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Wirtschaft in erster Person

Zivilkapitalismus - Wolf Lotters wunderbares Buch über die Wiederaneignung der Wirtschaft durch den Menschen
Rezension: Winfried Kretschmer

Wer verteidigt den Kapitalismus? Wer bekennt sich dazu? Na? Genau das ist das Problem: Das Wissen um die Wurzeln des Wohlstands ist verloren gegangen. Sagt Wolf Lotter. Und fordert, das Werkzeug der Ökonomie zur Gestaltung eines besseren Lebens einzusetzen. Zivilkapitalismus ist Kapitalismus für alle. Ist der Kapitalismus der Person.

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Im ökonomischen Sprachgebrauch hat sich eine Schizophrenie breitgemacht, allseits akzeptiert und kaum hinterfragt. Wenn es um die unbestrittenen Erfolge der wirtschaftlichen Entwicklung der zurückliegenden zweieinhalb Jahrhunderte geht, den wachsenden Wohlstand und die schwindende Armut, sprechen wir von Industrialisierung, von industrieller Entwicklung, vielleicht von industrieller Revolution. Ganz so, als ließen sich die bahnbrechenden Fortschritte in Effizienz und Produktivität, die sich in diesem Zeitraum ereigneten, auf die Verbesserung technischer Verfahren reduzieren.  

Von Kapitalismus hingegen spricht kaum jemand. Dieser Begriff ist reserviert für die negativen Seiten dieser Entwicklung. Für Ausbeutung, Pauperismus, Kinderarbeit. Kurz: hier die gute Industrialisierung, dort der böse Kapitalismus. Erstaunlicherweise hat diese Dichotomie auch den Zusammenbruch des sozialistischen Machtblocks unbeschadet überdauert. Erstaunlich ist das deshalb, weil die Modernisierungsstrategie der Staaten jenseits des Eisernen Vorhangs eben auf dieser Unterscheidung basierte: Sie waren überzeugt davon, in einer nachholenden Industrialisierung den Fortschritt des Westens nicht nur wettmachen, sondern unter veränderten ideologischen Vorzeichen das Paradies auf Erden erschaffen zu können. Durch Industrialisierung ohne Kapitalismus.  

Das Ergebnis kennen wir. Am Sprachgebrauch hat dies nichts geändert. Unbeeindruckt hält sich ökonomisches Schwarz-Weiß-Denken. Mehr noch: Im Gefolge der Wirtschafts- und Finanzkrise ist die Kritik am Kapitalismus gewachsen, hat sich eine breite antikapitalistische Grundströmung in unserer Gesellschaft breitgemacht.


Wer verteidigt den Kapitalismus?


Also: "Wer verteidigt eigentlich den Kapitalismus?", fragt Wolf Lotter in seinem neuen Buch. Die Frage bleibt indes rhetorisch, denn der Autor springt selbst in die Bresche und legt eine fulminante Verteidigungsschrift vor. Genauer: einen Grundkurs in wirtschaftlichem Denken, ein Aufklärungsbuch. Lotter fordert auf, "die trotzige Haltung gegen den Kapitalismus zur Seite zu legen und stattdessen das Werkzeug der Ökonomie für ein besseres Leben anzuwenden".  

Unverkennbar treibt ihn die Empörung über die herrschende Wirtschaftsschizophrenie, die grassierende Verlogenheit im Umgang mit einem Wirtschaftssystem, das uns einen Wohlstand beschert hat, von dem unsere Großeltern nicht einmal zu träumen vermochten. Mit wachsendem Wohlstand ist das Wissen um dessen Wurzeln verloren gegangen, diagnostiziert Lotter. Und beharrt darauf, dass Wissen um ökonomische Zusammenhänge entscheidend ist, um diese gestalten zu können. Sein Buch ist eine Wucht. Lotter gelingt es, die Dichte seiner brand eins-Essays aufs lange Buchformat zu übertragen. Präzise in der Argumentation und klar in den Aussagen. Ein Lesevergnügen. Und mit Sicherheit eines der besten Wirtschaftsbücher des Jahres.  


750 Kapitalismen, mindestens


Wer nun aber meint, Lotter hebe in einem großen Rundumschlag zur Verteidigung des Kapitalismus an, der irrt. Zum einen, und das ist eine der wichtigsten Erkenntnisse, die dieses Buch bereithält: Den Kapitalismus gibt es nicht. Es gibt viele, vielgestaltige Kapitalismen, angepasst an die jeweiligen spezifischen Bedingungen der jeweiligen Märkte und Regionen. 750 Weltmärkte haben die Vereinten Nationen identifiziert, die sich darin unterscheiden, wie sie ihren jeweiligen Kapitalismus gestalten. "Kapitalismus ist Vielfalt, nicht Einheit", so Lotter. Dazu gehört die Finanzindustrie ebenso wie der deutsche Mittelständler, die von Muhammad Yunus gegründete Grameen Bank nicht weniger wie der Miniunternehmer in einem indischen Dorf, der von dieser Kredite erhält.  

Zum anderen ist der Kapitalismus eben keine Ideologie. "Der Kapitalismus ist ein Instrument, ein Werkzeug", schreibt Lotter. Er ist "eine Summe von Kniffen, Verfahren, Gewohnheiten und Leistungen", wie Fernand Braudel es beschrieben hat, die alle einem gemeinsamen Nenner folgen, das ist das Unternehmerische. Der Kapitalismus ist "das sich ewig anpassende Instrument unternehmerischer Gestaltung und Problemlösung". Das ist Kapitalismus auf den Punkt gebracht.  

Und ein Instrument kann man nutzen. Ja: Man kann den Kapitalismus benutzen, um sein Leben zu verbessern. "Wir können mit ihm machen, was wir wollen" - der entscheidende Punkt: Für Lotter ist die Aufklärung auf halbem Wege stehen geblieben, wenn sie nicht auch den ökonomischen Bereich erobert. Heute ist das möglich, denn heute "hat der Kapitalismus eine Stufe erreicht, in der nun dieser Schritt der Emanzipation erledigt werden kann. Wir sind wohlhabend und frei genug, um uns das letzte, fehlende Glied der Aufklärung anzueignen: das Wissen um Ökonomie." Das Produkt dieser Aneignung nennt Lotter Zivilkapitalismus.


Alle sind drin


Gemeint ist damit weniger ein "zivilisierter" Kapitalismus, dem man das Böse ausgetrieben hat (das wäre wieder die ideologische Schiene), sondern ein zivilgesellschaftlicher Kapitalismus, bei dem alle mitmachen können. Ganz nach dem Grundgedanken der Zivilgesellschaft "Alle sind drin". Der Zivilkapitalismus ist "basisökonomisch und basisdemokratisch", es ist ein kooperativer, ein offener Kapitalismus, der zugänglich, verstehbar und damit benutzbar ist. "Ein barrierefreier Kapitalismus sozusagen", der den ganz wesentlichen Schritt von der Teilhabe zur Teilnahme eröffnet. Für jeden Einzelnen. "Zivilkapitalismus ist der Kapitalismus der Person." Weil in der neuen Wirtschaft das von den Großkonzernen zur Plattitüde degradierte Bekenntnis, dass der Mensch im Mittelpunkt stehe, Wirklichkeit wird.  

Klar erinnert Wolf Lotter daran, dass es der Zweck der Wirtschaft ist, dem Menschen zu dienen und seine Bedürfnisse zu erfüllen. Er sagt aber ebenso klar, was Zivilkapitalismus nicht ist: der zentralistische, industrielle Managerkapitalismus, der mit seinem Effizienz-, Kontroll- und Normierungswahn nicht mehr in die Wissensgesellschaft passt.


Der neue Geist des Kapitalismus


Eine Frage beantwortet das Buch indessen nicht: Wie der Kapitalismus es immer wieder schafft, sich an veränderte Bedingungen anzupassen und neue Variationen hervorzubringen. Der Markt als Entdeckungsverfahren und die wohl effektivste Methode, Angebot und Nachfrage zu koordinieren und Antworten auf veränderte Bedingungen zu finden, reicht als Erklärung nicht aus. Offenbar besitzt der Kapitalismus auch Antennen für Kritik und vermag seinen "Geist" an veränderte Diskurslagen anzupassen. Den französischen Soziologen Luc Boltanski und Ève Chiapello zufolge beruht der Triumph des Kapitalismus auf seiner Fähigkeit, die gegen ihn gerichtete Kritik aufzugreifen und zu verarbeiten. Dieser "neue Geist des Kapitalismus" ist wandlungsfähig, dynamisch, anpassungsbereit.  

Auch diese Fähigkeit lässt sich nutzen. Dass Diskurse nicht folgenlos verpuffen, sondern Wirklichkeit beeinflussen und gestalten können, das ist Aufklärung pur. Darauf zielt Lotter, wenn er schreibt: "Es fehlt an einem fundierten Streit über eine neue, zeitgemäße Form der Ökonomie." Diese Debatte gilt es zu führen. Wolf Lotters wichtiges Buch erinnert daran und gibt einen neuen Anstoß dazu.  


Zitate


"Der Kapitalismus stärkt ... die Unabhängigkeit der Person, die gelernt hat, die Ökonomie als Werkzeug zur Emanzipation zu nutzen." Wolf Lotter: Zivilkapitalismus

"Der Kapitalismus sorgt heute in der Globalisierung, die zu einem seiner Synonyme geworden ist, für die größte Gerechtigkeitskampagne in der Menschheitsgeschichte." Wolf Lotter: Zivilkapitalismus

"Zivilkapitalismus ist der Kapitalismus der Person. Sie steht an erster Stelle. Der Mensch ist das Primat, das zählt." Wolf Lotter: Zivilkapitalismus

"Der Kapitalismus ist ein Instrument, ein Werkzeug, kein Mythos. Wir können mit ihm machen, was wir wollen." Wolf Lotter: Zivilkapitalismus

"Der Kapitalismus ist eine Universalmaschine zur Erfüllung menschlicher Bedürfnisse. Er ist nüchtern betrachtet das Spiegelbild dessen, was Menschen wirklich wollen." Wolf Lotter: Zivilkapitalismus

"Zivilkapitalismus ... bedeutet, dass die Freiheiten der Bürger in einer offenen Gesellschaft durch selbstständiges ökonomisches Handeln abgesichert werden." Wolf Lotter: Zivilkapitalismus

 

changeX 27.09.2013. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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Zum Buch

: Zivilkapitalismus. Wir können auch anders. Pantheon Verlag, München 2013, 224 Seiten, 14.99 Euro, ISBN 978-3-570-55231-5

Zivilkapitalismus

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Autor

Winfried Kretschmer
Kretschmer

Winfried Kretschmer ist Chefredakteur und Geschäftsführer von changeX.

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