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Gedanken wenden

The Flip Manifesto - Daniel H. Pinks Aufruf zu unkonventionellem Denken
Rezension: Annegret Nill

Querdenken reicht nicht. Man muss das Denken umdrehen: Konventionen hinterfragen, Abläufe auf den Kopf stellen, mit der Umkehrung von Dogmen spielen. To flip heißt das auf Englisch. Flipped Classroom ist in den Staaten schon zur Bewegung geworden. Würde nicht wundern, wenn das um sich greift.

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Mitten in einer Atmosphäre, in der Forschungslaboratorien mit Drittmittelakquise und ihrer Begleitmusik beschäftigt sind, bekamen die Physiker Andre Geim und Konstantin Novoselov 2011 den Nobelpreis für Experimente verliehen, die sie freitags abends machten - unbezahlt, einfach aus Neugier und gegenfinanziert durch ihre tägliche Auftragsforschung. 

Mitten in einer Welt, in der die Schule neuen Stoff noch immer wie vor 150 Jahren im Frontalunterricht vermittelt, geht der Mathelehrer Karl Fisch dazu über, den neuen Stoff auf Video aufzunehmen, sodass die Schüler seine Erklärungen zu Hause in ihrem Tempo und so oft sie wollen via YouTube anschauen können. In der Schule machen sie dafür das, was bisher unter "Hausaufgaben" lief - das heißt, sie üben das Gelernte, wenden es an Beispielen an und helfen sich gegenseitig, wenn einmal jemand nicht weiterkommt.  

Mitten in einer Zeit, in der Unternehmen ihr System zunehmend auf Provisionen und finanzielle Anreize umstellten, experimentierten Neil Davidson und Simon Galbraith bei ihrer Firma Red Gate Software mit einem einheitlichen Gehaltssystem für ihre Verkäufer, mit einem Gehalt, das etwas über dem Durchschnitt liegt. Und finden heraus: Die Verkaufszahlen steigen, die Unstimmigkeiten zwischen den Mitarbeitern nehmen ab und der Wohlfühlfaktor in der Belegschaft steigt. Ein Befund, der sich mit den Ergebnissen einer Studie von George Akerlof und Janet Yellen aus den 1980er-Jahren deckt, wie Daniel H. Pink in seinem E-Book The Flip Manifesto schreibt. "In fact, the firms making the irrational and seemingly frivolous choice to ,overpay‘ their employees, rather than construct elaborate incentive systems, outperformed their competitors", fasst Pink die Resultate der Studie zusammen.  

Und mitten in einer Arbeitsumgebung, in der Feedback Mangelware ist und durch das jährliche Mitarbeitergespräch oftmals mit Angst belegt, führt die amerikanische Ingenieurfirma Kimley-Horn, die 60 Niederlassungen (Ingenieurbüros) hat, ein Peer-to-Peer-Feedback-System ein. Und das funktioniert so: Die Mitarbeiter dieser Firma können Kollegen einen sofortigen Bonus von 50 Dollar zukommen lassen, wenn sie finden, dass der Kollege gerade etwas besonders toll gemacht hat. Der Vorgesetzte zeichnet es ab - und fertig. Fast 2.000 Boni haben sich die Mitarbeiter 2011 auf diese Weise gegenseitig verliehen.


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Gemeinsam ist diesen Beispielen aus Pinks Manifest die Dynamik. Und das Muster: Da haben Leute die festen Strukturen umgekehrt, in denen ihr Leben normalerweise eingekästelt ist. Sie haben die festen Bahnen verlassen, in denen ihre Gedanken sonst verlaufen, und ihr Handeln nicht allein nach vorgegebenen Schemata gerichtet. Sie haben sich und ihren Mitarbeitern Raum gegeben, haben Raum geschaffen. Raum für ihre eigenen Interessen und Kreativität - auch wenn der Versuchsgegenstand gerade nicht "in" war und nicht finanziert wurde. Wenn er und die Ergebnisse, die daraus erwuchsen, quer zu den Vorurteilen des Zeitgeistes und zum gesellschaftlichen Mainstream verliefen. Und sie haben sich auf die Mitarbeiter eingelassen, ihnen Macht überlassen und ihnen etwas zugetraut. Sie waren unvoreingenommen und haben sich neuen Möglichkeiten geöffnet. Und haben davon letztlich profitiert. Nicht immer sofort, aber langfristig gesehen.  

Ein wichtiger Punkt bei Pink, der sein Manifest an die Business-Welt adressiert und in drei Teile strukturiert hat: Motivation, Innovation und Leadership. Ein Punkt, der jetzt, nachdem das Kurzfristdenken wiederholt an seine Grenzen gestoßen ist, vielleicht wieder auf mehr Gehör stößt.  

Zwar sind die Beispiele und Argumente, die Pink bringt, zum Großteil nicht neu. Aber durch die Macht der Anordnung und Ballung wird ihre Botschaft stark. Und die besagt: Wenn ihr in Zukunft und langfristig erfolgreich sein wollt, dann trennt euch von den alten Denkschablonen und fangt damit an, zu "flippen". To flip heißt umdrehen. Also: Konventionen hinterfragen, Abläufe auf den Kopf stellen, mit der Umkehrung von Dogmen spielen.  


Umgekehrtes Denken lernen


Beispielsweise von Dogmen, die Business und Menschlichsein einander als Gegensatz gegenüberstellen. Pink dreht das um. Er sagt: Menschliches Verhalten führt schließlich, wenn man es geschickt anstellt, zu einem nachhaltigen und langfristig profitablen Business. Und führt im Abschnitt Innovationen das Beispiel TOMS an, ein amerikanisches Start-up aus dem Jahr 2006. Das Modell von TOMS: Wer ein Paar Schuhe kauft, spendet dadurch gleichzeitig ein Paar an Bedürftige. Das Argument dafür: Dadurch steige zwar kurzfristig der Kaufpreis etwas. Es zeige sich aber, dass die Kundenzufriedenheit langfristig wächst. Denn auch wenn der Wert der Schuhe durch den Gebrauch abnimmt - die Zufriedenheit mit ihnen hält an, weil die Käufer sich jedes Mal, wenn sie ihre Schuhe anziehen, an die gute Tat erinnern. Dadurch steigt die Loyalität mit dem Unternehmen, der Imagewert nimmt zu. Das Unternehmen wird via Social Media weiterempfohlen und so in den überfüllten Märkten sichtbar.  

Eine wichtige Botschaft immer wieder und gerade auch in Deutschland, wo man die Kunden jahrelang mit dem Slogan "Geiz ist geil" bombardierte und wo Schnäppchenjägerei geradezu zum Volkssport erhoben wurde. Denn natürlich - und diese Seite fehlt im Manifest - ist dieses umgekehrte Denken nicht nur für Unternehmen wichtig, die auf Zukunftsmärkten Erfolg haben wollen. Sondern es ist auch für die Menschen wichtig, alte Denkmuster zu verlassen und in unbekannte Regionen vorzustoßen, um die Probleme des 21. Jahrhunderts frohgemut lösen zu können - und dies zu wollen.  

So geht es im Flip Manifesto nicht nur um ein profitables und zukunftsfähiges Verkaufsmodell. Auf einer tieferen Ebene geht es um das Menschenbild unserer Zeit, darum, wie Menschen heute wirklich ticken. Es geht um intrinsische Motivation und das tiefe menschliche Bedürfnis, jenseits des Kontostands einen Grund zu haben, warum man jeden Morgen zur Arbeit geht, warum man überhaupt arbeitet. Es geht um den Nachweis, dass so ein Grund die Arbeitsmotivation von Mitarbeitern anhaltend erhöht. Dafür führt Pink viele Beispiele aus Unternehmen und viele Studien als Beweis an.  

Und es geht darum, dass auch in der Wirtschaftswelt und im Business-Sprech menschliche Verhaltensweisen und ein echtes emotionales Eingehen auf das Gegenüber, eine echte Begegnung mit ihm, langfristig die Beziehung zwischen Unternehmen und Kunde, zwischen Wirtschaft und Gesellschaft enorm verbessern.


Die momentan neueste Software zum Thema


Herrlich ist in diesem Zusammenhang auch, wie Pink sich gegen den aus den USA stammenden vereinfachten und floskelhaften Affirmationswahn der vergangenen Jahre wendet. Offenheit und gelegentliche Selbstzweifel, eine fragende Haltung in Bezug auf den richtigen Weg zum richtigen Ziel, führen zu viel besseren Ergebnissen als eine platte allgemeine Botschaft à la "Ich kann das, ich schaffe das" - das weist er anhand von experimentellen Studien nach. Eine Botschaft, die Europäern entgegenkommen dürfte. Pink schreibt: "So the next time you’re feeding your inner self a heady brew of confident declarations and bold affirmations, toss in a handful of interrogatives with a few sprinkles of humility and doubt." 

The Flip Manifesto ist ein Manifest. Das bedeutet auch: Es ist kein ausgewogenes Sachbuch, das Pro und Kontra gleichermaßen berücksichtigt. Eher schon ist es eine steigende Erörterung, die eine These unterhaltsam unterfüttert. Diese stellt es dann auf umso überschaubarere, informativere und kurzweiligere Art auf 83 Powerpoint-artigen Seiten dar. Ohne dabei den Anspruch zu vertreten, ewige Wahrheiten zu verkünden - es hat "nur" den Anspruch, die momentan neueste Software zum Thema zu liefern. Ironie beabsichtigt. Wie Sie sehen - es macht Spaß und beflügelt, sich durch dieses E-Book zu klicken.  


Zitate


"To flip heißt umdrehen. Also: Konventionen hinterfragen, Abläufe auf den Kopf stellen, mit der Umkehrung von Dogmen spielen." Rezension Daniel H. Pink: The Flip Manifesto

 

changeX 09.05.2012. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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Zum Buch

: The Flip Manifesto. 16 Counterintuitive Ideas About Motivation, Innovation, and Leadership. E-Book, Washington DC 2012, 83 Seiten, free

The Flip Manifesto

Autorin

Annegret Nill
Nill

Annegret Nill arbeitet als freie Journalistin, Autorin und Moderatorin in Berlin. Sie schreibt als freie Autorin für changeX.

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