prinzipien und das Gesetz des Open Space sorgen für hohe Energie und Autonomie in der Veranstaltung. Das scheint zunächst gegen unsere Erfahrungen und Konventionen zu geschehen, denn wir sind eher gewohnt, aus Höflichkeit zu bleiben, auch wenn wir einen Vortrag oder eine Diskussion langweilig finden. Im AUGENHÖHEcamp ist das anders: Hier gibt es die Erlaubnis, ja sogar die Aufforderung, eine Session zu verlassen, wenn man weder beiträgt noch lernt. Dadurch können sich die verbleibenden Teilnehmer mit ganzer Energie dem Thema widmen und werden nicht von jemandem gebremst, der gerade wenig Leidenschaft in der diskutierten Frage hat (oder sie nicht mehr hat).  

Die Bedeutung der Moderation liegt neben der Strukturierung darin, Menschen mit ihren Fragen in Kontakt zu bringen, sie zu ermutigen, noch nicht "spruchreife" Themen herauszuarbeiten - und natürlich auch den Kontakt unter den Teilnehmerinnen zu fördern. Die Moderatorin gibt den Rahmen, sie ermöglicht viel, aber bestimmt nichts.  

Ein striktes Zeitraster gibt es im AUGENHÖHEcamp nicht, die Open-Space-Prinzipien drei und vier sorgen für eine fließende Veranstaltung, in der immer das stattfindet, wofür die Menschen gerade Energie haben. Auch feste Pausen gibt es nicht - jede nimmt sich ihre Pausen dann, wenn sie sie braucht. Wie in Open Spaces üblich, ist den ganzen Tag für Versorgung mit Essen und Getränken gesorgt - es muss also niemand mittags zum Büfett hetzen.  


Stichwort "Dokumentation" - zwei Thesen


Ein Wort noch zur Dokumentation eines AUGENHÖHEcamps. Erfahrungsgemäß wünschen sich die Teilnehmer häufig eine Dokumentation, selten aber wird sie wirklich genutzt. Dazu zwei Thesen:

  • Das Wesentliche passiert in den Sessions, eine Dokumentation gibt nur einen kleinen Einblick.

  • Teilnehmer haben oft Angst, dass sie etwas verpassen (was sie ja auch tun, wie immer, auf jeder Veranstaltung …), und erhoffen sich von der Dokumentation, das Verpasste nachholen zu können.

Um diesen Bedürfnissen entgegenzukommen, sorgen wir eher für Vernetzung zwischen den Sessions - jemand, der mir mit leuchtenden Augen berichtet, hat eine ganz andere Wirkung als ein Text oder ein Foto, das mich stumm anschaut. Der Einsatz von Video ist eine gute Brücke. Wird die Veranstaltung mitgefilmt, werden zusätzlich Interviews geführt, erhalten die Teilnehmer eine gute Zusammenfassung. Und sie tauchen wieder in die Stimmung ein und können daraus erneut Energie für ihre Vorhaben ziehen.


Man muss es erleben


Eine Warnung: An einem AUGENHÖHEcamp teilzunehmen kann irritieren, da es mit einigen Konventionen und Gewohnheiten bricht. Genau das macht es aber auch zu einem interessanten Erfahrungsraum. Wenn Irritation auftaucht, großartig! Studiere sie! Woher kommt sie? Welche Gewohnheiten sind gerade gebrochen worden? Wofür könnte das gut sein? Was brauchst du, um dich gut dabei zu fühlen? Achte auf deine eigenen Bedürfnisse! Auch das ist ungewohnt und gleichzeitig sehr nützlich.  

Wenn man AUGENHÖHEcamps einordnen möchte, sind sie vermutlich eine Unkonferenz, die sich an Prinzipien des Barcamps und des Open Space orientiert. AUGENHÖHEcamps funktionieren natürlich auch als interne Veranstaltungen, wenn man entsprechende Rahmenbedingungen kreiert.  

Übrigens: Diese Art der Veranstaltungsgestaltung hat natürlich eine Vorgeschichte. Sie hat ihre Wurzeln in den Wevents von intrinsify.me. Seit 2012 erlebe ich sie als Teilnehmerin, seit 2013 moderiere ich sie hin und wieder und habe dieses Format dann weiterentwickelt. Auch dort ist Kraft spürbar, die wir in AUGENHÖHEcamps erfahren. Man kann das nicht erzählen, man muss es erleben.  


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