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Zukunft entsteht in Co-Kreation

Folge 25 der Serie Zukunft der Zukunft
Essay: Doris Wilhelmer

Zukunft ist Nichtwissen. Zunächst. Obwohl wir grundsätzlich nicht wissen können, was kommen wird, gestalten wir mit unserem Handeln heute Zukunft mit. Und machen uns Bilder und Vorstellungen von der Welt von morgen. Welche Zugänge wir zur Zukunft entwickeln können, davon handelt diese Serie. In Folge 25 beschreibt Doris Wilhelmer das Potenzial partizipativer Foresight-Prozesse für nachhaltige organisationale und gesellschaftliche Transformationsprozesse.

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Abstract: Tief verwurzelt in der Bodenlosigkeit des Wissens um prinzipielle Nichtvorhersagbarkeit von Zukunft eröffnet partizipativer Foresight einen Transformations- und Kreativitätsraum jenseits von eindeutigen Zukunftsfestlegungen. In Co-Kreation erleben und verstehen Stakeholder Wechselwirkungen des Gesamtsystems in neuartiger Weise und setzen Verhaltensänderungen in ihren Arbeitskontexten um. Musterwechsel passieren wie von alleine im sprachlich-emotionalen Probehandeln des gemeinsamen Vorwegnehmens attraktiver Zielerlebnisse. Wie kann das geschehen? Menschen, Organisationen und Gesellschaften koordinieren sich über innere Bilder und tradierte Geschichten. Vergangenheit und Zukunft sind grammatikalische Konstruktionsprinzipien von Erzählungen. Sie koppeln neuartige Bilder mit vertrauten, vermitteln Bedeutung und legitimieren Wandel. Unsere Zeit mit ihren disruptiven Veränderungen braucht neue kraftvolle Bilder als Koordinationsmedien. Bilder, die Engagement, Verantwortlichkeit und Zuversicht auslösen. Kollektive Erfolgsgeschichten erschließen dabei vorhandene Wissens- und Erfahrungsbestände und ermöglichen das Aushandeln attraktiver Zukunftsbilder in der Gegenwart für die Gegenwart.  


Tief verwurzelt im Bodenlosen


Jeder weiß: Moderne Systeme sind dadurch geprägt, dass die Komplexität globaler gesellschaftlicher, technologischer und wirtschaftlicher Dynamiken die Wahrnehmungs- und Entscheidungskapazitäten einzelner Akteure wie Politik, Wirtschaft und Forschung prinzipiell überfordert. Dies gilt in besonderem Maß für alle Entscheidungen, die mit langfristigen Zukunftsfragen verbunden sind. Hier sind Entscheidungsträger unweigerlich mit der Paradoxie konfrontiert, das eigene System möglichst erfolgreich auf die Zukunft auszurichten, obwohl die kommenden Entwicklungen weder berechenbar noch vorhersagbar sind. Das Wesen von Paradoxien besteht in der grundsätzlichen Unauflösbarkeit ihres Widerspruchs. Die Aufgabe von Entscheidungsträgern besteht also darin, immer aufs Neue einen klugen und konstruktiven Umgang mit der konstitutiven Paradoxie der Zukunft zu finden. Unvorhersehbarkeit gilt im Übrigen auch für Systeme selbst: Systeme kann man nicht verstehen. Jedes sogenannte System weist multiple Möglichkeiten auf, sich selbst zu organisieren, und zwar sowohl in problemverstärkender als auch lösungsförderlicher Weise. 

Ist unsere Zukunft aber nicht vorhersehbar, sondern nur gemeinsam gestaltbar, dann dürfen wir uns für ein bewusstes Navigieren durch Ungewissheit und Unsicherheit entscheiden. Dieses Arbeiten mit Unvorhersehbarkeiten braucht entsprechend klare Eckpfeiler, um die nötige Sicherheit für lustvolles Navigieren bereitstellen zu können. In jedem Fall braucht Navigieren durch Ungewissheit offenere und flexiblere Koordinationssysteme und "Governance-Strukturen" für die Strategiediskurse in Unternehmen und Politik sowie einen Instrumentenkoffer mit unterschiedlichsten Methoden. So ausgestattet können wir uns tief verwurzelt erleben im prinzipiell Bodenlosen.  

Aus der konstruktivistischen Tradition heraus verstehen wir Foresight als Kommunikationsprozess. Mithilfe von Foresight können in der Gegenwart zukunftsorientierte Entscheidungen für die Gegenwart auf Basis einer Vielzahl von Perspektiven erarbeitet werden. Methodische Zugänge wie Szenarienentwicklung, Robustheits-Checks und Wild Cards erlauben es, die Balance zwischen Planungsnotwendigkeit und Unplanbarkeit von Prozess und Ergebnis im Fluss zu halten. Ergebnisse, die beides nicht integrieren, werden dann allzu schnell von eben der Realität, die sie zu erfassen vorgeben, überholt.  

Eine entsprechende Methodenauswahl im Rahmen von Foresight-Prozessen will Stakeholder dabei unterstützen, nicht nur offiziell gesetzte Zielsetzungen gemeinsam zu reflektieren. Darüber hinaus sollen die Methoden auch ein gemeinsames Nachvollziehen zu erwartender, nicht intendierter Folgewirkungen sowie darüber hinausgehender unerwarteter Entwicklungen ermöglichen. Mögliche Zukünfte und ihre Auswirkungen sowohl auf die Zielerreichung - zum Beispiel Senkung von Kohlendioxidemissionen - als auch auf die soziale und ökonomische Lebensqualität in unterschiedlichen Regionen werden in Gedankenexperimenten gemeinsam durchgespielt. So können Wild Cards unerwartete Entwicklungen mit großen Auswirkungen in den Prozess einfließen lassen und das Zusammenbrechen scheinbar optimaler Szenarien gedanklich vorwegnehmen, bevor teure Investitionen in reale Infrastrukturen oder Technologien getätigt worden sind.  

Solche Folgewirkungen durchzuspielen macht Szenarien künftiger Entwicklungen robuster. So wird es nicht nur möglich, vorhandene Wechselwirkungen in der Gegenwart zu erkennen, sondern auch unerwünschte Auswirkungen zu identifizieren, mit denen in Zukunft gerechnet werden sollte. Ob ein solcherart "robustes" Szenarium dann unsere Zukunft in sicherere Bahnen lenken kann, ist zwar weiter fraglich: Die Zukunft bleibt unsicher - aber auf einem "informierteren Niveau".


Es gibt für uns nur Gegenwart


Für die Gestaltung von Foresight-Prozessen ist es entscheidend zu wissen, wie Menschen Vergangenheit und Zukunft in der Gegenwart erleben.  

"Geschichte" und "Vergangenheit" ganz allgemein erschließen sich Menschen nur in Form mündlicher oder schriftlicher Erzählungen kontextabhängiger Beobachter. "Zeit" ist damit ein Konstrukt von Kommunikation. Wir Menschen können uns prinzipiell nur in der Gegenwart aufhalten. Alle Beschreibungen mit Blick auf Vergangenheit oder Zukunft konstruieren wir aus aktuellen Rollen und Kontexten heraus und spekulieren dabei damit, dass die in ihnen eingeschriebenen Erklärungen und Bewertungen in unseren Interaktionen handlungsanleitend wirken. Auch in der Hirnforschung ist längst anerkannt, dass unser autobiografisches Gedächtnis in der Regel aus "Fehlerinnerungen" besteht. Dabei darf nicht übersehen werden, dass die Art dieser Beschreibungen eine mit physischen Ereignissen vergleichbare Kraft besitzt und sich unmittelbar positiv oder negativ auf das Nervensystem und damit die physische Befindlichkeit der Beobachter auswirkt. Die verbale Androhung einer Ohrfeige wirkt im Organismus als real erlebte Verletzung.  

Zeitreisen in "Vergangenheiten" unternehmen wir normalerweise nur, um Informationen oder Legitimationen für Zukunftsentwürfe zu finden. Systemdiagnosen im traditionellen Sinn des "Erfassens" eines "Ist-Zustandes" machen so gesehen überhaupt keinen Sinn mehr, weil sie oft in ungünstiger Weise auf vermeintliche Defizite sozialer Systeme fokussieren und dabei sprachlich Ohnmachtserleben und Lähmung auslösen.  

Die menschliche Fähigkeit, in der Gegenwart Zeitreisen in die Vergangenheit und Zukunft zu unternehmen, nennt Milton H. Erickson "Pseudoorientierung in der Zeit" oder "Zeitprogression". Zeitprogression nutzt die Vorwegnahme künftiger Ereignisse, Wahrnehmungen und Gefühle, um soziale Systeme mental auf ein Ziel auszurichten. In diesem Sinne wirkt jede Visionsentwicklung und Zielklärung als Aufmerksamkeitsfokussierung in eine erwünschte Richtung. Das gewünschte Erleben wird nicht nur kognitiv erfragt, sondern parallel dazu emotional und physisch in der Gegenwart erlebt und verankert. Die Zielklärung wird als Zielerleben Teil einer individuell und sozial erlebten Realität.  

Dabei entstehende Vorstellungen und Ziele, mit denen wir uns auf den Weg machen, bestimmen aber lediglich die Richtung, die wir einschlagen. Was wir tatsächlich auslösen und wie wir unsere bisherige Lebenswelt verändern, wenn wir versuchen, in eine bestimmte, von unseren inneren Bildern geleitete Richtung voranzuschreiten, hängt vom Wissen, den Fähigkeiten und Fertigkeiten ab, über die wir im jeweiligen historischen Kontext verfügen und die wir zum Erreichen unserer Zielvorstellungen einsetzen können. Die Erweiterung zukunftsrelevanten Wissens ist somit für uns alle essenziell.  

Neu hinzukommendes Wissen und erlangte Fähigkeiten passen aber über kurz oder lang nicht mehr zu alten, tradierten Weltbildern und den daraus abgeleiteten Orientierungen. Alte Welt-, Feind- und Menschenbilder, die sich in das kollektive Gedächtnis von Familien, Sippen, Stämmen und Volksgruppen eingeschrieben und in Gesetzen, Glaubens- und Verhaltensregeln niedergeschlagen haben, müssen erweitert, revidiert und angepasst werden, nicht zuletzt müssen Ziele neu definiert werden. Innere Bilder bieten Gesellschaften Orientierung und fördern ihren Zusammenhalt, indem sie Hinweise auf eine wünschenswerte innere Organisation und Ordnung vermitteln.  

Das Kombinieren vertrauter mit neuen Bildern macht einen Unterschied zum bisherigen Wissen und Denken, ohne die Gegenwart völlig infrage zu stellen.  

Langfristorientierte Bilder brauchen wir nicht zum nackten Überleben. Aber sie sind, wie Gerald Hüther sagt, möglicherweise das Wertvollste, was wir Menschen besitzen, wenn sich Verhältnisse ändern und soziale Strukturen zusammenzubrechen drohen. Kollektive positive Bilder können bei der Bewältigung disruptiver Brüche und Neugestaltung unserer Lebenswelten unerlässliche Orientierung geben. Zuversicht speist nicht nur Leben, sondern wirkt auch als Motor für gesellschaftlich stattfindende Transformationsprozesse.  

Gesellschaftliche Entwicklung braucht kraftvolle innere Bilder. Noch vor strategischen Zielen eine gemeinsame Vision zu entwickeln sucht laut Helmut Willke nicht, Linientreue herzustellen oder durch Gruppendruck eine Verhaltensänderung von außen zu erzeugen. Leitend ist vielmehr folgende Erkenntnis: Wenn eine echte Vision vorhanden ist, dann wachsen Menschen über sich selbst hinaus. Sie lernen dann aus eigenem Antrieb und nicht, weil man es ihnen aufträgt.  

Greifen Visionsentwicklung und Zielerleben ganz konkrete, aktuelle Kontextfaktoren auf, dann schafft das die Voraussetzung dafür, das Erlebte in Alltagsexperimenten umzusetzen. Denn wo Lernen kontextbezogen abläuft, kann es von den Routinen des Alltags nur mehr schwer dissoziiert und neutralisiert werden. Diese Form kontextabhängiger Lösungsorientierung kann somit sehr rasch zu verändertem Denken und Handeln beitragen. Eine Vision wirkt dann als weiches Steuerungsinstrument.  

Entsprechend kann eine Vision nicht top-down verordnet, sondern nur bottom-up entwickelt werden. Sie braucht neuartige partizipative Dialog- und Koordinationsformen. Aus unterschiedlichsten Blickwinkeln heraus attraktive Zukunftsbilder zu einer gemeinsamen Vision zu verdichten ist Ziel und Ergebnis einer gelingenden Kommunikation, die es schafft, für alle Beteiligten "das Gesamtsystem in einen Raum zu holen".


Zukunft entsteht in Co-Kreation


In der wissenschaftlichen Tradition wie in der praktischen Umsetzung aber war Foresight lange durch einen expertengetriebenen "Top-down"-Ansatz geprägt: Die Auseinandersetzung mit Zukunftsthemen geschah überwiegend im Rahmen wissenschaftlicher Diskurse von Einzeldisziplinen vorwiegend mit Blick auf unterschiedliche Technologien. Auf Interaktion und Vernetzung betroffener und beteiligter Akteure wurde wenig Wert gelegt. Im Gegenteil: Machten diese ihre Sichtweise geltend, reklamierten Experten und Entscheider schnell eine "Versachlichung" der Debatte: zurück zum Expertendiskurs. Top-down.  

Heute heben sich Wahrheitsstreitigkeiten zwischen einzelnen Disziplinen ebenso auf wie die Unterscheidung zwischen "gebildeten" und "ungebildeten" Personen: Die Bezeichnung "ungebildet" verweist nur auf den Umstand, dass das solcherart bezeichnete Individuum Teil einer anderen "Wissens- und Sprachgemeinschaft" ist als die, deren Mitglieder ihn/sie so beschreiben. Hinzu kommt. Gesellschaftlich bedeutsame Fragestellungen der Zukunft können nicht mehr von einzelnen Nationen, Regionen oder gar von einzelnen Organisationen und Unternehmen alleine gelöst werden. Der Umgang mit knappen Ressourcen wie Wasser oder fossilen Brennstoffen, die Auswirkungen der Globalisierung und des Klimawandels, der Veränderungen der Gesundheitssysteme, die Implikationen neuer Technologien et cetera stellen die Entscheider unterschiedlichster Systemen vor neue komplexe Fragestellungen. Das verlangt nach Partizipation.  

Die Kunst der Gestaltung zugkräftiger Zukunftsbilder liegt in einer transdisziplinären Verknüpfung von Wissen aus verschiedenen technologischen, ökonomischen und sozialwissenschaftlichen Disziplinen und in einer systematischen Einbeziehung derjenigen, die sich als Beteiligte oder Teilhaber (Stakeholder) verstehen. Partizipativer Foresight integriert Experten, Entscheidungsträger und Betroffene unterschiedlicher gesellschaftlicher Anwendungsfelder - Wirtschaft, Forschung, Politik und Zivilgesellschaft - für die gemeinsame Konstruktion wahrscheinlicher (aber nicht vorhersehbarer) Zukunftsentwicklungen. Partizipativer Foresight setzt dabei "auf die besondere Intelligenz eines gemeinsamen Entwicklungsprozesses aller relevanten Stakeholder", streicht Rudolf Wimmer in einem Kommentar zu unserem Foresight-Managementhandbuch heraus. Partizipativer Foresight ist der Königsweg, um intelligente und nachhaltige Entscheidungen zu treffen, meint Fritz B. Simon dazu und betont dabei, warum Politikberatung aus systemischer Sicht so schwierig ist: "Weil der Berater nämlich nie die neutrale Außenposition des objektiv urteilenden Experten für sich beanspruchen kann. Was immer entschieden wird, betrifft auch ihn selbst." 

Der soziale Konstruktivismus gibt uns Hinweise, warum das so ist. Demnach sind soziale Systeme im höchsten Maße von dem Vermögen ihrer Mitglieder abhängig, Bedeutung wirkungsvoll miteinander auszuhandeln. Organisationen, Projekte und Netzwerke hören auf, gute Resultate zu erbringen, wenn ihre Mitglieder miteinander im Konflikt sind. Entscheidungsträger und Manager hören auf, zu führen, wenn ihren Worten weder Verständnis noch Wertschätzung entgegengebracht wird. Wirklichkeit wird das, was wirkt. Das ermöglicht es, dass Kommunikation ganz allgemein und Foresight-Kommunikation und ihre kollektiv entwickelten Erzählungen im Besonderen die Entwicklung sozialer Systeme wirklich beeinflussen können.  

Vor allem der Austausch von Erfolgsgeschichten bildet eine gute Grundlage für Gespräche über wünschenswerte Zukünfte und eröffnet Möglichkeiten für das maximale Anzapfen vorhandener, kollektiver Wissensrepertoires. Im Kooperationsprozess entzünden sich Enthusiasmus und Entschlossenheit, große Taten zu vollbringen - im Wissen, dass künftige Veränderungen nur auf vergangenen Erfolgen aufbauen können. Keiner kann und soll dabei aus den eigenen Vorerfahrungen, Rollen und Kontexten aussteigen. Im dialogischen Foresight-Prozess werden alle unterschiedlichen Perspektiven miteinander verknüpft. Dabei ermöglichen erst Zuversicht, Neugierde und Wertschätzung das Wahrnehmen und Nutzen vorhandenen Wissens für das Lösen der großen, anstehenden Zukunftsfragen unserer Gesellschaften.  

Der Pionier der Friedensbewegung Robert Jungk gilt als Erfinder des partizipativen Foresights. Er war der Erste, der in seinen Zukunftswerkstätten schon vor 1980 normale Bürger zusätzlich zu Experten aus Wirtschaft, Forschung und Politik in Zukunftskonferenzen einbezog. Er beabsichtigte damit, die sozialen Netzwerke der Zivilgesellschaft als Gegengewicht zu Verwaltung und Politik zu stärken und aufzubauen.  

Natürlich ist Partizipation zwangsläufig immer mit einem höheren Ressourcenaufwand (Zeit, Geld) verbunden. Dem steht allerdings ein besonderer Nutzen dieses Prozesses gegenüber: Einerseits ist mit einer erhöhten Akzeptanz der Ergebnisse zu rechnen. Andererseits entstehen sektor- und disziplinenübergreifende Netzwerke, die die Nachhaltigkeit der Ergebnisse über Fachgrenzen hinaus fördern. Ein dabei entstehendes gemeinsames Zukunftsbild kann in der Folge zu einem abgestimmten und koordinierten Handeln in der Gegenwart führen.  

Gelingt die emotional positive Co-Kreation des Erlebens einer wünschenswerten Zukunft in der Gegenwart, dann können sich tradierte Bilder und mentale Landkarten der Beteiligten unmittelbar verändern und den unwillkürlichen, konservativ agierenden Automatismus unseres limbischen Systems außer Kraft setzen: Nach so einem Prozess sind die Stakeholder "andere" geworden, und die Wahrscheinlichkeit, dass sie aus ihren Rollen im jeweiligen Arbeitskontext auch anders handeln als bisher, ist gestiegen.


Veränderung ist das, was passiert ist, bevor man sich dafür entscheidet


Noch bevor ausgewählte, formale Ergebnisse eines herkömmlichen Foresight-Prozesses in einem langjährigen Umsetzungsprozess in Unternehmensentscheidungen oder Forschungsprogramme aufgenommen, in Weißbücher integriert und innerhalb von Konsultationsprozessen in neue Gesetze überführt werden, ist verändertes Handeln seitens der Stakeholder immer schon passiert.  

Kurz gesagt: Veränderung ist das, was passiert ist, bevor man sich dafür entscheidet. Partizipative Foresight-Prozesse stoßen Lernprozesse an. Dabei induzieren die zukunftsorientierten Dialoge oft das Entstehen von "cultural islands" Andersdenkender, die durch ihr Handeln Transformationsprozesse von innen heraus treiben und dabei Wertelandkarten politischer Entscheidungsträger nachhaltig verändern können. Sie können es, müssen es aber nicht ...  

Analog zu anderen systemischen organisationalen oder transorganisationalen Prozessen ist partizipativer Foresight als Verknüpfung von Top-down- und Bottom-up-Ansatz zu begreifen. Denn klar ist: Ohne einen Auftraggeber gibt es keinen Foresight-Prozess. Zugleich aber gelten das Einbeziehen der betroffenen Personen und Systeme und ihre aktive Mitwirkung in Form des Mitgestaltens als Voraussetzung für die Qualität des Prozesses und besitzen daher einen entsprechend hohen Stellenwert. So wird Foresight zu einer wirkungsvollen Methode, vorhandenes Wissen der zentralen Akteure heben und nutzen zu können.  

Gesellschaftlich relevante Erneuerungen brauchen neben kraftvollen Bildern und gemeinsamer Zuversicht auch Legitimität und Umsetzungskraft: Wirtschaft und Politik, die auf Erhalt oder Ausbau ihrer Markt- beziehungsweise Machtposition bedacht sind, fixieren den Blick notwendigerweise auf Wähler, Käufer und Vertreter der Zivilgesellschaft, die Mehrheitsverhältnisse und Wachstum beschaffen respektive gefährden können. Und diese sind nach Ronald K. Mitchell, Bradley R. Agle und Donna J. Wood per definitionem die Key-Stakeholder des jeweiligen Systems.  

Mit dem Einleiten langfristig zentraler Veränderungen hat noch kaum eine Partei eine politische Wahl gewonnen. Ein medial breit diskutierter Paradigmenwechsel wird von Politikern aber oft als Signal für den richtigen Zeitpunkt eines eigenen Kurswechsels gesehen. Ohne lauten, medialen Protest wären in Österreich im Frühsommer 2013 Pestizide, die mit großer Wahrscheinlichkeit zum Bienensterben beitragen, nicht verboten worden. Erst das Sichtbarwerden einer vorhandenen, kritischen Masse an Bürgern führte zum Einlenken einer Partei, die mit ihrem Votum vorher noch eine entsprechende Gesetzesänderung blockiert hatte.  

Hier wird ein politisches und gesellschaftliches Handlungsmuster sichtbar, das heute immer mehr an Bedeutung gewinnt: Es ist ein Gegenmodell zum Ruf nach starken Autoritätsfiguren, mit dem sozial und ökonomisch ins Abseits gerate Gruppierungen ihr Ohnmachtserleben zu kompensieren suchen. Diesen Gegenentwurf finden wir unter Vertretern der gebildeten, urbanen Mittelschicht: Sie halten sich von autoritären Strukturen und Machtzentren freiwillig fern und suchen in sozialen "Räumen an der Peripherie" nach neuartigen Gestaltungsmöglichkeiten. Dabei setzen sie auf Kooperation, um das von ihnen Gewünschte eigenverantwortlich mit anderen zu realisieren. Kooperation aber verlangt nach der Einbindung möglichst vieler betroffener Akteure in einen demokratiepolitischen Aushandlungsprozess. Die Absage an zentralistische politische Strukturen wird dabei nicht als Systemschwäche gesehen, sondern als Chance und neuartiger Gestaltungsspielraum für Wandel genutzt. Wandel wird nicht gefordert, sondern gemeinsam vollzogen.  

Peter M. Senge hat argumentiert, dass soziale und technologische Innovationen selten von Chefetagen und zentralen Machtzentren ausgehen, sondern von gebildeten, engagierten Menschen in "Peripherien". Akteure, die sich aus einer eigenen Werthaltung heraus nicht (mehr) in Disziplinen, Organisationen, Systemen organisieren, werden dabei zu Keimzellen des Wandels.  

Das Wechseln von Perspektiven und das Wandern zwischen unterschiedlichen Wirklichkeiten fördert die Bereitschaft, seinen eigenen Blickwinkel und sein Wissen zu hinterfragen, und weitet den Blick für größere Zusammenhänge. Vor allem schärft es das Wahrnehmen dessen, was hier und heute gebraucht wird und für morgen essenziell ist, aber weder von Politik noch von Wirtschaft "bedient wird". Das hier vorhandene implizite Wissen mit all den Ideen für Innovationen gilt es zu heben und für die Gesellschaften zu nutzen: soziale Innovation "by it’s ends and needs".


Wir sind der Wandel


Im Zentrum dieser Entwicklung steht der Begriff des "Stakeholders". Im Englischen bedeutet er im ursprünglichen Wortsinn so viel wie "Teilhaber", wobei "stake" für Einsatz, Anteil oder Anspruch steht und "holder" für Eigentümer oder Besitzer. So ist die Wortbedeutung schon vielschichtiger und umfassender als das Begriffsverständnis, das sich bei Entscheidungsträgern in Wirtschaft und Politik durchgesetzt und lange gehalten hat. In ihrem Verständnis waren (und sind) Stakeholder Anspruchsgruppen, die ihre Interessen bei einem Projekt oder Prozess geltend machen. Dass dieser Anspruch nicht zuletzt in Teilhabe besteht, wurde bei der Fokussierung auf Ansprüche oft übersehen. Es geht aber im Kern um Partizipation. Auch hier hilft die konstruktivistische Sichtweise zum Verständnis: Ein Stakeholder ist jemand, der seinen Anspruch der Teilhabe sozial konstruiert. Stakeholder ist, wer sich als Stakeholder wahrnimmt. Und diese Wahrnehmung gewinnt gesellschaftlich an Bedeutung.  

Freilich waren Stakeholder schon nach dem Zweiten Weltkrieg zu Zeiten von Robert Jungk wichtig, als es darum ging, die Verantwortung für das Gestalten unserer Nachkriegsgesellschaften nicht wieder allein in die Hände der Politik zu legen, sondern als originäre Aufgabe aller Bürger und somit der Zivilgesellschaft zu begreifen. Motto: Es gibt nichts Gutes, es sei denn, man tut es - nämlich selber!  

Stakeholder sind heute wichtig, wenn es darum geht, für die großen Herausforderungen der nächsten Jahre wie Klimawandel, demografischer Wandel, Migration et cetera demokratiepolitisch angemessene Antworten zu finden. Der Unternehmer und Vordenker in Sachen Wirtschaft und Nachhaltigkeit, Paul Hawken, betont in diesem Zusammenhang die seit 1992 erstarkende Rolle von NGOs als Stakeholder wirtschaftlicher und politischer Entscheidungsprozesse. In seiner Publikation Wir sind der Wandel aus dem Jahr 2010 weist er auf das verblüffend starke Anwachsen internationaler, zivilgesellschaftlicher Organisationen (NGOs) hin: Gab es 1948 noch 40 internationale NGOs, war ihrer Zahl bis 1992 auf 700 angewachsen. 1999, also sieben Jahre später, ergab eine Zählung dann eine Zahl von 44.000 internationalen NGOs. Nicht gezählt wurde dabei die wachsende Zahl zivilgesellschaftlicher Organisationen in den einzelnen Ländern. Hawken bezeichnet diese explosionsartige Vermehrung als größte soziale Bewegung in der Geschichte der Menschheit. Er deutet sie als kollektive Antwort auf das Transparentwerden der akuten Bedrohung der regenerativen Ressourcen des Planeten Erde und der durch den Klimawandel zu erwartenden ökologischen und sozialen Katastrophen.  

NGOs sind heute als Stakeholder neben Wirtschaft und Politik zu einer einflussreichen und wirkungsmächtigen Kraft in Bezug auf gesellschaftspolitische, forschungspolitische und wirtschaftliche Themenstellungen avanciert. So musste zum Beispiel Shell die Versenkung ausgedienter Ölplattformen in der Nordsee nach Aktionen von Greenpeace zurückziehen, und Nestlé kam unter Druck, als eine Boykottbewegung darauf hinwies, dass durch den aggressiven Verkauf von Pulvermilch als Ersatz für das Stillen die Kindersterblichkeit in den Entwicklungsländern zunahm.  

An die Stelle politischer Top-down-Steuerung und Kontrolle tritt heute ein erstarktes Bedürfnis nach neuartigen Governance-Strukturen zur Koordination komplexer, breit angelegter Aushandlungsprozesse zwischen Stakeholdern.  


Das System von der Zukunft her gestalten


Ein wesentlicher Fokus partizipativen Foresights liegt im Entwickeln explorativer und normativer Visionen und darauf aufbauender Zukunftsszenarien. Das Ziel: Entscheidungsträger beim Gestalten der Voraussetzungen für eine wünschenswerte Zukunft in unserer Gegenwart zu unterstützen. Gerade die Langzeitorientierung partizipativen Foresights eröffnet völlig neuartige Spielräume: Im Jahr 2013 nach der Welt von 2050 zu fragen wird von vielen reflexartig abgelehnt. Die meisten Menschen gehen davon aus, dass ihre Zukunft allenfalls für die nächsten drei bis zehn Jahre einigermaßen vorhersagbar ist, darüber hinaus aber keine Aussage über eine Lebenswirklichkeit etwa im Jahr 2050 getroffen werden kann.  

Und doch eröffnet diese Frage unabhängig von Alter, Geschlecht und Zugehörigkeit zu Sektoren, Organisationen, Institutionen einen fundamental neuen Kreativitätsraum. Viele Stakeholder sehen sich 2050 im Alter von 80 Jahren plus und damit in fundamental veränderten Kontexten oder wähnen sich gar nicht mehr unter den Lebenden. Und gerade dieser Blick über den individuellen Tod hinaus öffnet neue Perspektiven auf die Entwicklung von Generationen, von Gesellschaften und damit für unseren Planeten. Er erschließt einen neuen Erlebensraum, der weit über die aktuellen sozialen Rollen und Kontexte hinausgeht und Raum für neue Freiheiten schafft. Das scheint einer der Gründe zu sein, warum Personen unterschiedlicher Herkunft, Generationszugehörigkeit und Geschlechts engagiert und mit großer Freude an Visionsentwicklungsprozessen teilnehmen. Tatsächlich gibt es kaum Beglückenderes, als zu erleben, wie sich unser von den tagtäglich zu lösenden Problemen eng gewordener Blick plötzlich zu weiten beginnt, uns das Herz aufgeht und Ideen anfangen, "zu sprudeln". In solchen Sternstunden kann die Welt wieder unbefangen und vorurteilslos betrachtet und gewissermaßen neu erschaffen werden - so als wäre ein alter Vorhang beiseitegezogen worden. Der Kopf wird frei, und auf der inneren Bühne wachsen Fantasie und Engagement.  

In großen Stakeholder-Gruppen wird das manchmal als "Erfrischung wie in der Sauna" oder als berührendes Erleben von Zugehörigkeit zu einer Gruppe beschrieben, die sich zentraler menschlicher Fragestellungen annimmt. Im Erleben "geht es hier wirklich um etwas". Und, was nicht unwesentlich ist: Es kommt dabei auf jeden Einzelnen an!  

Fokussieren explorative Zukunftsvisionen nicht auf das Schreckgespenst eines Weltuntergangs, sondern auf das Sichtbarmachen existierender Potenziale und Wissensbestände, dann öffnen Foresight-Prozesse einen Kreativitätsraum für Visionen, die in ihrer Radikalität zu Beginn oft unvorstellbar schienen. So wurde das Projektteam des Foresight-Prozesses "Freightvision Europe" von diesem Phänomen überrascht, als sich 120 Stakeholder unterschiedlichster Technologieplattformen gemeinsam mit Vertretern der Öl- und Fahrzeugindustrie sowie Entscheidungsträgern von Infrastrukturbetreibern (Straße, Schiene, Wasser) und Vertretern aus Politik (EU, national) und Forschung auf quantitative Ziele festlegten, die zu Beginn als völlig illusionär angesehen worden waren: 80 Prozent Senkung der Treibhausgase, 80 Prozent Senkung der Unfälle durch Frachtverkehr, 50 Prozent Senkung des Verbrauchs fossiler Brennstoffe und 50-prozentige Senkung von Verkehrsstaus: mutige, freiwillige Selbstverpflichtungen der Vertreter von Wirtschaft, Politik und Forschung, die es dem Projektteam erlaubten, bei der darauffolgenden Entwicklung von Backwards-Szenarien und Aktionsplänen nach entsprechend mutigen Lösungen sowohl für Technologieentwicklungen wie für Politikmaßnahmen zu suchen.  

Das Koordinieren von Entscheidungs- und Umsetzungsprozessen aus dem Blickwinkel der Zukunft hat Zuversicht bei allen Stakeholdern zur Grundvoraussetzung. Diese Zuversicht können nur Bilder vermitteln, die den Fortbestand unserer Gesellschaften nicht infrage stellen, sondern ihre Weiterentwicklung im Kontext unvorhersehbarer Dynamiken bestmöglich unterstützen. Stattdessen geht es bei der Gestaltung von Foresight-Prozessen um die Auswahl und den Einsatz von Methoden, die es erlauben, Zeitreisen und Geschichtsschreibungen so zu erfinden, dass sie bei allen Stakeholdern Lösungskompetenzen in Richtung einer wünschenswerten Zukunft aktivieren.  

Führen aus der Zukunft hält in der Gegenwart Ausschau nach Punkten, wo Steuerung ihre Hebel ansetzen kann. Erforderlich sind dazu von Stakeholdern gemeinsam entwickelte Wege in eine attraktive Zukunft, von denen keiner als vermeintlicher Königsweg proklamiert wird. Zuversicht, Unsicherheit und Neugierde bilden wichtige Bestandteile des Prozesses und verweisen formale Ergebnisse wie "Roadmaps" und "Aktionspläne" in die Schranken ihrer kurzfristigen Gültigkeit.


Die Zeit für Partikularinteressen ist vorbei


Organisationen, die bei nationalen und europäischen politischen Entscheidungsträgern als Lobbyisten für bestimmte Regulationen oder Technologien auftreten, werden dafür bezahlt, ein bestimmtes Partikularinteresse um jeden Preis durchzusetzen. Können sie die Politik nicht durch ökonomische Stärke vor sich hertreiben, dann setzen sie auf die Käuflichkeit von Personen innerhalb der öffentlichen Verwaltung. Foresight-Prozesse haben die Kraft, durch die Transparenz der Co-Kreation von Zukunftsbildern derartigen Kampfstrategien die Stirn zu bieten. Voraussetzung dafür sind ein für alle transparenter meinungsbildender Zukunftsprozess und mutige Akteure, die Einschüchterungsversuche nicht als Bedrohung, sondern als Bestätigung ihres Wirkens erleben.  

Tief beeindruckt hat mich ein schottischer Officer der European Commission, der in dem genannten europäischen Foresight-Prozess zum Langstreckenfrachtverkehr der Attacke einer europaweit agierenden Lobbyistenorganisation für Schieneninfrastrukturbetreiber mutig die Stirn bot. Am Ende des fast zwei Jahre andauernden Foresight-Prozesses hatte sich eine paradoxe Konstellation ergeben: Obwohl klar war, dass die Kohlendioxidemissionen primär durch "die Straße" verursacht werden, setzten sich im vierten, 110 Teilnehmer zählenden Stakeholder-Forum nicht die als primäre Verursacher identifizierten Vertreter von Straßennetzbetreibern, Automotive Industries und Frachtunternehmen gegen die Schlussfolgerungen des Projektes zur Wehr, sondern Vertreter der Schiene, die neben Zukunftstechnologien und dem Ausbau neuer Treibstoffe als Hoffnungsträger für die Frachtsysteme der Zukunft galt. Das zugrunde liegende Kalkül war logisch und einfach: Gilt die Straße als primärer Verursacher, dann fließen die Gelder auch in diese Richtung. Die "Schiene" hätte in dieser Verteilungslogik klar das Nachsehen.  

Beeindruckend waren zwei Szenen: 90 Stakeholder - nicht etwa das Projektteam - wiesen den Lobbyistenverband in seine Schranken. Denn, so wörtlich, "die Zeit zum Durchkämpfen von Einzelinteressen ist vorbei. Fünf Minuten vor zwölf kann die negative Klimaentwicklung nur mehr in einer konzertierten Anstrengung herumgerissen werden." 

Der verantwortliche schottische EC-Officer war es dann, dem es gelang, die Blockade aufzulösen - obwohl es zunächst gar nicht danach aussah: Der Lobbyistenverein hatte mit seinem ostentativen Auszug aus der Abschlusskonferenz gedroht, sollte der verantwortliche Officer nicht seiner Funktion enthoben werden. Und genau so geschah es dann - wenngleich in einer völlig anderen Weise: Der Officer übernahm eine Parallelabteilung mit ähnlicher Thematik, wo er sich auf Basis seiner erworbenen Kenntnisse sofort an die Umsetzung der Maßnahmen machte. Der Ergebnisbericht dieses Foresight-Prozesses wurde von den Entscheidungsträgern aller Hierarchieebenen der Europäischen Kommission gelesen und erlangte dadurch eine ungewöhnlich breite Publizität, wodurch viele Ergebnisse in das berühmte europäische "Weißbuch" einflossen. Bei der Abschlusskonferenz war neben ungewohnt vielen Entscheidungsträgern der Kommission auch der schottische EC-Officer anwesend, ohne dass es zum angekündigten Auszug des Lobbyistenverbands kam.  

Bei einer Abschlussfeier des Projektteams erzählte der schottische Officer dann seine Familiengeschichte, die es ihm ermöglicht hatte, die Turbulenzen als persönlichen Erfolg zu erleben: Sein Großvater hatte in der königlich britischen Münze gedient und dabei einen Korruptionsskandal aufgedeckt. Von seinen Kollegen deswegen über Jahre hinweg geächtet und gemieden, erlebte er gegen Ende seiner Amtszeit eine beachtliche Wiedergutmachung: Er wurde von der Queen in Ehrung seiner Verdienste um das Königreich zum Ritter geschlagen. In seinem inneren Bild verband sich seine Rolle im Foresight-Prozess direkt mit dem bewunderten Großvater - beides Gestalter des Wandels in ihrer jeweiligen Zeit.  

Foresight-Prozesse brauchen beides: partizipative, emotional berührende und inhaltlich fordernde Dialoge und mutige Entrepreneure, die Turbulenzen und Gegenwind nicht aus einer Opferhaltung, sondern aus einer Gestalterrolle her wahrnehmen und als Signal für das Gelingen von Veränderung interpretieren können.  

Kraftvolle innere Bilder und erzählte Erfolgsgeschichten unterstützen und ermöglichen Wandel viel effektiver und nachhaltiger als landläufig angenommen. Mit kraftvollen Geschichten und Bildern ist nicht zu spaßen - das ist die gute Nachricht partizipativer Foresight-Prozesse.  


Anhang 1: Schlaglichter zur Vorgehensweise
In unserem Foresight-Managementhandbuch stellen Reinhart Nagel und ich drei Kernphasen für das Aufsetzen von Foresight-Prozessen vor:  

In der ersten Phase (Pre-Foresight) erfolgen die Klärung von Zielen und Themen sowie die Erstellung und Abstimmung der Gesamtkonzeption in Abstimmung mit dem Auftraggeber.  

Die zweite Phase bildet dann den Rahmen für die Durchführung des Foresight-Prozesses (Main-Foresight): Hier geht es hauptsächlich um das Analysieren vorhandener Entwicklungspfade, das Entwerfen attraktiver Zukunftsbilder und das Erarbeiten von (Backwards-)Szenarien. Dabei auftretende Widersprüche zwischen Szenarien und vorhandenen Routinen markieren dabei das Feld, an dem die Entwicklung erster Aktionen im Rahmen von Roadmaps ansetzten sollte (Umsetzungsplanung).  

Die dritte Phase bringt als Ergebnisse dann das Vereinbaren von Handlungsempfehlungen und die Auswertung der Umsetzungsrelevanz der erzielten Ergebnisse. Diese Abfolge ist als zirkulärer Prozess mit Überlappungen und Interdependenzen zu verstehen und findet sich sowohl bei Prozessen in Unternehmen (Corporate Foresight) als auch für öffentliche Auftraggeber wieder.  

Die Abbildung zeigt den zirkulären Foresight-Prozess; sie entstammt meinem Aufsatz Komplementärer Foresight (Wilhelmer 2012).  


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Anhang 2: Quellen 
Erickson, M. H. (1954): "Pseudo-orientation in time as a hypnotherapeutic procedure". In: Journal of Clinical and Experimental Hypnosis 2, 1954. Deutsch: "Pseudoorientierung in der Zeit als hypnotherapeutische Vorgehensweise". In: Rossi, E. L. (Hrsg.): Gesammelte Schriften von Milton H. Erickson. Band VI, Innovative Hypnotherapie II. Carl-Auer Verlag, Heidelberg 1998.
Gergen, K. J.; Gergen, M.: Einführung in den sozialen Konstruktivismus. Carl-Auer Verlag, Compact Serie, Heidelberg 2009, S. 55, S. 61.
Hawken, P.: Wir sind der Wandel. Warum die Rettung der Erde bereits voll im Gang ist - und kaum einer es bemerkt. Hans Nietsch Verlag, Emmendingen 2010; Viking, New York 2007.
Hüther, G.: Die Macht der inneren Bilder. Wie Visionen das Gehirn, den Menschen und die Welt verändern. 6. Auflage, Vandenhoeck & Ruprecht Verlag, Göttingen 2004, 2010.
Leitner, K.-H.; Weber, M.; Fröhlich, J. (Hrsg.): Innovationsforschung und Technologiepolitik in Österreich. Neue Perspektiven und Gestaltungsmöglichkeiten. Studienverlag, Innsbruck 2009.
Markowitsch, H. J. (2013): "Ein grundsätzlicher Paradigmenwechsel wäre gar nicht so schlecht!". In: Eckoldt, M.: Kann das Gehirn das Gehirn verstehen? Gespräche über Hirnforschung und die Grenzen unserer Erkenntnis. Carl-Auer Verlag, Heidelberg 2013, S. 25-28.
Maturana, H. R. (1985): Erkennen. Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit. 2. Auflage, Friedrich Vieweg & Sohn Verlag, Braunschweig 1985, S. 234.
Miles, I.: "Foresight Methodology". In: Georghiou, L. et al. (Hrsg.): The Handbook of Technology Foresight. Concepts and practice. Edward Elgar, Northampton, MA 2003.
Mitchell, R. K.; Agle, B. R.; Wood, D. J.: "Toward a Theory of Stakeholder Identification and Salience: Defining the Principle of Who and What Really Counts". Academy of Management Review 22 (4), 1997, S. 853-886.
Nagel, R.: "Die Zukunft erfinden. Über die Neuerfindung einer Organisation auf der internationalen Bühne". In: Schumacher, T. (Hrsg.): Professionalisierung als Passion. Aktualität und Zukunftsperspektiven der systemischen Organisationsberatung. Carl-Auer Verlag, Heidelberg 2013.
Roth, G.: Aus Sicht des Gehirns. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, S. 143.
Schmidt, G.: Liebesaffären zwischen Problem und Lösung. Hypnosystemisches Arbeiten in schwierigen Kontexten. Carl-Auer Verlag, Heidelberg 2004, S. 47.
Senge, P. M. et al.: Die notwendige Revolution. Wie Individuen und Organisationen zusammenarbeiten, um eine nachhaltige Welt zu schaffen. Carl-Auer Verlag, Heidelberg 2011.
Wilhelmer, D.: "Komplementärer Foresight. Ein neuartiges Instrument zum Steuern von Open Innovation Prozessen". In: Ili, S. (Hrsg.): Innovation Excellence. Wie Unternehmen ihre Innovationskraft systematisch steigern. Symposion Publishing, Düsseldorf 2012.
Wilhelmer, D.; Nagel, R.: Foresight-Managementhandbuch. Das Gestalten von Open Innovation. Carl-Auer Verlag, Heidelberg 2013.
Willke, H.: Systemisches Wissensmanagement. Lucius und Lucius Verlag, Stuttgart 1998.


Zitate


"Systeme kann man nicht verstehen." Doris Wilhelmer: Zukunft entsteht in Co-Kreation

",Zeit‘ ist ein Konstrukt von Kommunikation." Doris Wilhelmer: Zukunft entsteht in Co-Kreation

"Die Erweiterung zukunftsrelevanten Wissens ist für uns alle essenziell." Doris Wilhelmer: Zukunft entsteht in Co-Kreation

"Eine Vision kann nicht top-down verordnet, sondern nur bottom-up entwickelt werden." Doris Wilhelmer: Zukunft entsteht in Co-Kreation

"Veränderung ist das, was passiert ist, bevor man sich dafür entscheidet." Doris Wilhelmer: Zukunft entsteht in Co-Kreation

"Stakeholder ist jemand, der seinen Anspruch der Teilhabe sozial konstruiert. Stakeholder ist, wer sich als Stakeholder wahrnimmt." Doris Wilhelmer: Zukunft entsteht in Co-Kreation

 

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Zum Buch

: Foresight-Managementhandbuch. Das Gestalten von Open Innovation. Carl-Auer Verlag, Heidelberg 2013, 202 Seiten, 49.00 Euro, ISBN 978-3-8497-0011-9

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Autorin

Doris Wilhelmer
Wilhelmer

Doris Wilhelmer ist Innovationsforscherin und systematische Organisations-beraterin am AIT-Austrian Institute of Technology in Wien. Ergänzend zu ihrer zehnjährigen Forschungserfahrung verfügt sie über langjährige Managementerfahrungen in unterschiedlichen Dienstleistungs- und IT-Organisationen sowie über zahlreiche Ausbildungen in systemischer Beratung (Gruppendynamik, systemische Organisationsberatung, Familientherapie, hypnosystemische Interventionen, Organisationsstrukturaufstellungen). Schwerpunkte: partizipative, komplementäre Foresight-Prozesse für Unternehmen, Städte, Sektoren (Energie, Mobilität, Gesundheit) auf nationaler und EU-Ebene. Konzipieren, Implementieren und Wirkungsanalyse organisationaler und transorganisationaler Open-Innovation-Netzwerke und Living-LAB-Architekturen. Lehrtätigkeit an Universitäten, Fachhochschulen und im Rahmen der Erwachsenenbildung.

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