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Ein Leben nach dem Wachstum

Exit. Meinhard Miegels Streitschrift gegen den Wachstumswahn.
Text: Winfried Kretschmer

Wirtschaftswachstum führt heute nicht automatisch zu mehr Wohlstand – wenn es denn welches gibt. Und gäbe es Wachstum, die Menschen würden dadurch nicht zufriedener. Offensichtlich ist das Band zwischen Wohlstand und Wachstum gerissen. Für die nachindustrielle Ära braucht es ein neues Modell. Die Frage ist nur, ob es ohne Wachstum auskommt.

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Im Jahr 1984 erschien ein Buch mit einem bemerkenswert weitsichtigen Titel. Es hieß Der kurze Traum immerwährender Prosperität. Geschrieben hat es der Industriesoziologe Burkart Lutz, in diesen Jahren auch Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Soziologie. Lutz hatte damals schon erkannt, dass die immense Prosperität des Nachkriegskapitalismus Ergebnis einer historischen Ausnahmesituation war, in der sich Wiederaufbau, sich verbreitender Massenkonsum und ein bemerkenswertes Wachstum der Nettolöhne gegenseitig aufschaukelten und in ein anhaltendes Wirtschaftswachstum mündeten. Ein Ende dieser wirtschaftlichen Aufschwungphase war damals längst nicht in Sicht, allenfalls geringere Wachstumsraten und eine seit Mitte der 70er-Jahre erhöhte „Sockelarbeitslosigkeit“ trübten die wirtschaftliche Euphorie. Der Kurs hieß Wachstum, allen Warnungen vor dessen Grenzen zum Trotz. Das ist kaum anders als heute, da das Wachstumscredo nach wie vor zum Standardrepertoire beinahe jedes Politikers gehört und die Drei vor dem Komma als erträumter Maßstab gilt.


Es geht nicht


Und doch ist heute alles anders. Das Wachstumsspiel ist ausgereizt. Die Grenzen des Wachstums sind nun endgültig erreicht. Das ist die These von Meinhard Miegel, wortmächtig vorgetragen in seinem neuen Buch Exit. Selbst wenn man sich Wachstum wünsche, schreibt Miegel, „es geht nicht. Die Erschöpfung von Ressourcen, Umwelt, Mensch und Gesellschaft ist zu weit fortgeschritten.“ Es ist eine historische Zäsur erreicht, sagt Miegel, eine Epochenwende, ein grundlegender Wandel unseres Wirtschafts- und Lebensstils zeichne sich ab. Die Alternative lautet: Ausstieg oder Untergang. Wohlstand ohne Wachstum (so der Untertitel seines provokanten Buches) oder der Ritt in den Abgrund.
Das klingt drastisch und soll es auch. Meinhard Miegel will aufrütteln und provozieren. Sein Buch ist die Quintessenz und Weiterentwicklung der Thesen seiner beiden letzten Bücher Epochenwende und Die deformierte Gesellschaft, zugespitzt auf ein zentrales Thema: Wachstum, jene Verheißung des Industriezeitalters, die längst hohl geworden ist, die ihr eigenes Versprechen nicht mehr halten kann: zu mehr Wohlstand zu führen. Das ist der entscheidende Punkt in Miegels Argumentation: „Wachstum und Wohlstand sind entkoppelt.“ Zum einen führt Wirtschaftswachstum längst nicht mehr automatisch zu mehr Wohlstand, weil die negative Seite der Bilanz zu groß geworden ist und die Folgekosten des Wachstums seine positiven Wirkungen zunichtemachen: Umweltzerstörung, Ressourcenverbrauch, Klimawandel, die psychosozialen Folgekosten eines auf die Spitze getriebenen Materialismus.
Entkoppelt sind Wachstum und Wohlstand aber auch, weil ab einer bestimmten Stufe materiellen Wohlstands dessen weitere Steigerung sich nicht mehr in einer wachsenden Lebenszufriedenheit der Menschen niederschlägt. Sind die materiellen Grundbedürfnisse einmal befriedigt, verharrt der Anteil Zufriedener „wie festgenagelt“ auf dem erreichten Niveau. Dann rücken für die Menschen andere Dinge in den Vordergrund. Wachstum ist damit aber seiner Legitimation beraubt, die es entscheidend aus dem Wohlstandsjunktim bezieht. Es wird damit zum Selbstzweck, schreibt Miegel, zur bloßen Ideologie, zur „Religion unserer Zeit“.


Leben ohne Wachstum


Doch war der Wachstumspfad von Anfang an auf unsicherem Grund gebaut. Folgekosten wurden ausgeblendet, Nebenwirkungen übersehen und die Kosten des Naturverbrauchs tauchten in der Gesamtrechnung überhaupt nicht auf, ganz zu schweigen von der Endlichkeit natürlicher Ressourcen. Es sei an der Zeit, so Miegel, Salden zu bilden und in die Bilanz hereinzuholen, was aus Kurzsichtigkeit oder Blindheit außen vor gelassen wurde. Dieser Aufgabe nimmt er sich im mittleren Teil seines Buches an. Auf rund 60 Seiten skizziert er ein düsteres, von Kulturpessimismus durchtränktes Bild unserer Welt: die Natur ausgebeutet und krank, die gesellschaftlichen Strukturen morsch und zerbrechlich, Menschen wie Gesellschaften hilflos und überfordert.
Eine lähmende Düsternis liegt über dieser Darstellung. Gleichwohl benennt Miegel die Probleme klar und fundiert, und er stellt Fragen, auf die Optimisten eine Antwort finden müssen. Sie kreisen um die eine entscheidende Frage, die Frage nach dem „Plan B“ für die frühindustrialisierten Gesellschaften: „Wie lebt es sich mit geringem oder keinem wirtschaftlichen Wachstum, wie mit wirtschaftlicher Schrumpfung?“ Dem müssen sich die Gesellschaften stellen, denn in diese Richtung weisen die Zahlen.
Dennoch kriegt Miegel die Kurve. Im hinteren Drittel seines Buches skizziert er die Grundzüge einer Gesellschaft, die sich aus ihrer existenziellen Abhängigkeit vom Wachstum löst und beginnt, Wohlstand neu zu begreifen – nicht mehr vorwiegend materiell, sondern in seiner immateriellen Dimension: als Einklang von Arbeit und Leben, als erfüllende, bestätigende Arbeit, als nicht auf bloße Skills reduzierte Bildung, als funktionierende Beziehungen und soziale Kontakte, als Anerkennung für soziales Engagement, als Status, der nicht nur aus der materiellen Situiertheit schöpft, kurzum als ein gelingendes Leben, das die einseitige Polung auf das Materielle hin abschüttelt. Menschengemäßer Wohlstand, so Miegel, bedeute nicht zuletzt eine „Revitalisierung der spirituell-kulturellen Dimension des Menschen, die durch das Streben nach immer größeren Gütermengen weithin verkümmert ist“.


Abschied von der Industriegesellschaft


Wie soll das nun funktionieren? Im Kern von Miegels Entwurf steht die Arbeit. Wenn die Preise die Knappheit der Güter widerspiegelten, nimmt der Autor ein Argument aus der Debatte um die Ökosteuer auf, dann komme es zu einer Renaissance menschlicher Arbeitskraft, weil die (gegenüber Ressourcen verbrauchenden Maschinen) billiger werde. Allerdings müssten sich die Menschen von der Systematik fortwährender Lohnsteigerungen verabschieden und sich damit abfinden, für weniger Entgelt zu arbeiten, als in der heutigen wachstumsgepolten Gesellschaft üblich. Es ist eine anspruchsvolle Existenz, die Miegel da entwirft. In diesem Leben zählt nicht, „viel zu haben, sondern wenig zu benötigen“. Doch macht ein reicheres Leben mit Raum für kulturelle Interessen, soziales Engagement, mit Zeit für Familie und die Pflege sozialer Beziehungen die verflossenen materiellen Werte mehr als wett. Man kann dies auch „sozialer Reichtum“ nennen (Norbert Bolz) oder „gut leben statt viel haben“ (Horst Opaschowski).
Den Schlüssel zu diesem neu organisierten Leben erblickt Miegel in der Befreiung der Arbeit aus dem starren Korsett, in das der Takt der Maschinen sie gezwungen hat. Arbeit und Leben miteinander zu verschränken, fließende Übergänge zwischen Erwerbsarbeitszeit und Nichterwerbsarbeitszeit zu schaffen und vermehrte selbständige Tätigkeit anstelle abhängiger Beschäftigung sind die entscheidenden Stellhebel zur Gestaltung einer neuen Arbeitskultur. Bei der Förderung von Selbständigkeit setzt der Autor pragmatisch dort an, wo heute schon am meisten Bewegung ist: bei der Selbständigkeit im Nebenerwerb. „Abhängig beschäftigt und zugleich selbständiger Unternehmer sein – das sollte zum arbeitsmarktpolitischen Leitbild des 21. Jahrhunderts werden.“
Abschied von der alten Industriegesellschaft, die trotz der vielfach beschworenen Wissensgesellschaft noch immer in die Tiefenstruktur des gesellschaftlichen Gefüges hineinwirkt, ist die anstehende Aufgabe: „Für Politik, Wirtschaft und Gesellschaft ist die Zeit gekommen, sich von den Wertschöpfungs- und Verteilungsstrukturen, die unter historischen Bedingungen entstanden sind, zu lösen und zeitgemäße Formen für die Erlangung von Einkommen, Transferansprüchen, sozialer Einbindung und gesellschaftlichem Status zu entwickeln.“
Miegel ist struktureller Optimist; er ist überzeugt, dass diese neue Gesellschaft sich bauen lässt. Ob es gelingt, ist Sache der Menschen, die bereit sein müssen, mutig voranzugehen. Seinem Buch gelingt es, die unterschiedlichen Felder – Ressourcen- und Naturverbrauch, Arbeit, Bildung, Soziales – zu einem umfassenden Entwurf einer zukünftigen Gesellschaft zu verdichten. Es trifft den Nerv einer Zeit, in der Menschen spüren, dass der Traum von immerwährender Prosperität (zumindest auf absehbare Zeit) ausgeträumt ist, und nach neuen Leitbildern für die Zukunft suchen. Miegels Buch kann hier Wege weisen.


Dematerialisierung der Wirtschaft


Sein Schwachpunkt indes ist sein Wachstumsbegriff. Den nämlich lässt Miegel in seiner industriegesellschaftlichen Antiquiertheit unangetastet, ganz so, als hätte es nie eine Debatte über qualitatives Wachstum oder Ressourcenproduktivität (Faktor X) gegeben. Für Miegel heißt Wachstum immer BIP: Wachstum des Bruttoinlandsprodukts. Das eignet sich zwar trefflich als Angriffsfläche, ist aber zu pauschal, um Wachstum differenziert fassen – und neu denken – zu können. Aus diesem Grund ist weltweit eine Suche nach anderen, besser geeigneten Wohlstandsindikatoren angelaufen. Aber auch beim Wirtschaftswachstum wird man differenziert ansetzen müssen, wird die Frage eher lauten müssen: Welches Wachstum wollen wir? Und darauf zielt ja auch Miegels Forderung nach einer Bilanzierung: Für jede Branche, für jede Technologie zu fragen, was Sinn macht und was nicht. So wird in manchen Bereichen schnelles und entschlossenes Wachstum nötig sein, weil hier Versäumtes aufzuholen ist – regenerative Energien, neue Mobilitätskonzepte, intelligente, vernetze Technik, Bottom-of-the-Pyramid-Strategien für die armen Länder, Investitionen in soziale Innovation und anderes mehr. Anderswo wird es um Reduzierung, um Ausstieg, um Exit gehen. Als Gesamtstrategie taugt dies jedoch nicht.
Eine Denkfigur bekommt Meinhard Miegel seiner kulturpessimistischen Grundhaltung wegen gar nicht in den Blick: Dass die Menschheit mit Innovationen, die wir vielleicht noch gar nicht kennen, eine neue, lange Phase der Prosperität begründen könnte – einen neuen Aufschwung auf der Basis dematerialisierter Güter und Prozesse, die den alten materiellen Grenzen nicht unterworfen sind.


Zitate


"Wachstum und Wohlstand sind entkoppelt.“ Meinhard Miegel: "Exit"

"Wie lebt es sich mit geringem oder keinem wirtschaftlichen Wachstum, wie mit wirtschaftlicher Schrumpfung?" Meinhard Miegel: "Exit"

"Abhängig beschäftigt und zugleich selbständiger Unternehmer sein - das sollte zum arbeitsmarktpolitischen Leitbild des 21. Jahrhunderts werden." Meinhard Miegel: "Exit"

"Für Politik, Wirtschaft und Gesellschaft ist die Zeit gekommen, sich von den Wertschöpfungs- und Verteilungsstrukturen, die unter historischen Bedingungen entstanden sind, zu lösen und zeitgemäße Formen für die Erlangung von Einkommen, Transferansprüchen, sozialer Einbindung und gesellschaftlichem Status zu entwickeln.“ Meinhard Miegel: "Exit"

 

changeX 04.03.2010. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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Zum Buch

: EXIT. Wohlstand ohne Wachstum. Propyläen Verlag, Berlin 2010, 304 Seiten, ISBN 978-3-549-07365-0

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Autor

Winfried Kretschmer
Kretschmer

Winfried Kretschmer ist Chefredakteur und Geschäftsführer von changeX.

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