In der fünften Dimension

Die Einführung in systemische Konzepte der Selbststeuerung von Andreas Kannicht und Bernd Schmid
Rezension: Sascha Hellmann

Der systemische Werkzeugkasten quillt geradezu über an Werkzeugen, den verschiedenen Interventionstechniken. Doch welche Technik ist wann sinnvoll? Zwei Autoren nehmen eine Metaperspektive ein, um diese Frage zu beantworten.

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Gute Werkzeuge machen noch keinen Meister - oder gar Künstler: Wenn ein Maler ein Bild malen möchte, braucht er Wissen über seine Utensilien, seine Werkzeuge. Er muss wissen, wie er mit einem Pinsel umgehen muss, wie er Striche setzt, welche Farben es gibt, wie Licht und Schatten funktionieren, wie er das auf der Leinwand umsetzen kann und wie er das Bild aufbauen sollte. Aber er sollte auch Wissen über die Kunstgeschichte, über Kulturepochen und deren Stilrichtungen als theoretischen Background mitbringen; und er muss die Fähigkeit besitzen, sich aus der Hektik des Alltags zu lösen, um bestenfalls in einem kreativen Flow agieren zu können.  

Das ist alles gut, wichtig und notwendig. Aber es fehlt noch etwas Entscheidendes: die grundsätzliche Orientierung. Denn die Vielfalt an Optionen, die weiße Leinwand in ein Kunstwerk zu verwandeln, ist groß, geradezu verwirrend. Er braucht eine Idee, er muss ein Motiv finden, eine innere Überzeugung, was er wie ausdrücken möchte. 

Systemisch gesprochen: Er muss in einen Prozess gelangen, in dem ihm eine Metaperspektive Orientierung gibt.


Bewusste Perspektivenwahl


Es ist "dieses Fokussieren und Wiederloslassen von Fokussierungen", schreiben die Autoren Andreas Kannicht und Bernd Schmid in ihrem neuen Buch Einführung in systemische Konzepte der Selbststeuerung, in dem sie diese Metapher verwenden, um zu zeigen, um was es ihnen geht. Doch was ist mit systemischen Konzepten der Selbststeuerung gemeint? Der systemisch arbeitende Berater soll sich, bevor er beratend tätig wird, mit all den Techniken, die ihm aus dem systemischen Werkzeugkasten zur Verfügung stehen, selbst in den Blick bekommen. Er soll, gleichsam aus einer Metaperspektive, die Techniken in den Blick bekommen, um bewusst entscheiden zu können, welche davon jetzt gerade sinnvoll einzusetzen sei.  

Denn: Die Technik allein ist noch kein Garant für das Gelingen, weder im künstlerischen Schaffens- noch im systemischen Beratungsprozess. Andreas Kannicht, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut, Teamentwickler und Coach, und Bernd Schmid, Leiter des Instituts für systemische Beratung in Wiesloch, Referent, Unternehmer und Gründer von Initiativen und Verbänden, bringen die Fragen, die der Selbststeuerung zugrunde liegen sollten, auf den Punkt: "Welche Perspektive nehme ich gerade ein? Habe ich überhaupt eine Perspektive? Welche anderen Perspektiven könnte es noch geben? Welche der möglichen Perspektiven koppelt bei dem Klienten an? Welche ergibt für mich als Berater am meisten Sinn? Habe ich gewohnheitsmäßig Perspektiven, bei denen ich typischerweise lande? Wie kann ich sie wieder verlassen?"


Steuerung erzeugt Wirklichkeit


Das klingt, zugegeben, für die praktische Beratungssituation etwas abstrakt - aber das quittieren die beiden Autoren, indem sie einen der großen Pioniere der Psychologie, Kurt Lewin, zitieren, mit einem genialen Paradox: "Es gibt nichts Praktischeres als eine gute Theorie!" Der Praktiker mag trotzdem weiter skeptisch sein und fragen: Was bringt mir das? Die Antwort der Autoren überzeugt: "Steuerungskonzepte stellen Modelle zur Verfügung, die sich mit unterschiedlichen Perspektiven beziehungsweise Fokussierungsebenen beschäftigen. Sie geben dem Berater Orientierung, welcher Ausschnitt von Wirklichkeit gerade in den Vordergrund gerät, und ermöglichen es ihm, bewusst zu entscheiden, statt zufälligen oder gewohnheitsmäßigen Vorgehensweisen zu folgen. Es sind Konzepte, die jenseits aktueller Plausibilität wach dafür halten, welche Fokussierungen möglich und für den Kontext angemessen sind, und helfen, aus ihnen einen möglichst sinnstiftenden Fokus zu wählen." Nämlich erst aus der bewusst gewählten Perspektive ergeben sich geläuterte Entscheidungen in Bezug darauf, welche Methoden gewählt werden, so die Autoren. Deshalb sind Steuerungskonzepte den Methoden übergeordnet.  

Es ist Ausdruck der theoretischen Dichte und Fundiertheit des Buches, wenn Kannicht und Bernd ihren Ansatz als "fünfte Dimension" bezeichnen, da die systematische Theorie bereits vier Dimensionen kennt: Theorie, Technik, Haltung und Kontextsensibilität. Und damit fügen sie einen wichtigen, vielleicht sogar grundlegenden Baustein in die Theorie ein. Das, was die Autoren schreiben, bewegt sich auf sehr hohen Niveau.  

Deshalb soll es genügen, hier einen Überblick zu geben, der sich auf Stichworte beschränkt, die neugierig machen, zur Lektüre ermutigen sollen: Nach einer grundlegenden Einführung zum Thema Selbststeuerung beschäftigt sich das zweite Kapitel mit systemischen Grundtechniken und Vorgehensweisen wie etwa Formen des Zuhörens und Fragens, Zeitperspektiven in der Beratung et cetera; das dritte Kapitel widmet sich "feldspezifischen Konzepten", also der Problemdefinition im Coaching, Perspektiven der Teamentwicklung, Perspektiven im Change-Prozess, Perspektiven auf Führung und Perspektiven der Supervision; im vierten Kapitel thematisieren die Autoren "Steuerungskonzepte höherer Ordnung", sprich Persönlichkeitsmodelle, Modelle für Wirklichkeitsbegegnung, narrative Ansätze, Konzepte zu Wirklichkeitsstilen et cetera; abschließend geht es im fünften Kapitel um "Mehr Prinzipielles ...": Der Systemgedanke wird dort nochmals thematisiert, um in Abrundung wieder auf Steuerungsperspektiven, Metaprofessionalität und die Idee, dass Steuerung Wirklichkeit erzeuge, zurückzukommen.


Theorie verleiht Flügel


Die beiden Autoren bieten mit ihrem Buch nichts weniger als einen Kompass, ohne den der mit Techniken ausgestattete Berater auf dem Meer, hier der systematischen Beratung, heillos verloren wäre. Anders ausgedrückt: Es war schon immer ein Menschheitstraum, zu fliegen, vielleicht, um sich den Wirren auf dem Boden entziehen und aus der Vogelperspektive wieder Überblick und dadurch Klarheit gewinnen zu können, wo man hinfliegen, landen möchte. Deshalb ist es nicht übertrieben, zu sagen: Kannicht und Bernd verleihen mit ihrem Buch dem systemischen Berater Flügel.  


changeX 27.03.2015. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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Zum Buch

: Einführung in systemische Konzepte der Selbststeuerung. Carl-Auer Verlag, Heidelberg 2015, 124 Seiten, 13.95 Euro, ISBN 978-3-8497-0055-3

Einführung in systemische Konzepte der Selbststeuerung

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Autor

Sascha Hellmann
Hellmann

Sascha Hellmann ist freier Journalist in Heidelberg. Er arbeitet als freier Mitarbeiter für changeX.

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