Kopieren, was andere sehr gut können.
  Das war die Geburtsstunde von
  Benchmarking. Die Idee: Anstatt in den eigenen Reihen nach
  Verbesserungen zu suchen, sieht man sich bei anderen Firmen um.
  Das Ziel: Kopieren, was andere sehr gut können, und so wieder
  wettbewerbsfähig werden. Bei Xerox war man begeistert: Jeder
  Stein wurde umgedreht und mit einem aus anderen Branchen
  verglichen. Die Entwicklungsabteilung sah sich bei
  Hewlett-Packard um, der Vertrieb forschte beim Modehersteller
  L.L.Bean nach Verbesserungen, und das Marketing wurde bei Procter
  & Gamble vorstellig. Am Ende des Tages hatte der Xerox-Preis
  für einen Kopierer mit Canon gleichgezogen. Die Amis waren wieder
  im Geschäft.
  
So will es die Legende. Alfred Kieser, einer der führenden
  Betriebswirtschaftsprofessoren in Deutschland, sieht das völlig
  anders. "Benchmarking basiert auf Vorurteilen aus der
  Beraterwelt. Die Geschichte über Xerox war dort der Grundstein
  für eine neue Heilslehre." Für Kieser ist Benchmarking nicht mehr
  als eine hohle Managementmode. Noch schlimmer, "es ist für
  Berater ein billiges Werkzeug, Umsatz zu machen". Diese Aussagen
  überraschen nicht, denn der 64-Jährige führt seit vielen Jahren
  einen Feldzug gegen gierige Berater und willfährige
  Dozentenkollegen, die er verdächtigt, als Verstärker für
  überflüssige Managementtheorien zu fungieren.
  
Diesbezüglich kommt es schon mal vor, dass er der
  baden-württembergischen Landesregierung die Leviten liest, wenn
  Roland Berger von ihr beauftragt wird, die universitäre Forschung
  im Lande zu beurteilen. Oder über Wissenschaftskollegen schimpft,
  die "in lukrativen Nebentätigkeiten die Rolle übernommen haben,
  diese ganze Arena zu legitimieren" - anstatt zu kritisieren, "wie
  sich das für Wissenschaftler gehört". Kritik, die ihm nicht nur
  Anerkennung, sondern auch so manche Anfeindung eingebracht hat.
  "Teilweise unter der Gürtellinie", wie er heute zugibt. Auf der
  Konferenz "Grenzen der Strategieberatung" vor zwei Jahren in
  München, wo prominente Wissenschaftler und Berater einmal richtig
  miteinander ins Gespräch kommen sollten, versuchten einige
  Berater von McKinsey & Co. sogar, seine Teilnahme zu
  verhindern.
Erst Angst schüren, dann die Angst lindern.
  Kieser ist ein treuer Diener der
  Betriebswirtschaftslehre. 1968 promovierte er, 1973 habilitierte
  er in Köln. Nach drei Jahren an der FU Berlin wechselte er nach
  Mannheim. Seit 1977 ist er dort tätig. C4-Professur,
  Lebensstellung. Keine Zeit für die großen Honorare in
  Unternehmensberatungen. Die Professorenstube wärmt auch. Immer
  wenn Kieser im Interview sanft zu lächeln beginnt, wird es
  brenzlig. Dann ist es wieder Zeit für eines seiner messerscharfen
  Urteile. Ganz trocken kommen sie daher: "Der Wissenschaftler
  sucht die Wahrheit, der Berater das nächste Budget." Diese
  Gegensätze bringt Kieser auf den Punkt wie kaum ein zweiter
  Wissenschaftler hierzulande. Was das Grundprinzip von Beratern
  ist? "Berater schüren Angst. Und dann bieten sie Lösungen an, die
  Angst zu lindern." Mit modischen Managementtheorien wie Balanced
  Scorecard, Business Reengineering oder Benchmarking werde Furcht
  erzeugt. Dann reagieren nicht wenige Geschäftsführer und
  Vorstände mit der bangen Frage: "Brauchen wir das nicht auch?"
  Das Versprechen: In einer Welt voller Vorurteile und Unsicherheit
  gibt der Berater Halt und Orientierung.
  
Dafür werden Wissenschaftler wie Kieser, und das wurmt ihn,
  kaum herangezogen. Der Grund ist für den Mannheimer Professor
  klar: "Aus wissenschaftlicher Sicht ist es kaum möglich,
  festzustellen, was die beste Lösung für ein Problem ist."
  Eindeutige Erfolgsfaktoren gebe es nicht. "Die Wirtschaftswelt
  ist viel zu komplex. Die kann man nicht mit einfachen
  Fragestellungen erschlagen", sagt Kieser. Berater hingegen leben
  von Techniken, die beim Auftraggeber den Eindruck erwecken, man
  bekomme die Unsicherheit in den Griff.
Beratung beruht auf Vereinfachung.
  Alfred Kieser weist seit vielen
  Jahren auf den zweifelhaften Ruf von Erfolgsfaktoren wie
  Benchmarking hin. Seine Artikel und Vortragstexte füllen ganze
  Regalwände. Mehr aber nicht, denn in der populären
  Wirtschaftspresse ist bisher wenig angekommen. Kiesers Kritik an
  Managementmoden strandete fast ausschließlich in
  wirtschaftswissenschaftlichen Fachmedien. "Obwohl ich nicht
  abgeneigt gewesen wäre, in der populären Wirtschaftspublizistik
  mitzumischen", fügt er leicht zähneknirschend hinzu. Bis heute
  hat er dies nicht ganz verwunden. Vielleicht hat er deshalb auch
  zielstrebig erforscht, wie der Einfluss von
  Universitätsprofessoren in der Wirtschaftsmagazinpresse über
  Jahrzehnte dramatisch gesunken ist. Im Jahr 2000 wurde
  beispielsweise kein einziger Wissenschaftler mehr in einer
  Titelgeschichte des 
  manager magazins erwähnt.
  
Dieses kleine Trauma hat ihn dazu geführt, heute mehr denn
  je darüber nachzudenken, warum Wirtschaftswissenschaften und
  populäre Unternehmensberatung zwei Welten geblieben sind. Und
  letztlich bleiben werden, weil sie sich unversöhnlich
  gegenüberstehen. "Beratung ist eben keine Wissenschaft, sie
  beruht einzig und allein auf Vereinfachung." Bei einem seiner
  wenigen Vorträge bei einer bekannten Unternehmensberatung sagte
  Kieser einmal: "Die wissenschaftliche Evidenz ist kontrovers."
  Daraufhin bekam er vom Geschäftsführer zur Antwort: "Sagen Sie
  das nie mehr." Ausdrücken wollte er damit aber nur:
  "Wissenschaftler leben von der skeptischen Kontroverse, Berater
  von eindeutigen Ergebnissen. Wissenschaftler müssen sich in Frage
  stellen, Berater kritisieren sich nicht selbst." Überdies haben
  Manager Angst vor Kontrollverlust. "Sie haben Angst davor, dass
  sich die Komplexität ihres Unternehmens als unbeherrschbar
  erweisen könnte und dass sie ihre Fähigkeit zur Steuerung
  verlieren könnten. Gute Praxis oder Best Practices - und nichts
  anderes ist Benchmarking - kommt daher besser an als skeptische
  Theorie."
Die Luft ist raus.
  Ist Benchmarking folglich nicht
  viel mehr als geschicktes Ballyhoo um Nichts? Könnte sein, denn
  auch bei Rank Xerox, der angeblich besten Benchmarking-Geschichte
  aller Zeiten, war nicht alles Gold, was glänzte. Laut Aussage von
  Xerox-Planungschef Robert Camp lagen die jährlichen
  Produktivitätssteigerungen danach nur bei drei bis fünf Prozent.
  Egal, dem weltweiten Hype um Benchmarking tat dies keinen
  Abbruch. Die amerikanische Industrie stieg im großen Stil ein,
  und selbst in Deutschland war ab den frühen 1990er Jahren kein
  Halten mehr. 1996 bilanzierte eine 
  impulse-Studie: "100 Prozent der Automobilhersteller, 80
  Prozent in der Elektroindustrie und 50 Prozent im Bereich
  Maschinen/Anlagebau haben bereits Benchmarking-Erfahrungen."
  
Alfred Kiesers Benchmarking-Check fällt zehn Jahre später
  nüchtern aus. "Die Luft ist raus." Für Kieser liegt der
  Hauptgrund auf der Hand: "Es hat sich in vielen Unternehmen
  glücklicherweise die Einsicht durchgesetzt, Äpfel nicht mit
  Birnen vergleichen zu können." Noch drastischer formuliert es
  Kiesers ehemalige Mitarbeiterin und heutige 
  Harvard Businessmanager-Redakteurin Cornelia Hegele: "Es
  handelt sich um ziemlich alten Wein in neuen Schläuchen." Früher
  hieß Benchmarking nämlich Betriebsvergleich. Man verglich in
  erster Linie Daten aus dem Rechnungswesen: Löhne, Wareneinkauf,
  Logistik. "Seit Beginn der industriellen Revolution waren in
  Frankreich bereits Vergleiche zwischen Manufakturen üblich",
  bestätigt Gunnar Siebert, Leiter des 
  Deutschen Benchmarking Zentrums in Berlin. Irgendwann
  wurde dann aus einfacher Recherche Benchmarking. Wissenschaftlich
  wird es bis heute nicht beachtet. Alfred Kieser nennt die sechs
  größten Vorurteile im Benchmarking beim Namen, "klar und ohne
  Plastikwörter aus der Beraterbranche".
Was kann man beim Benchmarking lernen? Nicht viel.
  Erster Einwand: Was kann eine Firma
  beim Benchmarking lernen? "Nicht viel", sagt Kieser, "denn jede
  Firma ist einzigartig und gar nicht angelegt, von anderen lernen
  zu müssen." Der Wirtschaftswissenschaftler hat in eigenen
  Forschungen festgestellt, dass es in strategischen Allianzen eher
  darauf ankommt, das Lernen voneinander zu minimieren. "Die
  gängige Lehre behauptet, möglichst viel voneinander zu lernen.
  Doch es ist völlig unökonomisch, wenn der eine Spezialist alles
  lernt, was der andere bereits weiß. Im Gegenteil: Man sollte nur
  Lösungen von anderen übernehmen, wenn man sie nicht verstehen
  muss." Kieser glaubt sogar, dass Spezialisten einander gar nicht
  verstehen müssen. Jeder solle sich vielmehr auf seinen
  Kernbereich konzentrieren und dort Lösungen schaffen. Es gilt das
  Ostfriesenprinzip: Keiner im Team muss alles wissen. Es genügt,
  jemanden zu kennen, der dieses Wissen hat.
  
Zweiter Einwand: Benchmarking verhindert das Neue, weil man
  immer nur auf Lösungen trifft, die bereits realisiert sind. "Eine
  revolutionäre neue Geschäftsidee ist durch Benchmarking noch nie
  entstanden", sagt Kieser. Nehmen wir als Beispiel IKEA: Die Idee,
  dass Kunden ihre Möbel selber zusammenbauen, war eine
  revolutionäre Geschäftsidee von Ingvar Kamprad. "Damit hat er
  etwas völlig anderes getan als seine Wettbewerber." Das heißt im
  Klartext: Zündende Ideen entstehen immer im Kopf von
  Unternehmern. Benchmarking hingegen bezieht sich immer auf
  Lösungen, die schon in der Welt sind. Kieser hat überdies
  herausgefunden: "Besonders erfolgreiche Unternehmer brechen mit
  den vermeintlich gültigen Regeln der Branche."
  
Dritter Einwand: "Ein Wettbewerbsvorteil kann von
  Konkurrenten gar nicht kopiert werden. Dann wäre er keiner mehr.
  Jeder Wettbewerbsvorteil verschwindet in der Sekunde, in der er
  beim Konkurrenten auftaucht." Was wiederum zur Folge hat, dass
  nur das schwache und suchende Unternehmen einen klaren Vorteil
  aus dem Benchmarking ziehen kann. Stellt sich die Kardinalfrage
  aller Benchmarking-Prozesse: "Warum soll der Stärkere seinen
  Erfolg an andere überhaupt weitergeben?" Das Ziel von Unternehmen
  besteht unter anderem auch darin, Wettbewerber an der
  erfolgreichen Positionierung im Markt zu hindern.
Unternehmen sollen einander immer ähnlicher werden.
  Vierter Einwand: Es gibt weltweit
  so viele unterschiedliche Unternehmen und damit verschiedene
  Erfolgsmodelle wie Sand am Meer. Kieser, der weltweiten Ruhm
  genießt, verweist in diesem Zusammenhang auf die völlig
  unterschiedlichen Organisationskulturen - etwa in Großbritannien
  und Deutschland. "Zwei Welten. Die Engländer verstehen Management
  als People
�s Management. Führungskräfte müssen ein Händchen
  haben, Leute zu führen. Fachwissen kann man sich aneignen. Man
  rotiert zwischen Funktionen und Abteilungen. In Deutschland ist
  es genau umgekehrt. Fachkenntnisse stehen über allem. Es ist
  geradezu inakzeptabel, wenn der Mitarbeiter mehr weiß als der
  Vorgesetzte. Deutsche Unternehmen sind deshalb sehr viel stärker
  durch Regeln geprägt. Man fängt im Marketing an und stirbt im
  Marketing." Mit Unternehmenskultur und Tradition aber beschäftigt
  sich Benchmarking überhaupt nicht. Ja, es leugnet deren
  Wichtigkeit. Die Folge: Im vergleichenden Kennzahlenfetischismus
  geht die spezifische Firmenkultur unter. In der
  Organisationsforschung hingegen weiß man, dass diese eine immer
  größere Rolle spielt.
  
Fünfter Einwand: Benchmarking hat im Grunde genommen nur
  das eine Ziel: Unternehmen sollen einander immer ähnlicher
  werden. Nach dem Motto: Jeder in der betroffenen Branche kann so
  gut wie Microsoft, Porsche oder General Electric sein. Cornelia
  Hegele meint: "Es erscheint eher unwahrscheinlich, dass die Kopie
  ihr Original übertrifft. Mehr als langfristig zum guten
  Durchschnitt zu gehören dürfte mit dieser Methode kaum zu
  erreichen sein." Erfolgreiche Unternehmen haben das längst
  verinnerlicht. ALDI beispielsweise betreibt überhaupt keine
  Marktforschung, geschweige denn irgendein Benchmarking. Niels
  Pfläging, erfolgreicher Unternehmensberater in São Paulo,
  bestätigt: "ALDI hat einfache Informationssysteme, wenig
  Bürokratie und keine jährliche Planung. Es verzichtet außerdem
  auf die Zusammenarbeit mit Unternehmensberatern und auf externe
  Marktforschung." Das wiederum gefällt Kieser. "Es ist eine gute
  Strategie, sich nicht darauf einzulassen, denn es würde nur den
  Spielraum für eigene Innovationen begrenzen. ALDI hat doch völlig
  recht."
Keiner konnte so schuften wie Schmidt.
  Sechster Einwand: Stellt sich die
  Frage, warum es Unternehmen nicht bei der Analyse der eigenen
  Prozesse belassen. Der eigentliche Grund, so Kieser, liege darin,
  die internen Spezialisten unter Druck zu setzen. "Sie sollen
  herausholen, was herauszuholen ist." Diese Denkfigur geht auf das
  Scientific Management des amerikanischen Ingenieurs Frederick
  Winslow Taylor zurück. Der verglich vor über 100 Jahren ganz
  genau, wie lange Arbeiter zum Verladen von Roheisen brauchen
  dürfen. Das Problem: Die Vergleichsgröße war ein deutscher
  Schrank namens Schmidt, der für drei arbeiten konnte. So kam
  natürlich zwangsläufig heraus, dass die Kollegen viel zu wenig
  Leistung erbrachten. Taylor war überzeugt, dass es ein Optimum
  für jede Höchstleistung am Arbeitsplatz gibt. Deshalb ermittelte
  er für jede menschliche Tätigkeit die allein richtige
  Bewegungsfolge. Erfolg wurde reduziert auf wissenschaftlich exakt
  messbare Faktoren. "Doch es ist kein realistischer Vergleich,
  wenn man seine Leistung am Besten ausrichten muss. Für Taylor war
  der Paradearbeiter Schmidt die Vergleichsgröße. Das war
  geschummelt. Keiner konnte so schuften wie er", sagt Kieser.
  
Und so lehrt und arbeitet Kieser weiterhin mit seinen knapp
  100 Studenten in Mannheim, wo man auf
  wirtschaftswissenschaftliche Unabhängigkeit pocht. Jenseits
  verlockender Beratungsarbeit in der Praxis und lukrativer
  Vorträge in den Chefetagen der deutschen Wirtschaft. Er hat sich
  eigentlich, sagt er etwas kleinlaut, nie richtig angefeindet
  gefühlt. "Es war halb so schlimm." Ein unbequemer Kritiker will
  der 64-Jährige dennoch bleiben. "Die heutige unkritische
  Studentengeneration braucht den Fingerzeig", lacht er. "Ich muss
  ihnen wenigstens sagen, wann sie kritisch sein müssen." Zum
  Beispiel, dass "Benchmarking nichts anderes als eine bessere
  Recherche ist, die auch mit gesundem Menschenverstand zu leisten
  ist".
Peter Felixberger ist Geschäftsführer bei changeX.
© changeX Partnerforum [01.11.2006] Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
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Eine Reportage von Peter Felixberger. zum Report
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Peter FelixbergerPeter Felixberger ist Publizist, Buchautor und Medienentwickler.



