Wir und sie
Gegenüber eine andere Welt - das neue Buch von Harry Bernstein.
Von Winfried Kretschmer
Kulturelle Grenzen seien unüberwindlich wie Mauern, behaupten manche. Ein amerikanischer Autor beschreibt in seinen Kindheitserinnerungen ein solche unsichtbare Mauer: Sie verlief in der Mitte der Straße zwischen den Häuserzeilen einer rußigen englischen Industriestadt, hier Juden, dort Christen. Und jede Gruppe gefangen in ihrer Welt. Doch die Mauer wurde durchlässig, als die Menschen sich nicht mehr allein als Zugehörige ihrer Religion, sondern als Menschen begegneten. Der Zusammenstoß der Kulturen ist nicht unvermeidlich. / 24.08.07
Bernstein CoverViele Jahre fehlen Harry Bernstein nicht mehr, und er ist 100 Jahre alt. Geboren wurde er 1910. Aufgewachsen ist er in der Nähe von Manchester, nach dem Ersten Weltkrieg emigrierte seine Familie in die USA. Als vor fünf Jahren seine Frau starb, mit der er 67 Jahre glücklich verheiratet war, beschloss Bernstein, noch einmal etwas Neues anzupacken. Er begann, seine Lebenserinnerungen aufzuschreiben. Entstanden ist ein Buch, das mehr ist als eine Autobiographie eines bewegten Lebens: Es erlaubt einen Blick in eine andere Zeit. Eine Zeit, in der Mangel und Armut zum Alltag gehörten - und die heute, nach einigen Jahrzehnten der Massenkonsumgesellschaft, so fern erscheint wie das Leben im England von Charles Dickens. So führt Bernstein auch vor Augen, was sich in einem Menschenleben verändern kann. Vor allem aber ist sein Buch eine Studie über soziale und kulturelle Milieus und die unsichtbaren Mauern, die sie trennen. Und die Möglichkeit, diese zu überwinden.

In der Mitte eine unsichtbare Mauer.


"Äußerlich", so beginnt er seine Kindheitserinnerungen, "sah unsere Straße damals wohl ziemlich genauso aus wie alle anderen Straßen im Arbeiterviertel einer Industriestadt in Lancashire." Es war eine ruhige, kleine Straße mit Häuserreihen auf beiden Seiten. Und doch war da etwas, das die schmale Industriearbeiterstraße von anderen tristen Industriearbeiterstraßen englischer Industriestädte unterschied: "... der Umstand, dass wir auf der einen und sie auf der anderen Seite lebten. Wir waren die Juden, sie die Christen." Es war eine Art Miniaturghetto, "denn zwischen den beiden Straßenseiten stand eine unsichtbare Mauer". Nur selten wurde die Kluft zwischen den Kulturen, der christlichen auf der einen, und der jüdischen auf der anderen Straßenseite, überwunden. Etwa um in Gordons kleinem Lebensmittelladen einen Laib Weißbrot und eine Flasche Ingwerbier zu kaufen. Oder im Süßwarenladen an der Ecke für einen Penny Bonbons zu erstehen. Oder wenn am Sabbat Christenfrauen über die Straße kamen, um in den jüdischen Häusern das Herdfeuer anzuzünden, was strenggläubigen Juden an diesem Feiertag verboten ist. "Ansonsten blieben wir auf unserer Seite und sie auf der ihren." Jede Seite lebte in ihrer Welt und folgte den Regeln und Ritualen ihrer Kultur.
Mit einfachen und anschaulichen Sätzen beschreibt Bernstein die Lebensumstände seiner Kindheit im Arbeiterviertel von Stockport. Erzählt von der Armut und den beengten Verhältnissen. Von seinem herrischen Vater, für dessen Trunksucht ein guter Teil des wöchentlichen Lohns draufging. Von seiner Mutter, die nie wusste, wie sie mit dem wenigen Geld die Familie durchbringen sollte. Und die dann selbst die Initiative ergriff und mit billig erworbenem überreifem Obst einen kleinen Laden in der Wohnstube eröffnete, um so ihren Kindern Schuhe und Schule finanzieren zu können.

Zur Verständigung fähig.


Bernsteins eigentliches Thema ist die Mauer zwischen den beiden Kulturen diesseits und jenseits der Straße - eine Mauer, in der sich indessen bereits die ersten Risse zeigten. Bernstein lässt den Leser spüren, wie langsam eine andere Zeit anbrach, wie die Kinder die Dinge mit anderen Augen zu betrachten begannen und die Religionen etwas von ihrer Bindungswirkung verloren. Und der kleine Harry mittendrin. Zunächst als Übermittler geheimer Liebesbotschaften zwischen einem jüdischen Mädchen und dem Sohn des christlichen Ladeninhabers. Als sich dann seine älteste Schwester und ein christlicher Junge von der anderen Straßenseite ineinander verliebten, war das der Beginn einer dramatischen Eskalation. Denn eine Jüdin, die einen Christen heiratet, wurde nach den rigiden Glaubensregeln strenggläubiger Juden von ihrer Familie verstoßen und für tot erklärt. So auch Harrys Schwester, die sich der zwangsweisen Einschiffung nach Amerika entzog und heimlich ihren Freund heiratete.
Und doch schlug diese Liebe eine erste Bresche in die Mauer zwischen den Kulturen. Bernstein beschreibt eindrucksvoll, wie Menschen, wenn sie sich nicht mehr vorrangig als Zugehörige einer bestimmten kulturellen oder religiösen Gruppe betrachten, sondern sich als Individuen mit ganz unterschiedlichen Interessen und Eigenschaften begegnen und erleben, zu einer Verständigung fähig sind. Der Clash of Cultures ist nicht Schicksal, sondern kann überwunden werden - in einer kleinen Straße in einer Industriestadt in Lancashire vor beinahe einem Jahrhundert ebenso wie vielfach an vielen Orten dieser Welt.
Harry Bernstein schreibt, mittlerweile 96-jährig, bereits an der Fortsetzung seiner Geschichte - im melting pot Amerika.

Winfried Kretschmer ist leitender Redakteur und Geschäftsführer bei changeX.

Harry Bernstein:
Gegenüber eine andere Welt.
Eine Kindheit,

Econ Verlag, Berlin 2007,
333 Seiten, 19,95 Euro,
ISBN 978-3-430-30015-5
www.ullsteinbuchverlage.de/econ

© changeX [24.08.2007] Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.


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: Gegenüber eine andere Welt. . Eine Kindheit. . Econ Verlag, Berlin 1900, 333 Seiten, ISBN 978-3-430-30015-5

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Winfried Kretschmer
Kretschmer

Winfried Kretschmer ist Chefredakteur und Geschäftsführer von changeX.

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