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IrrQ statt IQ

Irren ist nützlich - das neue Buch von Henning Beck
Rezension: Anja Dilk

Präzision, Eindeutigkeit, logische Stringenz. Zahlen aus dem Effeff. Das erwartet man von einem geschulten Gehirn. Doch neuere Erkenntnisse über unseren Denkapparat sagen anderes: Eindeutigkeit ist seine Sache nicht. Informationen haben keinen festen Speicherort. Sondern liegen im Dazwischen. Überhaupt plappert da oben alles durcheinander. Unser Gehirn schludert, vergisst, irrt. Doch ein Versagen ist das nicht. Denn nur Unschärfe, nur Fehlerhaftes ermöglicht Variation und damit neue Ideen. Die Kernfähigkeit unseres Gehirns ist: Fehler machen und daraus lernen. Ein Buch plädiert für den Irrtum.

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Wie sieht das Apple-Logo aus? Ein Apfel, na klar, aber welche Form hat er genau? Wo ist er angebissen? Hat der Apfel einen Stil oder ein Blatt und zeigt dieses nach rechts oder links? Als Forscher der University of California in Los Angeles Probanden diese Aufgabe stellten, konnte nur einer der Teilnehmer das Logo richtig zeichnen. Nicht mal der Hälfte gelang es, das richtige Apple-Symbol in einer Reihe von verfremdeten Logos zu identifizieren. Wieso das? Der leuchtende Apfel ist doch längst überall in der Welt, die uns umgibt. Wieso können wir uns so eine einfache Information nur so schlecht merken? Unser Gehirn schludert, vergisst, versagt.  

Versagt? Von wegen. Das Vergessen ist Prinzip. Und zwar ein ziemlich nützliches. "Je öfter wir mit etwas konfrontiert werden, desto mehr schwächt sich unsere Erinnerung dafür ab", schreibt Henning Beck. Egal ob es um Apple-Logos, Verkehrsschilder oder die Position von Feuerlöschern geht. "Das Gehirn ist nämlich keine Erinnerungsmaschine, die darauf ausgelegt ist, Details abzuspeichern, sondern eben jene Kleinigkeiten zu vergessen, besser gesagt: zu opfern für das Wohl, das große Ganze zu erkennen."  

Nur wenige verstehen es, so klar, so einfach, so unverschämt unterhaltsam die Erkenntnisse der Hirnforschung zu schildern wie der Neurobiologe und Science-Slammer Henning Beck. Seit fünf Jahren veröffentlicht er populärwissenschaftliche Publikationen zu diesem Thema, aber dieser Titel ist besonders knackig. Und wieder rückt er dabei viele Vorurteile und allzu flache Bilder gerade, die sich in der Öffentlichkeit über die Funktionsweise des Gehirns festgesetzt haben.


Die Information steckt im Dazwischen


Zum Beispiel die wichtige Grundlagenerkenntnis, dass das Hirn eben nicht "wie eine Festplatte funktioniert", auf der Daten, also elektronisch zu verarbeitende Zeichen, an einem bestimmten Ort abgelegt und nach Bedarf wieder hervorgekramt werden wie bei einem Computer. Im Gehirn, so Beck, gibt es weder Zeichen noch einen festen Ort, an dem diese Daten abgelegt werden. "Wenn ich sage: ‚Denken Sie an Ihre Großmutter!‘, dann ist jetzt in diesem Moment nicht irgendeine ‚Großmutter-Nervenzelle‘ in Ihrem Gehirn angesprungen (wie man einige Zeit lang in der Hirnforschung vermutete), sondern Ihr Nervennetzwerk hat einen ganz charakteristischen Zustand angenommen", schreibt Beck. "Und genau in diesem Zustand, der Art und Weise, wie sich die Nervenzellen gegenseitig aktivieren, ist die Information versteckt." 

Im Grunde sei das Gehirn wie ein großes Orchester, in dem die Musik erst im Miteinander entsteht. Sie liegt nicht irgendwo im Orchester bereit, sie erschließt sich nicht durch den Blick auf die einzelne Bratsche, sondern sie steckt in der Aktivität der Musiker im zeitlichen Verlauf, die in jedem Augenblick neu auf andere Weise zusammenwirken. Die Information ist zwischen den Musikern versteckt. "Ein Orchester erzeugt durch dieses Zusammenspiel ein Musikstück, bei Nervenzellen entsteht durch deren Synchronisation der Informationsgehalt eines Gedankens", so Beck. "Genauso wie ein und dasselbe Orchester komplett verschiedene Musikstücke spielen kann, indem sich die Musiker auf eine neue Art synchronisieren, kann auch das identische Nervennetzwerk völlig unterschiedliche Gedanken hervorbringen, indem es einfach anders aktiviert wird." Gespeichert werden Informationen in gewisser Weise schon: In der Architektur zwischen den Nervenzellen, die miteinander aktiv werden. Häufig benutze Verbindungen werden dicker, damit ein häufig benötigter Aktivitätszustand leichter in Gang gesetzt, also eine Information abgerufen werden kann. Das spart Energie und ermöglich einen flexiblen Umbau je nach Bedarf: Das Gehirn kann Informationen dynamisch kombinieren. Es kann lernen und kreativ Neues erzeugen.


Der Kopf braucht den Kontext


Diese grundlegende Funktionsweise erklärt manches, das wir vorschnell für fehlerhaft halten. Schludriges Erinnerungsvermögen? Gut so, denn "gerade weil ein Gehirn so schlecht darin ist, Dinge akkurat zu speichern, kann es überhaupt neues Wissen erzeugen". Würde es ordentlich und stabil abspeichern, würde "es vielleicht seine Vergesslichkeit bekämpfen, aber seine große Stärke verlieren: Informationen dynamisch zu kombinieren. Wer zu früh sortiert, hat es später schwerer, die Dinge in einen anderen Zusammenhang zu stellen. Dabei ist es genau das, was ein Gehirn von einem Computer unterscheidet: Es speichert nicht nur stumpfsinnig Daten ab, sondern macht aus ihnen auf kreative Weise Neues." 

Deshalb braucht es dringend Pausen, um Informationen zu verdauen, immer wieder neu zu entscheiden, das kann gerade vergessen werden, jenes sollte leichter zugänglich sein. So lernen Probanden leichter, wenn sie zwischen den Lernphasen unterbrochen werden. "Der Grund liegt in der Art und Weise, wie Nervenzellen zusammenarbeiten: Ein erster Informationsimpuls löst in den Zellen den Reiz zu einer Strukturveränderung aus. Die Veränderung muss erst mal verarbeitet werden und bereitet die Zellen auf den nächsten Informationsschub vor."  

Deshalb braucht der Kopf den Kontext, der ihm hilft, zu entscheiden: Diese Informationen passen gut zu meinem bisherigen Erfahrungsschatz, jene sind weniger relevant. So erinnern sich Probanden leichter an Objekte, die sie sich in einer Wohnung merken müssen (Seife im Bad, Kaffeemaschine in der Küche), als wenn sie die gleichen Objekte vor einem neutralen Hintergrund auswendig lernen sollen. "Fast mapping", schnelle Abbildung, nennt man das in der Wissenschaft. Dabei werden neue Informationen schnell in bestehende Kategorien eingebaut. Dieses extrem schnelle Lernen mithilfe von Kategorienbildung ist nichts anders als: Verstehen. Ein Herstellen von Sinnzusammenhang also und ein Erkennen von Prinzipien hinter einer Erscheinung, die nach Becks Einschätzung auch mit den besten Deep-Learning-Konzepten in Computersystemen niemals zu erreichen ist. "Computer verstehen nicht, was sie erkennen", so Beck. "Wenn man dem beibringt, dass Brexit der Austritt Großbritanniens aus der EU bedeutet, wird er niemals selbständig darauf schließen, dass sich beim Schwexit die Schweden verabschieden."


Kreativität im Sinkflug


Beck ist ein leidenschaftlicher Erklärer. Er nimmt den Leser mit auf einen erfrischend kurzweiligen Run durch die Nervenbahnen des Gehirns und fördert dabei viel Nützliches zutage. Zum Beispiel darüber, wieso sich unsere grauen Zellen so leicht ablenken lassen und wie wir damit umgehen können; wieso wir nie wirklich abzuschalten vermögen, aber wie wir trotzdem zur Ruhe kommen können; wie wir Langeweile nutzen und mit zu viel Filterwut unseres Denkkastens zurechtkommen können; wie wir die Arbeit hirngerechter machen und die Demotivationsanreize, die uns vom Wichtigen ablenken, ausblenden können; wie wir schließlich die Fähigkeiten und Unfähigkeiten unsers Gehirns geschickt für unsere Kreativität einsetzen können.  

Das ist dringend nötig. Denn Letztere - und das ist ein überraschender Befund - befindet sich offenbar im Sinkflug. Während der IQ der Bevölkerung seit den 1960er-Jahren kontinuierlich steigt, schneiden Teilnehmer des "Torrance-Tests", mit dem Kreativität gemessen wird, immer schlechter ab. "Könnte es sein, dass wir uns unsere Intelligenz mit immer mehr Einfallslosigkeit erkaufen?", fragt Beck. "Je mehr IQ-Aufgaben wir lösen, desto konformistischer scheinen unsere Ideen schließlich zu werden." Doch klassische IQ-Aufgaben werden früher oder später Computer schneller lösen können als Menschen, Kreativität dagegen bleibt menschliches Heimspiel. Oder, wie es Beck formuliert: "Wenn Probleme effizient zu lösen sind, sind sie eigentlich nur zu einfach für uns."


Kernfähigkeit: Fehler machen und daraus lernen


Wir sind also gut beraten, unsere grauen Zellen besser zu nutzen. Wie wir mit ihnen zu mehr Kreativität kommen, ist im Grunde nichts Neues. Dazu gehört, uns mit anderen, möglichst unterschiedlichen Menschen auszutauschen, abwechselnd tagzuträumen und die Gedanken zu sortieren. Dazu gehört vor allem, uns auf eine Kernfähigkeit unseres Denkkastens zu besinnen: Fehler machen und daraus lernen.  

Darin ist das Gehirn schließlich Spezialist. Es gleicht einem "dynamischen Durcheinander-Rede-System", in dem dynamische, ständig durcheinanderlaufende, sich permanent verstärkende und abschwächende Aktivitäten und Muster miteinander konkurrieren und schon "kleine Änderungen der Sinnesreize sich dermaßen verstärken können, dass ein eigentlich schwaches Muster plötzlich so dominant wird, dass es die anderen niederbrüllt". Eine Synapse, die eben noch nützlich war, kann im nächsten Moment schon wieder unpraktisch sein und in Windeseile umgebaut werden, um sich der nächsten Herausforderung anzupassen.  

Indem Beck deutlich macht, wie tief verankert Fehlermachen im Gehirn ist, gibt er der Debatte um eine offenere Fehlerkultur ordentlich Futter. Habt keine Scheu, das lange geforderte Umdenken in unserer Kultur zu wagen! Geht Risiken ein, macht Fehler. Denn das Gehirn tut das ohnehin. Es hat keine eingebaute Angst vorm Irrtum. Es stutzt, passt sich an, macht weiter.


Geistige Geheimwaffen


Henning Becks neuer Ritt durch die Erkenntnisse der Hirnforschung ist jenseits aller modischen Neuroscience-Begeisterung eine echte Bereicherung. Der Science-Slammer hat keinen Ratgeber geschrieben und er serviert nichts grundlegend Neues. Aber er hilft uns, uns selbst zu verstehen. Unsere Stärken besser zu erkennen und zu nutzen. Da bleibt nur, sich seinem Schlussplädoyer anzuschließen: "Nur der Fehler im Denken lässt uns der unkreativen Maschine überlegen sein. Im Grunde sind all unsere Denkschwächen in Wirklichkeit unsere geistigen Geheimwaffen. (…) Machen Sie weiter Fehler - und kommen Sie so auf neue Ideen. Irren Sie sich - denn das können Sie am besten." 


Zitate


"Das Gehirn ist nämlich keine Erinnerungsmaschine, die darauf ausgelegt ist, Details abzuspeichern, sondern eben jene Kleinigkeiten zu vergessen, besser gesagt: zu opfern für das Wohl, das große Ganze zu erkennen." Henning Beck: Irren ist nützlich

"Gerade weil ein Gehirn so schlecht darin ist, Dinge akkurat zu speichern, kann es überhaupt neues Wissen erzeugen." Henning Beck: Irren ist nützlich

"Je mehr IQ-Aufgaben wir lösen, desto konformistischer scheinen unsere Ideen schließlich zu werden." Henning Beck: Irren ist nützlich

"Wenn Probleme effizient zu lösen sind, sind sie eigentlich nur zu einfach für uns." Henning Beck: Irren ist nützlich

"Geht Risiken ein, macht Fehler. Denn das Gehirn tut das ohnehin. Es hat keine eingebaute Angst vorm Irrtum. Es stutzt, passt sich an, macht weiter." Anja Dilk, Rezension von Henning Beck: Irren ist nützlich

 

changeX 17.03.2017. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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Quellenangaben

Zum Buch

: Irren ist nützlich. Warum die Schwächen des Gehirns unsere Stärken sind. Hanser Verlag, München 2017, 320 Seiten, 20 Euro (D), ISBN 978-3-446-25499-2

Irren ist nützlich

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Autorin

Anja Dilk
Dilk

Anja Dilk ist Berliner Korrespondentin, Autorin und Redakteurin bei changeX.

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