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Lernen im Vorbeigehen

Corporate MOOCs werden zum Wegbereiter einer neuen Lern- und Wissenskultur in Unternehmen
Essay: Nora S. Stampfl

Die akademische Welt haben sie bereits auf den Kopf gestellt: Massive Open Online Courses. Denn sie versprechen, alles über den Haufen zu werfen, was jahrhundertelang unser Bild des Lernens geprägt hat. Nun sind die Unternehmen dran. MOOCs haben das Potenzial, endlich die alte Idee der lernenden Organisation voranzubringen und eine neue Lern- und Wissenskultur zu schaffen: Lernen überall und jederzeit, wann immer es gerade gefragt ist.

Flache Hierarchien, Dezentralisierung von Arbeitsstrukturen, mehr Partizipation, die Ersetzung arbeitsintensiver Modelle durch technologieintensive Modelle mit der Konsequenz der Wissensintensivierung von Prozessen, verkürzte Produkt- und somit Produktionszyklen: Dies sind die Eckpfeiler eines deutlich gewandelten Handlungsumfelds für Unternehmen. Wie nie zuvor steht und fällt Wettbewerbserfolg heute mit raschem und flexiblem Reaktionsvermögen, mit Wendigkeit und Anpassungsfähigkeit. Standardisierte Herangehensweisen gibt es nicht mehr, ebenso wenig den einzig besten Lösungsweg. Führung muss immer wieder aufs Neue den angemessenen Weg für die jeweilige Situation finden. 

Unter diesen Vorzeichen haben sich nicht zuletzt die Anforderungen an Mitarbeiter drastisch gewandelt. Denn flexibel reagierende Unternehmen benötigen flexible Mitarbeiter, die stets auch das große Ganze im Blick behalten. Weil deren Fachkompetenzen jedoch denselben Veränderungskräften unterworfen sind, ist das Handeln jedes Einzelnen am besten durch Selbstmotivation und Eigenverantwortung geleitet. Erlaubte die tayloristische Arbeitsorganisation noch das Erlernen eines Berufs auf Lebenszeit, so stehen die Menschen heute ständig neuen Lernanforderungen gegenüber. Um Schritt zu halten, braucht es autonome, selbst lernende Mitarbeiter.


Lernen als ständiger Begleiter


Es liegt auf der Hand, dass dieser Wandel nicht durch individuelles Lernen allein zu bewältigen ist. Zwar ist es unbestreitbar wichtig, dass jeder Einzelne ständig am Ball bleibt und Neues hinzulernt, jedoch verlangen organisatorische Anpassungsfähigkeit und Flexibilität weit mehr: Netzwerkstrukturen statt Hierarchien, Kompetenzen statt formaler Qualifikationen, Eigeninitiative statt Ausführung von Anweisungen, Innovationen statt Abarbeiten nach Schema F. Daher ist die Idee der Lerngesellschaft nach wie vor höchst aktuell. Denn dabei wird Lernen als über das formelle Bildungsumfeld hinausgehend begriffen.  

Lernen kommt eine neue Qualität zu, weil es nicht nur Individuen betrifft, sondern zum Element von Systemen wird. Denn in einer Welt, die im Wandel ist, sind die Gesellschaft als Ganzes sowie sämtliche ihrer Institutionen in andauernden Prozessen der Transformation begriffen. Diese Transformationsprozesse zu handhaben, kann nur gelingen, wenn Lernen zum ständigen Begleiter und jeder Einzelne Meister im Lernen des Lernens wird. Denn es wird nicht ausreichen, Transformationen als Reaktion auf sich verändernde Situationen und Anforderungen anzustoßen. Vielmehr müssen Organisationen als lernende Systeme gestaltet werden, die andauernd eigenständig ihre eigene Transformation herbeiführen. Mit diesen Gedanken hat Donald A. Schön bereits Anfang der 1970er-Jahre das Fundament dafür gelegt, die Erfahrung immer schnelleren Wandels mit dem Erfordernis fortwährenden Lernens zu verknüpfen.  

Das Konzept der lernenden Organisation ist also keineswegs neu - vielmehr verwundert, welche Bestandskraft es angesichts besagter Schnelllebigkeit der heutigen Welt entfaltet. Das mag damit zusammenhängen, dass die lernende Organisation in der Theorie zwar einleuchtet, Unternehmen aber immer noch nach einem gangbaren Weg für deren praktische Umsetzung suchen. Vor diesem Hintergrund fragt sich, ob Massive Open Online Courses (MOOCs) der lernenden Organisation frischen Schwung und einen Schub in Richtung Praxistauglichkeit verleihen können. Immerhin haben jene kostenlosen, offen zugänglichen Online-Lehrveranstaltungen bereits in der akademischen Welt einen regelrechten Hype entfacht und versprechen, alles über den Haufen zu werfen, was jahrhundertelang unser Bild des Lernens prägte.  

Denn Massive Open Online Courses machen Lernen einer breiten Masse von Menschen zugänglich, stellen den Lernenden in den Mittelpunkt, individualisieren Lernumgebungen wie Lernerfahrungen je nach den Bedürfnissen des jeweiligen Lernenden und ermöglichen es ihm nicht zuletzt, im eigenen Tempo den eigenen Lernpfad zu beschreiten. Weil all dies dazu beiträgt, Lernbedürfnisse auf neuen Wegen und vor allem besser zu erfüllen, ist abzusehen, dass MOOCs ihren Weg von Academia in die Arbeitswelt nehmen.  

Denn dieses Format vereint nicht nur formales und informelles Lernen. Es bindet auch eine Reihe von Medien wie E-Learning-Module, Videos, Podcasts, Buchauszüge, Artikel und Blogbeiträge ein, lässt Lernende über die verschiedensten Kanäle (Diskussionsforen, Chats, Wikis, Social Media) kommunizieren und stiftet wirkungsvolle Lernerfahrungen durch die Integration von Storytelling-Techniken und spielbasierten Elementen sowie die Nutzung von Simulationen und Szenarien zur Einübung von Problemlösung und Entscheidungsfindung. MOOCs ermöglichen Lernen, wann immer es gerade benötigt wird, indem sie den nahtlosen Wechsel zwischen formellen und informellen sowie individuellen und sozialen Lernformen erlauben. Sind die riesigen offenen Onlinekurse als Dreh- und Angelpunkt einer völlig neuen Lern- und Wissenskultur in Unternehmen denkbar?  

Um im Unternehmensumfeld zu funktionieren, sind lediglich einige kleine Anpassungen notwendig: Weil das Publikum meist auf die eigenen Mitarbeiter und gegebenenfalls Jobkandidaten sowie die Mitarbeiter von Kunden- und Partnerunternehmen beschränkt ist, sind Corporate MOOCs nicht in dem Sinne "open", dass ausnahmslos jeder teilnehmen kann. Folglich fallen die Teilnehmerzahlen nicht vergleichsweise "massive" aus. Die Offenheit bezieht sich bei der betrieblichen Spielart eher auf den freien - sprich voraussetzungslosen - Zugang innerhalb des Unternehmens. Dahingegen werden die Kurse kaum jemals auf den Onlinebereich beschränkt bleiben, sondern sich auf die "echte" Welt ausdehnen, insbesondere dann, wenn viele Mitarbeiter teilnehmen, die örtlich nicht voneinander getrennt sind. Auch werden Corporate MOOCs zumeist kürzere Laufzeiten aufweisen und stärker dem Prinzip des Mikrolernens folgen, indem Kurse etwa in einzelne Module aufgesplittet werden, die nicht linear, sondern je nach Lernerfordernissen absolviert werden.  

In jedem Fall haben Unternehmen immer die Wahl, entweder auf die Masse verfügbarer Ressourcen auf einschlägigen Plattformen zuzugreifen und damit Zugang zum Denken der renommiertesten Institutionen zu öffnen oder aber eigene Inhalte in dieses Format zu gießen und Kurse für den jeweiligen Unternehmensbedarf maßzuschneidern.


Runderneuerung aller Lern- und Wissensprozesse


Unabhängig von der exakten Ausgestaltung der Kurse kann deren Integration in die gegenwärtige Lernlandschaft des Unternehmens mit dem zumeist vorherrschenden Flickenteppich aus Lernmöglichkeiten aufräumen: Mitarbeiter springen heute zumeist von einer Lerngelegenheit zur nächsten, ohne einem kohärenten Pfad zu folgen; Lern- und Wissensmanagement sind meist nicht ausreichend verzahnt. Mit dem Einsatz von MOOCs wird Lernen zum integralen Bestandteil des Arbeitsprozesses, weil Lernhäppchen bei Bedarf abgerufen werden können und ein reger Austausch mit anderen Lernenden stattfindet. Dadurch wird quasi "im Vorbeigehen" gelernt. Lernen ist nichts mehr, was extra anberaumt wird und parallel zur oder gar losgelöst von der Arbeit stattfindet. Massive Open Online Courses ermöglichen Lernen am richtigen Ort zum richtigen Zeitpunkt. Sie bringen das Lernen zum Mitarbeiter und bieten eine echte Chance, das alte Schlagwort vom lebenslangen Lernen endlich Wirklichkeit werden zu lassen.  

Im Zusammenspiel mit Big Data und einer detaillierten Analyse des Lernverhaltens eröffnen sie zudem unendliche Möglichkeiten des personalisierten Lernens. Denn MOOCs verwirklichen das Paradox der Massenindividualisierung: Während sie ein bewährtes Modell bieten, Tausende von Lernenden über den gesamten Erdball hinweg zu erreichen, schaffen sie gleichzeitig die Anpassung an die Lernbedürfnisse jedes Einzelnen.  

MOOCs passen Lernen an die Erfordernisse der Netzwerkgesellschaft an. Das alte Bildungsmodell, bei dem Inhalte vom Lehrenden an Lernende weitergegeben wurden, funktioniert in einer Zeit nicht mehr, in der beinahe jede Information durch eine Internetrecherche auffindbar ist. Der Wissensvermittlung nach dem Einbahnstraßenprinzip - vom Lehrenden zum Lernenden - liegen Beziehungsstrukturen zugrunde, die die Realitäten der heutigen Arbeitswelt nicht mehr widerspiegeln. Unternehmen entwickeln sich weg von rigiden, hierarchischen Befehls- und Kontrollorganisationen hin zu flexibleren, dezentraleren Strukturen. Während Mitarbeiter früher Anweisungen ausführen sollten, wird heute erwartet, dass sie in Teams zusammenarbeiten und strategisch denken, um unbestimmte Herausforderungen zu meistern oder Prozesse innovativ zu verbessern. Um der Flexibilität und Dynamik des heutigen Arbeitslebens Rechnung zu tragen, machen Massive Open Online Courses Lernen zum ständigen Begleiter und eröffnen exakt dann Zugang zu neuen Ideen, Konzepten und Lerninstrumenten, wenn sie benötigt werden. Gelernt wird nicht mehr auf Vorrat, sondern just in time.  

Zudem empfinden die Onlinekurse die Art und Weise nach, wie Menschen tatsächlich lernen, nämlich durch Kollaboration und soziale Interaktion. Dabei sind Inhalte zwar wichtig, doch kommt ihnen eher eine Nebenrolle zu, indem sie Interaktion, Konversation und Beteiligung unterstützen sollen. MOOCs sind keine Medien der Wissensvermittlung, sondern stellen Plattformen für selbst gesteuertes Lernen bereit. Durch ihre kollaborativen Technologien und ihren offenen Zugang zu Lernressourcen eröffnen sie Spielräume, ohne zeitliche oder örtliche Beschränkungen, nach den eigenen Bedürfnissen und im angemessenen Tempo zu lernen. Dabei bietet das neue Lernformat im Gegensatz zu herkömmlichen technologiegestützten Lernformen die Möglichkeit für soziales Lernen. Nicht nur werden Inhalte und Kollaboration nahtlos integriert, auch weicht die strikte Rollentrennung zwischen Lehrenden und Lernenden auf und es bilden sich heterogene Netzwerke, die zur Entstehung geteilten Wissens beitragen.


Infrastruktur für den Umgang mit der Ressource Wissen


Wie auch immer sich Unternehmen MOOCs bedienen - ob selbst erstellt oder durch Zugriff auf vorhandenes Material namhafter Institutionen -, das neue Lernformat ist imstande, eine Infrastruktur aufzuspannen, die Mitarbeiter in sämtlichen Arbeitsphasen und -situationen begleitet:  

Erstens können die Kurse Zugang zu globalen Talentpools eröffnen und im Bereich der Rekrutierung und zum Zwecke des Talentscoutings eingesetzt werden. Indem sie Lernleistungen sichtbar machen, weisen sie den Weg zu Kandidaten mit einzigartigen Qualifikationen. Einige MOOC-Anbieter versprechen sogar als Teil ihres Geschäftsmodells die Identifizierung vielversprechender Kandidaten. Auch können MOOCs bei der Suche nach Mitarbeitern mit gefragten Skills hilfreich sein: Stellen Unternehmen selbst Lernressourcen zur Verfügung, ziehen sie damit geeignete Bewerber mit den gesuchten Kompetenzen an und schließen so Kompetenzlücken. Als Gegenleistung zum Angebot kostenloser Fortbildung erhält das Recruiting Einblick in die Kompetenzen der Teilnehmer und kann passende Bewerber gezielt ansprechen und an sich binden. Insgesamt wird die Integration dieses neuen Lernmittels jedenfalls durch ein Bekenntnis zu kontinuierlicher beruflicher Weiterentwicklung einen positiven Eindruck im Jobmarkt hinterlassen und die Attraktivität des Unternehmens als Arbeitgeber steigern.  

Zweitens verhelfen MOOCs neu eingestellten Mitarbeitern dazu, schneller produktiv einsatzfähig zu werden. Gerade im Onboardingprozess bietet sich eine Kombination aus selbst gesteuertem und angeleitetem Lernen an. Lernressourcen im MOOC-Format stehen nicht nur längere Zeit zur Verfügung und können über die Einarbeitungszeit hinaus verwendet werden, sondern fördern durch ihre soziale Natur zudem die Vernetzung der Einsteiger untereinander. Auf diese Weise wird Onboarding vom Einmalevent zum kontinuierlichen Prozess und wirkt auch im weiteren Verlauf der Karriere weiter.


Neue Kommunikationswege innerhalb und außerhalb des Unternehmens


Drittens decken MOOCs nicht nur Lernbedarfe innerhalb des Unternehmens, sondern bieten zugleich Wege, über innovative Lernerfahrungen Beziehungen zu Kunden und Partnern herzustellen und zu vertiefen. Bei erklärungsbedürftigen Produkten können sie seitenlange Gebrauchsanweisungen ersetzen oder bereits im Vorfeld einer Kaufentscheidung Auskunft zu Produkten geben und Kunden damit zu fundierten Entscheidungen befähigen. Produzenten können dadurch nicht nur Einfluss auf das Kaufverhalten ausüben, sondern bekommen zudem direkten Kontakt zum Markt; sie erhalten zeitnahes und unmittelbares Feedback sowie Kundeninformationen zum Gebrauch von Produkten. Damit werden MOOCs zum Marktforschungstool.  

Nicht nur Kunden, auch Lieferanten, Händler und sonstige Partner können via MOOCs mit Informationen versorgt werden. SAP beispielsweise bringt externe Softwareentwickler damit auf den neuesten technologischen Stand und profitiert dann durch bessere Inputleistungen. Auch das Händlernetz kann durch die neuen Lernmittel profitieren, indem Verkaufsunterstützung und Produktinformationen offeriert werden, um die Produktkenntnis zu verbessern und letztlich für höheren Absatz zu sorgen. Unternehmen erhalten so einen direkten Draht zu Kunden und Partnern und sind in der Lage, sämtliche Kommunikationskanäle gezielt zu entwickeln.  

Werden MOOCs nicht bloß als Instrument der Wissensvermittlung verstanden, sondern als Kollaborationsvehikel zum Teilen und Speichern von Informationen, zur Diskussion von Ideen und zur Herstellung eines gemeinsamen Verständnisses, dann können sie, viertens, dem Wissensmanagement neuen Schwung verleihen. Weil Wissen in Unternehmen durch Austausch und Interaktion zustande kommt, stellen MOOCs die geeignete Plattform bereit: eine Plattform für soziales Lernen. Insbesondere weil sie auf Interaktivität ausgelegt sind und nutzergenerierte Inhalte fördern, bieten sie auch eine Lösung für ein altes Problem des Wissensmanagements: nämlich die Erfassung impliziten Wissens. Idealerweise werden die interaktiven Onlinekurse als zentrales Knowledge Sharing Hub etabliert, wo sich alle Prozesse rund um Lern- und Wissensmanagement bündeln und miteinander verschränkt werden. Somit könnten MOOCs ganz wesentliche Beiträge zu allen Innovations- und Problemlösungsprozessen leisten.  

Die offensichtlichste Funktion von MOOCs liegt, fünftens, in der Personalentwicklung. Durch die Integration ausgewählter Kurse in das betriebliche Trainingsspektrum schaffen sie kostengünstig Zugang zu aktuellen Inhalten, ohne dass langwierig und aufwendig eigene Trainingsprogramme erstellt werden müssen. Anders als bei den meisten bisherigen Herangehensweisen der beruflichen Bildung schaffen MOOCs eine Kultur des kontinuierlichen Lernens, indem sie Lernen in die tägliche Arbeit integrieren und Weiterbildung nicht losgelöst vom Tagesgeschäft betrieben wird. Dabei unterstützt das neue Format sowohl selbst gesteuertes Lernen als auch betriebliche Trainingsmaßnahmen und Training on the Job. Selbst kleine Organisationen wären imstande, laufend aktuelle, relevante Lernaktivitäten anzubieten. Die so geschaffene Infrastruktur dient als Plattform, einheitlich zentrale Werte der Unternehmenskultur zu vermitteln sowie Netzwerke über geografische und organisatorische Grenzen hinweg zu bilden und lebendig zu halten.  

Weil Unternehmen immer stärker von klassischer Werbung abrücken und stattdessen ihre Marke durch hochwertige Medieninhalte formen und pflegen, werden, sechstens, MOOCs auch im Bereich von Branding und Marketing eine wachsende Rolle spielen. In der heutigen Werbeflut vermögen bedeutungsvolle Inhalte besser als herkömmliche Werbung, Menschen zu begeistern und zu Interaktionen anzuregen. Während klassische Werbung danach trachtet, Aufmerksamkeit zu erregen und Identität zu schaffen, geht es bei MOOCs darum, Beziehungen herzustellen. Mithilfe von Lerninhalten wird Konsumenten echter Mehrwert in Form relevanter Information und Unterhaltung geboten.  

Zudem können Unternehmen mithilfe der neuen Lernmedien gezielt Probleme von (potenziellen) Kunden ansprechen und Lösungen anbieten. Die Bank of America etwa stellt leicht verständliche MOOCs rund um Themen der persönlichen Finanzplanung zur Verfügung. Auf diesem Weg lässt sich aber auch die breite Öffentlichkeit ansprechen, um sie etwa von einem neuen Produkt oder einer neuen Technologie zu überzeugen. Idealerweise gelingt durch das Angebot von Produkttrainings und die Möglichkeit zum Austausch mit unternehmensinternen Experten sogar der Aufbau von Meinungsführern für die Marke.


MOOCs als Wegbereiter der lernenden Organisation


Die Vielfalt der möglichen Einsatzbereiche zeigt, dass Corporate MOOCs viel mehr sein können als bloße Lernplattformen. Durch ihre soziale Natur bereichern sie nicht nur individuelles Lernen, sondern bereiten auch organisationalem Lernen den Boden. Die MOOC-Infrastruktur hilft, sämtliche Prozesse rund um Lern- und Wissensmanagement zu orchestrieren und bietet sich daher als schlagfertiges Instrument bei der Kultivierung lernender Organisationen an.  

Die veränderten Anforderungen an die berufliche Weiterbildung sowie die neuen Möglichkeiten durch Technologieunterstützung legen eine Neudefinition der Rolle der Personalentwicklung nahe. Denn mit der Masse an online zur Verfügung stehenden Lern- und Informationsressourcen sowie der Verfügbarkeit von Tools zum selbst gesteuerten Lernen braucht es im Unternehmen weniger einen Informationsanbieter und Wissensvermittler. Es braucht vielmehr einen Kurator von Informationen, einen Dirigenten des Lernens sowie einen Organisator aller Prozesse des Lernens und des Umgangs mit der Ressource Wissen.  

Die bisherige Aufgabendefinition der beruflichen Weiterbildung bestand darin, existierende Kompetenzlücken zu identifizieren, entsprechende Trainingsprogramme zu konzipieren und Mitarbeiter für diese Trainings zu nominieren, damit diese nach Absolvierung effizienter wieder an ihren Arbeitsplatz zurückkehren. Diese Funktion ist jedoch immer weniger zeitgemäß - zu schnell ändern sich die Rahmenbedingungen, zu wenig wird diese Vorgehensweise der Komplexität und Ambiguität der Arbeitswelt gerecht. Nicht zuletzt haben Unternehmen immer mehr mit globalen Teams in multikulturellen Arbeitsumgebungen und einer Vielzahl verschiedener "Trainingsadressaten" (Freelancer, Berater, Vollzeit- und Teilzeitkräfte, Projekt- und Heimarbeiter et cetera) zu tun.  

Um diesen Herausforderungen zu begegnen, wird es in Zukunft eher darum gehen, ein Umfeld zu schaffen, das die Entstehung von Gemeinschaften ermöglicht und diese zum Informations- und Ideenaustausch, zur Kollaboration sowie zu selbst gesteuertem, sozialem und informellem Lernen befähigt. Lernprozesse werden künftig viel weitreichender sein, als herkömmliche Trainingsprogramme dies vorsahen: Lern- und Wissensprozesse werden eng verzahnt sein und nicht nur sämtliche Unternehmensbereiche integrieren, sondern auch die Unternehmensgrenzen nach außen hin aufweichen und Kunden und Partner mit erfassen. Nur wenn organisatorische Silos aufbrechen und eine Kultur des Teilens entsteht, bilden sich jene persönlichen Lernnetzwerke, die allein dazu imstande sind, in einer sich immer schneller drehenden Welt die passenden Antworten zu finden.



Revival der fünf Disziplinen


Peter Senge hat mit seinem BuchThe Fifth Discipline in den 1990er-Jahren die Idee der lernenden Organisation populär gemacht. Senges Konzept des Veränderungsmanagements wurde heiß diskutiert, aber auch seine "fünf Disziplinen" konnten die Schwierigkeiten der Umsetzung nicht ausräumen. Nach wie vor sucht man Vorzeigebeispiele lernender Organisationen vergeblich. Es blieb bei der Vision - was jedoch nicht verwunderlich ist, immerhin spricht der Autor selbst davon, dass es die lernende Organisation nicht gäbe, "es ist eine Vision - eine Richtung, in die sich eine Organisation entwickeln sollte". So vage das Konzept von Anbeginn an auch blieb, ruft man sich heute die fünf Disziplinen ins Gedächtnis, die Senge zufolge Unternehmen im globalen, turbulenten Wettbewerb beherrschen müssen, dann erscheinen Massive Open Online Courses geradezu prädestiniert, alle diese Disziplinen zu unterstützen.  

Weil sie jedem einzelnen Organisationsmitglied immer und überall Lernressourcen zur Verfügung stellen und selbst gesteuertes Lernen ermöglichen, geht die erste Disziplin "Persönliche Reife" (Personal Mastery) naturgemäß Hand in Hand mit MOOCs, schließlich zielt sie auf ständige Selbstverbesserung, Selbstschulung und Selbstführung. Wer persönliche Reife anstrebt, lebt in einem nie endenden Lernmodus, wobei es nicht nur um Kompetenzen und Fähigkeiten, sondern vielmehr um eine persönliche Vision geht. Für Senge garantiert zwar individuelles Lernen noch kein organisationales Lernen, aber umgekehrt können Organisationen nur dann lernen, wenn auch ihre Mitglieder lernen.  

Die zweite Disziplin "Mentale Modelle" (Mental Models) bezieht sich auf die expliziten und impliziten Grundannahmen, die wir besitzen, um unsere Umwelt zu erklären. MOOCs als Kollaborations- und Diskussionsplattform können diese Annahmen sichtbar, verhandelbar und damit zum Gegenstand der Weiterentwicklung machen.  

Diese Kollaborationsfunktion unterstützt ebenso die dritte Disziplin "Gemeinsame Vision" (Shared Visioning), wenn sich Organisationsmitglieder über die gemeinsamen Ziele verständigen und so eine gemeinsame Vision entsteht. Durch Verfügbarkeit verschiedenster Inhalte und den kontinuierlichen Austausch über alle Organisationsgrenzen hinweg können der Zweck jeder einzelnen Teilaufgabe und deren Bedeutung für die Entwicklung der gesamten Organisation besser verstanden werden.  

Durch ihre soziale Natur unterstützen MOOCs jedenfalls die vierte Disziplin "Teamlernen" (Team Learning), wenn sich durch die Zusammenarbeit gemeinschaftliches Verstehen vollzieht und Einzelne durch die Teamarbeit eine persönliche und fachliche Kompetenzerweiterung erfahren.  

Senges fünfte Disziplin "Systemdenken" (Systems Thinking) ist die Krone des Konzepts, sie integriert die anderen Disziplinen zu einem kohärenten Ganzen. Dadurch dass MOOCs als Werkzeug des Wissensmanagements einsetzbar sind und neben explizitem auch implizites Wissen zugänglich machen, erleichtern sie das Denken in Systemen. Weil die Kurse dazu befähigen, über das eigene Arbeitsumfeld hinauszublicken, und organisatorische Silos aufbrechen, ermöglichen sie eine ganzheitliche Betrachtung und machen Wirkungszusammenhänge sichtbar.  

Auf dem Weg zur lernenden Organisation können MOOCs als Werkzeug dienen, beileibe nicht als einziges. Aber doch besitzen sie Charakteristika, die bei Schaffung der wesentlichen Rahmenbedingungen für lernende Organisationen hilfreich sind: Denn sie machen Lerninhalte für jedermann jederzeit verfügbar, einfach auffind- und anwendbar. Mitarbeiter sind Lehrende und Lernende zugleich, sie haben Gelegenheit, diese Rollen auszufüllen, und finden dafür Anerkennung. Ebenso fördern sie selbst gesteuertes Lernen und persönliche Weiterentwicklung ebenso wie den Willen und die Fähigkeit, zu lernen, sich selbst stets auf dem Laufenden zu halten und immer dazuzulernen.  

Zusammenfassend gilt, dass MOOCs ein Klima schaffen, in dem Lernen unverzichtbarer Bestandteil der Unternehmenskultur ist, der auch in stürmischen Zeiten nicht über Bord geworfen wird.  

Erwähnte Literatur 

Schön, Donald A. (1973): Beyond the Stable State. Public and Private Learning in a Changing Society. New York, S. 28.  

Senge, Peter M. (1990): The Fifth Discipline. The Art and Practice of the Learning Organization. London; deutsch: Die fünfte Disziplin. Kunst und Praxis der lernenden Organisation. Stuttgart 1996.  


Zitate


"Massive Open Online Courses ermöglichen Lernen am richtigen Ort zum richtigen Zeitpunkt. Sie bringen das Lernen zum Mitarbeiter und bieten eine echte Chance, das alte Schlagwort vom lebenslangen Lernen endlich Wirklichkeit werden zu lassen." Nora S. Stampfl: Lernen im Vorbeigehen

"Gelernt wird nicht mehr auf Vorrat, sondern just in time." Nora S. Stampfl: Lernen im Vorbeigehen

"Im Unternehmen braucht es weniger einen Informationsanbieter und Wissensvermittler. Es braucht vielmehr einen Kurator von Informationen, einen Dirigenten des Lernens sowie einen Organisator aller Prozesse des Lernens und des Umgangs mit der Ressource Wissen." Nora S. Stampfl: Lernen im Vorbeigehen

 

changeX 22.05.2015. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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Autorin

Nora S. Stampfl
Stampfl

Nora S. Stampfl studierte Wirtschaftswissenschaften in Österreich (Mag. rer. soc. oec.) und den USA (MBA). Sie arbeitet als Unternehmensberaterin und Zukunftsforscherin in Berlin. Den Arbeitsschwerpunkten strategische Unternehmensführung, gesellschaftlicher Wandel und Zukunftsfragen widmet sie sich auch als Autorin.

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