Gelebte Lebendigkeit

Selbstorganisation - eine Erkundung | 16 Silke Luinstra
Interview: Winfried Kretschmer

Selbstorganisation ist ein schillernder Begriff, und genau besehen ist keineswegs klar, was damit eigentlich gemeint ist. Unterschiedliche Sichtweisen finden sich sowohl beim Verständnis von Selbstorganisation wie bei Konzepten zu ihrer praktischen Umsetzung. Zeit, das Feld abzustecken. Und Menschen zu fragen, die in und mit Selbstorganisation arbeiten. Eine Erkundung. Hier im Interview: Silke Luinstra, Unternehmerin, Buchautorin und AUGENHÖHE-Aktivistin in Hamburg.

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Was ist und was soll Selbstorganisation? Und was braucht es, um sie möglich zu machen? Diese und ein paar weitere Fragen an Silke Luinstra. 

Silke Luinstra ist Unternehmerin und Buchautorin in Hamburg. Sie ist Mitgründerin der Initiative AUGENHÖHE, gehört der Geschäftsführung der AUGENHÖHEworks GmbH an und ist Mitinitiatorin der Community Expedition Arbeit. In ihrem Buch Lebendigkeit entfesseln (2021) formuliert sie acht grundlegende Prinzipien für die Entfesselung von Lebendigkeit in Organisationen: leise wirken, Sinn entfalten, Augenhöhe anstreben, Autopoiese respektieren, Selbstorganisation organisieren, selbst denken und selbst machen, Wege erforschen und Entwicklung neu denken. Lebendigkeit ist für die Autorin dabei die entscheidende Zukunftsfrage: "Ohne Lebendigkeit werden Unternehmen auf die immer größer werdende Dynamik nicht dauerhaft antworten können." Der Schlüssel dazu: Selbstorganisation. Das eine bedingt das andere.
 

Was muss man wissen, um Selbstorganisation zu verstehen? 

Vor allem, dass jede:r etwas anderes darunter versteht. Während die einen Selbstorganisation als grundlegende Eigenschaft komplexer Systeme sehen, meinen die anderen damit eher einen Gegenentwurf zu hierarchischen Strukturen - kurz und vereinfacht gesagt, es gibt sicher noch deutlich mehr Positionen. Es lohnt sich also in jedem Fall zu klären, was jemand meint, der Selbstorganisation thematisiert oder sie fordert. Und am besten auch nachzufragen, wofür in seinem Verständnis Selbstorganisation gut wäre und wozu sie beitragen soll.
 

Was verstehst du unter Selbstorganisation? 

Ich verstehe unter Selbstorganisation das, was in lebendigen Systemen - egal, ob Menschen oder Organisationen - angesichts ihrer Umwelt geschieht. Es ist nichts, was jemand "machen" könnte, sondern vielmehr ein grundlegender Mechanismus des Lebendigen. Jedes lebendige, komplexe System hat die Fähigkeit, aus sich selbst heraus Muster zu erzeugen, das ist eine ihm innewohnende Eigenschaft. Dieses Verständnis von Selbstorganisation speist sich aus Systemtheorie, Autopoiese, Synergetik und Hypnosystemik - und vermutlich noch weiteren Konzepten, die ich nicht (mehr) bewusst benennen kann.
 

Gibt es weitere Kontexte, in denen Selbstorganisation thematisiert wird und mit welchen unterschiedlichen Bedeutungen? 

Ja, jede Menge. Manchmal ist damit gemeint, dass ein Team selbst entscheidet, wer was wann erledigt, und keine Führungskraft das vorgibt. Damit rückt es nah an Selbstbestimmung - eines Einzelnen oder eines Teams. Einige meinen mit Selbstorganisation auch, wie ich mich selbst organisiere, wie ich mit meiner Zeit umgehe, also eher "Selbstmanagement" - wobei ich den Begriff als Synonym für Aufgabenmanagement auch nicht sonderlich mag. Der Umgang mit sich selbst möge mehr umfassen als das Organisieren der Aufgaben, und es wäre wünschenswert, wenn dieser Umgang eher von kollegialer Führung als von Management geprägt wäre - im übertragenen Sinne.
 

Ist der Begriff Selbstorganisation passend und hilfreich? 

Gute Frage. Vielleicht sollten wir besser von "Autoorganisation" sprechen - weil es eben etwas ist, das lebendige Systeme automatisch tun. Zumindest dann, wenn wir dieses Verständnis von Selbstorganisation meinen. Und davon die Ansätze unterscheiden, die mit dem Begriff mehr Partizipation und Demokratie in Organisationen meinen.
 

Wofür wäre Selbstorganisation eine Lösung? 

In meinem Verständnis ist Selbstorganisation keine Lösung für irgendetwas - weil sie sowieso da ist. Das klingt jetzt vielleicht beliebiger, als es ist, daher sage ich noch ein paar Sätze dazu: In meiner Beobachtung wird in Organisationen immer dann der Ruf nach Selbstorganisation laut, wenn Menschen in diesen Unternehmen den Eindruck haben, in ihrer Wirksamkeit - sie könnten auch sagen Selbstwirksamkeit - behindert zu werden. Also meistens dann, wenn viele Vorgaben den Raum eng machen, wenn Anreizsysteme bestimmtes Verhalten zu erzeugen versuchen und so weiter. Dann soll Selbstorganisation das Problem lösen. Aber sie ist ja schon da, sie ist nur gefesselt, wie ich gerne sage - und mit ihr die Lebendigkeit in einer Organisation. Diese wird dann starr, unbeweglich. Es geht also nicht darum, Selbstorganisation einzuführen, sondern ihr Raum zu geben. Was übrigens nicht heißt: Jeder macht, was er will. Damit gemeinsam Wirksamkeit entsteht, braucht es eine Ausrichtung, ein "Wofür" des Handelns - mindestens.
 

Was ist das Gegenteil von Selbstorganisation? 

Tod? Das mag überspitzt klingen, aber wenn ich dabei bleibe, dass Selbstorganisation eine Eigenschaft alles Lebendigen ist, dann wäre wohl "Tod" eine passende Formulierung. Neulich las ich bei Benno Löffler den wunderbaren Satz: "Wenn dich deine Uhr überrascht, dann ist sie kaputt. Wenn mich meine Frau nicht mehr überrascht, ist sie tot." Besser könnte ich es nicht sagen.
 

Hat Selbstorganisation Grenzen? 

Ein lebendiges System wird sich immer selbst organisieren, solange es besteht. Das tut es allerdings nicht immer in hilfreicher, gewünschter Weise. Es kann sein, dass ein Mensch mit Depressionen auf die Geschehnisse in seinem Umfeld reagiert. Diese Reaktion bringt das System selbst hervor, doch sie hat einen Preis, und der Mensch wünscht sich vermutlich, die Depression loszuwerden. Damit das gelingt, hilft es, diese als Reaktion, als Lösungsversuch zu verstehen - und von diesem Verständnis aus andere Reaktionsmuster zu etablieren. Das geht nicht von heute auf morgen, nicht per "Willensentscheidung", sondern es geht darum, Schritt für Schritt den Weg in ein anderes Muster zu bahnen. Diese Ausführung deutet nebenbei noch eine wichtige Eigenschaft lebendiger, komplexer, sich selbst organisierender Systeme an: Sie sind auch autonom. In meinem Verständnis bedeutet das, dass ich von außen nichts mit diesen Systemen tun kann. Ich kann sie nicht motivieren, ihnen nichts beibringen oder sie sonst wie verändern. Menschen nicht und Organisationen auch nicht. Versuche gibt es gegenüber beiden reichlich - auch wenn verbal oft etwas anderes geäußert wird.
 

Die Frage gewendet: Werden Selbstorganisation Grenzen gesetzt? Gibt es - in der Gesellschaft, in Unternehmen und anderen Organisationen - Barrieren, Hemmnisse und Restriktionen, die Selbstorganisation blockieren oder einschränken? 

Ich glaube, dass das Verständnis, es bei Menschen und Organisationen mit sich selbst organisierenden, autonomen Systemen zu tun zu haben, nicht so sehr verbreitet ist. Deswegen werden - oft in bester Absicht übrigens - Vorschriften gemacht, Kontrollen eingeführt, Motivationsprogramme aufgelegt oder Führungsschulungen veranstaltet. All das könnte - zum Beispiel von Menschen in einem Unternehmen - als begrenzend erlebt werden, weil sie sich dem ausgeliefert fühlen. Oder anders gesagt: Von solchen Dingen gehen starke Einladungen aus, sich in bestimmter Weise zu verhalten. Die adressierten Menschen können eine Vorschrift befolgen, müssen aber nicht. Sie können grundsätzlich entscheiden, wie sie sich zu einer Vorschrift - die sie vielleicht als unsinnig empfinden - verhalten: diese achselzuckend hinnehmen, ihr so gut es geht ausweichen, lethargisch werden, dagegen ankämpfen. Wie sie reagieren werden, kann niemand vorher wissen. Aber zum Beispiel durch das Strafmaß könnte man beeinflussen, welche Reaktion wahrscheinlicher ist. Es gibt viel mehr Steuerbetrüger als Mörder - und in beiden Fällen gibt es Menschen, die sich entschieden haben, die jeweilige Vorschrift nicht zu beachten. Und müssen dann den Preis dafür bezahlen.
 

Können Menschen Selbstorganisation? 

Ja, sie sind ja lebendige Wesen. Das ist die kurze Antwort. Die etwas längere: Mein Eindruck ist, dass wir verlernt haben, uns selbst als autopoietische, also uns selbst organisierende Wesen wahrzunehmen und entsprechend mit uns umzugehen. Da wird verdammt viel zu erzwingen versucht - bestimmte Leistungen oder Gesundheit zum Beispiel. Aber das geht nicht. Das habe ich als Sportlerin immer und immer wieder erfahren: Ich hatte kapiert, wie eine Kippe am Stufenbarren geht, ich hatte auch die nötige Kraft und Beweglichkeit - ging aber trotzdem lange nicht. Ich konnte es noch so wollen … half alles nix. Erst als mein Körper - durch unterstützende Hilfestellung - gelernt hatte, wie sich die richtige Bewegung anfühlt, war ich plötzlich oben. Und beim nächsten Versuch wieder nicht. Das ist kein rein kognitiver Prozess. Das anzuerkennen, ist so etwas wie die Tür zu echter Selbstorganisation.
 

Gewinnt Selbstorganisation an Bedeutung? 

Ich hoffe es. Und ich glaube, dass ein großes Potenzial darin liegt, wenn wir Selbstorganisation auf uns als Menschen und auf unsere Organisationen beziehen.
 

Woran lässt sich das festmachen? 

Ich nehme wahr, dass in immer mehr Organisationen gefragt wird, was nach Agilität und New Work kommt - oder ob es das denn nun gewesen wäre. Es entstehen neue, tiefer gehende Fragen. Das ermutigt mich sehr. Und es ist meine Sicht auf die Welt - keine Wahrheit, sondern meine Art, zu beobachten.
 

Sollte es mehr Selbstorganisation geben? 

Nicht mehr, aber mehr entfesselte Selbstorganisation - und damit Lebendigkeit.
 

Welche sind die größten Hemmnisse für mehr Selbstorganisation? 

Die Idee, mit einem lebendigen System "etwas machen zu können", also ein Organisationsmodell einführen, eine Methode verordnen, ein Team entwickeln, das geht schlicht nicht. Mir wird mehr und mehr deutlich, dass wirklich lebendige Organisationen dort entstehen, wo sich eine gewisse Demut dem System gegenüber etabliert. Nirgends war das für mich in den letzten Jahren spürbarer als bei der Sparda-Bank in München. Helmut Lind, der Vorstandsvorsitzende, formulierte in einem unserer Gespräche: "Wer bin ich, in der Arroganz zu glauben, dass ich die Welt komplett erfassen und ergreifen kann? Welche Überheblichkeit leitet mich, dass ich der bin, der das allein kann?" Neben Demut ist mir noch etwas aufgefallen: Alle Organisationen, die ich als ausgesprochen lebendig erlebe, haben ihre Art und Weise, ihre Organisation zu gestalten, selbst erfunden. Manche haben sich dabei von Filmen oder Büchern inspirieren lassen, andere formulierten: "Wir lesen keine Managementbücher." Zu viel zu wissen - oder zu glauben, zu wissen … - ist definitiv auch ein Hemmnis für Selbstorganisation.
 

Welche Bedeutung hat Selbstorganisation ganz konkret für dich und deine Arbeit? 

Eine sehr zentrale. Seit ich das Konzept stärker verinnerlicht habe, gehe ich mit mir selbst anders um. Es macht wirklich einen Unterschied, die eigenen Macken als Lösungsversuche zu lesen - und nicht als dämlich, unfähig oder was einem noch so einfallen könnte. Das verändert Interaktionen. Auf Basis dieser Erfahrung bemühe ich mich, Respekt vor der Selbstorganisation jedes Menschen und jeder Organisation zu leben. Das führt dazu, dass ich sehr viel frage, mich dafür interessiere, wofür jemand etwas tut, was er tut, warum eine Organisation diese oder jene - manchmal extrem nervigen - Muster hervorgebracht hat. Bis ich nicht verstanden habe, welches Problem das System lösen will, kann ich auch keine hilfreiche Alternative vorschlagen.
 

Welche Frage stellst du dir selbst zur Selbstorganisation? 

Wofür ist es gut, dass wir diese Sicht auf Selbstorganisation, wie ich sie gerade angerissen habe, (noch) nicht als handlungsleitende Maxime nutzen? Es muss gute Gründe geben - sonst wäre es anders.
 

Das Interview basiert auf einem schriftlich beantworteten Interviewleitfaden mit 15 Fragen, ergänzt mit den Antworten auf einige gezielte Nachfragen.
 


Zitate


"Selbstorganisation ist schon da, sie ist nur gefesselt - und mit ihr die Lebendigkeit in einer Organisation." Silke Luinstra: Gelebte Lebendigkeit

"Es lohnt sich zu klären, was jemand meint, der Selbstorganisation thematisiert oder sie fordert." Silke Luinstra: Gelebte Lebendigkeit

"Selbstorganisation ist nichts, was jemand 'machen' könnte, sondern vielmehr ein grundlegender Mechanismus des Lebendigen. Jedes lebendige, komplexe System hat die Fähigkeit, aus sich selbst heraus Muster zu erzeugen, das ist eine ihm innewohnende Eigenschaft." Silke Luinstra: Gelebte Lebendigkeit

"Wir haben verlernt, uns selbst als autopoietische, also uns selbst organisierende Wesen wahrzunehmen und entsprechend mit uns umzugehen." Silke Luinstra: Gelebte Lebendigkeit

"Eine wichtige Eigenschaft lebendiger, komplexer, sich selbst organisierender Systeme ist: Sie sind auch autonom." Silke Luinstra: Gelebte Lebendigkeit

"Mir wird mehr und mehr deutlich, dass wirklich lebendige Organisationen dort entstehen, wo sich eine gewisse Demut dem System gegenüber etabliert." Silke Luinstra: Gelebte Lebendigkeit

"Alle Organisationen, die ich als ausgesprochen lebendig erlebe, haben ihre Art und Weise, ihre Organisation zu gestalten, selbst erfunden." Silke Luinstra: Gelebte Lebendigkeit

 

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Quellenangaben

Zum Buch

: Lebendigkeit entfesseln. Acht Prinzipien für ein neues Arbeiten in Wirtschaft, Bildung und Gesellschaft. GABAL Verlag, Offenbach 2021, 264 Seiten, 32 Euro (D), ISBN 978-3-96739-031-5

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