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Die Macht des Wir

Connected! – Nicholas A. Christakis’ und James H. Fowlers verblüffende Erkenntnisse über die Macht sozialer Netzwerke.
Text: Anja Dilk

Ich, das prägte lange Zeit den Blick auf die Welt: das Individuum im Mittelpunkt von Werbung wie Wissenschaft. Zunehmend und verstärkt durch den Boom der Social Networks richtet sich der Blick nun auf die Beziehungen zwischen Menschen. Und zeigt: Wir sind Netzwerkwesen. Wir prägen unser Netzwerk und unser Netzwerk prägt uns.

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Nun, das Grobe wissen wir längst: Der Mensch ist ein soziales Wesen. Er ist ein emphatisches Wesen, das automatisch mitfühlt, was andere fühlen. Na klar, jeder hat damit längst Erfahrungen gemacht. Wir lachen mit einem Freund über einen Witz, trauern mit einem weinenden Partner, schimpfen mit den Nachbarn über den bösen Chef, lassen uns vom Ärger des Kollegen über die schludrige Stadtverwaltung anstecken. Allzu oft stecken wir mittendrin, wenn unserem Nebenmann der Hut hochgeht.  

Doch eines übersehen wir meist: Uns erreichen nicht nur die Emotionen unserer Freunde, sondern auch die Gefühle der Freunde unserer Freunde und derer Freunde – ohne dass wir dazu selbst anwesend sein müssen. „Wir sind eine Büffelherde, die friedlich auf einer weiten Ebene grast, bis plötzlich einer unserer Nachbarn losrennt. Kaum haben wir das gesehen, laufen wir auch los, einige andere folgen, und mit einem Mal donnert die gesamte Herde über die Prärie.“ Anders gesagt: Wie Büffel sind Menschen Netzwerkwesen, wenn auch wesentlich komplexere. Und über diese sozialen Netzwerke beeinflussen uns Emotionen, Informationen, Einstellungen und Haltungen Fremder fast so wie jene von Menschen in unserer direkten Umgebung. „Soziale Netzwerke wirken in jeden Aspekt unseres Alltags hinein. Geschehnisse, die weit entfernte Menschen betreffen, können sich auf unser Leben, unser Denken und unsere Wünsche auswirken und einen Einfluss darauf haben, ob wir krank werden oder sterben. In einer sozialen Kettenreaktion reagieren wir auf Ereignisse, von denen wir oft nicht einmal erfahren haben.“


Menschen sind Netzwerkwesen


Nicht erst seit Facebook & Co. wissen wir: Menschen sind Netzwerkwesen. Eine Fülle von Studien hat längst erhärtet, was wir so oft erleben – soziale Netzwerke sind Teil unseres genetischen Erbes. Und da im Unterschied zu Tieren menschliche Gesellschaften ungeheuer groß und komplex, die Gemeinschaften also über direkte Verwandtschaftsbeziehungen hinausgehend sind, haben Menschen Fähigkeiten entwickelt, um mit derart komplexen Geflechten umgehen zu können. Wo die Zahl der möglichen Beziehungen exponentiell zur Größe der Gruppe wächst, ist schlichtweg ein erheblicher kognitiver Sprung erforderlich, um mit dem sozialen Geschehen Schritt halten zu können. Neurologische Untersuchungen haben gezeigt, dass ein großer Hirnbereich nichts anderes tut, als sich mit der Verarbeitung von sozialen Interaktionen zu beschäftigen. Nicht zufällig erwiesen sich zweijährige Menschenkinder im direkten Vergleich mit Primaten im Experiment bei zwei Arten von Aufgaben erheblich überlegen: Obwohl sie kognitiv keineswegs besser abschnitten, konnten sie besser dem Blick eines anderen auf ein bestimmtes Ziel folgen und zweitens die Absicht des Gegenübers erkennen. Beides Fähigkeiten, die entscheidend für das soziale Miteinander sind. Der erste Schritt zum Agieren in sozialen Netzwerken. 

Aber wie funktionieren diese? Was sind soziale Netzwerke überhaupt? Wie beeinflussen sie unser Leben und wie beeinflussen wir umgekehrt das Leben in den sozialen Netzwerken? Und was haben wir überhaupt von ihnen? Welche Auswirkungen haben sie auf die Gesellschaft? Diesen Fragen sind Nicholas Christakis und James Fowler nachgegangen. Denn obwohl die Netzwerkforschung – befeuert vom Boom der Social Media Networks im Internet – derzeit einen gewaltigen Aufschwung erlebt, sind viele dieser Fragen noch ungeklärt. Nach wie vor schaut die Forschung eher auf die Individuen, als die Gruppenprozesse, zumal die mittelbaren, in den Fokus zu nehmen.  

Doch das greift zu kurz. Individuum versus kollektive Verantwortung, diese Perspektiven, die bei der Diskussion vieler Menschheitsfragen in der Regel die Debatten bestimmen, gehen allzu oft an einem wesentlichen Punkt vorbei: den Beziehungen des Individuums zu anderen Menschen. „Die Netzwerkforschung kann einen wichtigen Beitrag zur Erklärung des menschlichen Verhaltens liefern, weil sie die Beobachtung des individuellen Verhaltens mit der Beobachtung von Gruppen verknüpft. ... Um uns selbst zu verstehen, müssen wir verstehen, wie wir miteinander vernetzt sind.“


Wir prägen unser Netzwerk und unser Netzwerk prägt uns


Christakis und Fowler machen dabei nicht den Fehler, nur auf die virtuellen Netze zu schauen. Sie lenken den Blick zunächst auf die kleinsten Netzwerke in unserem direkten Umfeld: die Familie, die Partnerschaft, die Freunde, den Verein, das Studentenwohnheim, aber auch das reine Funktionsnetzwerk, das sich spontan vor Ort bildet, wenn eine Menschenkette Wasser vom Fluss zu einem Brandherd schafft. Wie unterschiedlich und wie unterschiedlich komplex Netzwerke mit der gleichen Anzahl Personen beschaffen sein können, lässt sich dabei einfach anschaulich machen. Da gibt es lineare Netze wie die Eimerkette, die jeden nur mit seinen beiden Nachbarn verbinden; da gibt es baumförmige Netze, in denen sich die Kontakte von Ast zu Ast weiterverzweigen (Telefonkette); da gibt es konzentrische Beziehungskreise, wie sie in militärischen Organisationen üblich sind; da gibt es organische Netzwerke, wie im Falle des Studentenwohnheims, in denen die Bewohner ein verzweigtes, aber unterschiedlich dichtes Beziehungsgeflecht verbindet. Diese „Topologie“ eines Netzwerks bestimmt darüber, wie diese Netze wirken, wie sie funktionieren und uns prägen.  

Entscheidend bei sozialen Netzwerken ist dabei: Erstens die Beziehung – wer steht wie mit wem in Verbindung? Zweitens die Übertragung – wird etwas über die Beziehungen weitergegeben, und wenn ja, was? „Dabei kann es sich um Eimer handeln, aber auch um Bakterien, Geld, Gewalt, Mode, Organe, Glück oder Übergewicht. Jeder dieser Ströme kann seinen eigenen Gesetzen gehorchen.“ Fünf Netzwerkgesetze haben Christakis und Fowler herausgearbeitet, sie reichen von „Wir prägen unser Netzwerk“ (indem wir entscheiden, wie viele und welche Beziehungen wir eingehen et cetera) über „Unser Netzwerk prägt uns“ (wenn die Angehörigen unseres Netzwerkes etwa gut vernetzt sind, müssen wir weniger Schritte gehen, um andere Menschen in unserem Netzwerk zu erreichen, und rücken näher ins Zentrum) bis zu „Netzwerke führen ein Eigenleben“ (das Ganze ist eben mehr als die Summe seiner Teile, und wie der Geschmack eines Kuchens in keiner einzelnen Zutat allein vorkommt, vermag ein Netzwerk mehr, als wir jeweils als Einzelne vermögen).


Die erstaunliche Macht der sozialen Netzwerke


Es ist eine außergewöhnliche und kurzweilige Entdeckungsreise, auf die uns Christakis und Fowler mitnehmen, wenn sie – entlang bestehender Forschungen aus der Psychologie und neuer, eigener Untersuchungen aus Netzwerkdaten oder mittels Computersimulationen – exemplarisch aufdröseln, wie soziale Netzwerke ihre erstaunlichen Wirkungen entfalten. Wenn sie etwa auf verborgenen Pfaden beeinflussen, ob wir glücklich sind oder nicht, wie viel Geld wir verdienen, ob wir zu Übergewicht neigen oder zu rauchen aufhören, ob wir wählen gehen und ob unsere eigene Stimme mehr zählt als die unseres Nachbarn. Eine Entdeckungsreise, die zeigt, wie ungeheuer machtvoll Gruppeneffekte sein können und wie groß der Einfluss Dritter auf uns sein kann. Die aufräumt mit schlicht gestrickten Vorstellungen von einer Explosion der Freundschaftsbeziehungen in der virtuellen Welt und zeigt, dass es im Internet gerade die schwachen, losen Verbindungen am Rande unserer engsten Vertrauten sind, die den größten Nutzen bringen – weil sie neue Perspektiven aus anderen eng vernetzten Gruppen in unsere Welt hineinbringen.  

Eine Entdeckungsreise, die gleichzeitig auch deutlich macht, welche Potenziale, aber auch Gefahren in der Explosion der Netzwerkbeziehungen in unseren Gesellschaften liegen: „Aufgrund unserer Einbettung in soziale Netzwerke und des Einflusses unserer sozialen Beziehungen büßen wir notwendig einen Teil unserer Individualität ein. Je stärker wir die Netzwerkbeziehungen in den Vordergrund stellen, umso unwichtiger werden Individuen bei der Erklärung von kollektiven Verhaltensweisen. ... Doch die erstaunliche Macht der sozialen Netzwerke äußert sich nicht nur im Einfluss, den andere auf uns ausüben. Wir beeinflussen unsererseits auch andere.“ Und dank der Allgegenwart der menschlichen Beziehungen haben wir erheblich größeren Einfluss auf andere, als wir wahrnehmen. „Mit Gesten der Hilfsbereitschaft können wir Dutzende oder Hunderte Menschen erreichen. ... Dieses neue Bewusstsein ermöglicht uns die Verwirklichung neuer Ziele. Das größte Geschenk dieses neuen Bewusstseins ist jedoch die schiere Freude an der Selbstentdeckung und die Erkenntnis, dass wir uns nur dann wirklich selbst verstehen, wenn wir wissen, wie und warum wir alle miteinander vernetzt sind.“ Ob man Facebook & Co. liebt oder verdammt – allen, die Zukunft gestalten und Gegenwart besser verstehen wollen, kann man die Lektüre dieses Buches nur uneingeschränkt empfehlen.
 


Zitate


"Um uns selbst zu verstehen, müssen wir verstehen, wie wir miteinander vernetzt sind." Nicholas A. Christakis, James H. Fowler: Connected!

 

changeX 10.06.2010. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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Zum Buch

: Connected!. Die Macht sozialer Netzwerke und warum Glück ansteckend ist. Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2010, 431 Seiten, ISBN 978-3100113504

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Autorin

Anja Dilk
Dilk

Anja Dilk ist Berliner Korrespondentin, Autorin und Redakteurin bei changeX.

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