Zukunftsliteratur 2020

Die Bücher des Jahres ausgewählt von pro zukunft und changeX
Redaktion: Katharina Kiening (pro zukunft), Winfried Kretschmer (changeX)

Jedes Jahr stellen wir Anfang Dezember die inspirierendsten Bücher des zurückliegenden Jahres vor. Nun schon zum dritten Mal als Top Ten der Zukunftsliteratur, gemeinsam ausgewählt mit den Autoren von pro zukunft, dem Magazin der Robert-Jungk-Bibliothek für Zukunftsfragen in Salzburg. Ziel unserer Kooperation: Heterogenität und Perspektivenvielfalt erhöhen, indem wir unsere Sichtweisen zusammenwerfen. Hier ist unsere Auswahl der Toptitel der Zukunftsliteratur im Jahr 2020: Sachbücher, die gesellschaftliche Entwicklungen kritisch reflektieren und neue Zukunftsperspektiven eröffnen.

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Hier die Bücher, alphabetisch nach Autorïn sortiert.
 

Nachhaltige Nicht-Nachhaltigkeit von Ingolfur Blühdorn et al. (transcript Verlag): Warum will die ökologische Wende nicht gelingen? Ingolfur Blühdorn liefert mit seinen Co-Autorinnen und -Autoren eine sozialwissenschaftlich fundierte Antwort: Weil unsere Vorstellungen von Freiheit und einem guten Leben der Idee der Nachhaltigkeit diametral entgegenstehen. Deswegen sei das einzig Nachhaltige die Nicht-Nachhaltigkeit. Das Buch stellt nicht nur grundlegende Annahmen der Nachhaltigkeitsdebatte infrage, sondern hat auch eine Antwort auf das Nachhaltigkeitsdilemma parat: Notwendig sei ein attraktives Gegenmodell einer besseren Welt - und dessen nachhaltige Vermittlung.
 

Unsichtbare Frauen von Caroline Criado-Perez (btb Verlag): Es gibt eine "Gender Data Gap". Frauen kommen in den Daten, die in der Gesellschaft erhoben werden und die politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen zugrunde liegen, nicht vor. Caroline Criado-Perez, die diesen Missstand fulminant aufdeckt, hat zugleich einen verblüffend einfachen Lösungsansatz parat: die Frauen fragen! Und so ihrer Sicht Geltung verschaffen. Die Autorin liefert ein eindrucksvoll recherchiertes Sachbuch, das für alle relevant ist, die unsere Welt gerechter machen wollen.
 

Die verkannten Grundlagen der Ökonomie von Riane Eisler (Büchner-Verlag): Schon 2007 ist Riane Eislers Buch erschienen. Jetzt liegt es endlich ins Deutsche übersetzt vor, und ist aktueller denn je. Eisler wendet sich gegen das Ausblenden von Fürsorge und Care-Arbeit in der etablierten Wirtschaftstheorie und -praxis. Ihr Modell einer "Caring Economy" rückt diese, meist unbezahlte und von Frauen verrichtete Arbeit wieder ins Zentrum. Damit verändern sich die Vorzeichen des Wirtschaftens: Füreinander da sein wird wichtiger als Erwerbsstreben. Fürsorge wichtiger als Konkurrenz. Hier gelte es, politisch und individuell anzusetzen. Eislers Modell einer "realitätstauglichen Wirtschaft" ist brennend aktuell für die Gestaltung der Post-Corona-Ökonomie.
 

Unsere Welt neu denken von Maja Göpel (Ullstein Verlag): Mit sicherem Gespür für die großen Entwicklungslinien und eindrücklichen Bilder erklärt die System- und Nachhaltigkeitsforscherin Maja Göpel den Wandel der Welt, die, so ihre These, heute in einer neuen Realität angekommen ist. Wir müssten lernen, "in einer vollen Welt zu wirtschaften, auf einem einzigen Planeten, mit begrenzten Ressourcen". Diese Einladung, die Welt neu zu denken, sollten wir annehmen - jeder und jede für sich, und die Gesellschaft für alle.
 

102 grüne Karten zur Rettung der Welt von KATAPULT (Suhrkamp Verlag): Ergebnisse der Sozialwissenschaften in Form von vereinfachten Infografiken und Karten darzustellen, ist der Ansatz des Magazins KATAPULT. Nun zum zweiten Mal auch in Buchform. Diesmal im Mittelpunkt: Klima und Umwelt. Wieder lädt der Band zum Lachen und Nachdenken ein. Amüsante, scheinbar belanglose Grafiken wechseln sich mit erschreckend wachrüttelnden ab. Wie hier Wissen aufbereitet wird, überzeugt. Weil es eine neue Art der Vermittlung, eine andere Art der Klimakommunikation ist.
 

Politische Philosophie der Tierrechte von Bernd Ladwig (Suhrkamp Verlag): Der hohe Fleischkonsum in unserer Gesellschaft steht zu Recht in der Kritik. Dieses Buch hebt nun die Debatte über den Tellerrand einer reinen Ernährungsfrage. Es geht um Tierrechte. Um die Klärung des moralischen Status von Tieren. Und um Rechtspflichten von Menschen gegenüber Tieren. Diese Publikation kontextualisiert die vielen Debatten rund um Mensch-Tier-Beziehungen in eine politische Theorie, die sich sowohl durch Radikalität als auch durch Augenmaß auszeichnet.
 

Zusammenhänge von Wolf Lotter (Edition Körber): Die Welt ist so komplex geworden, dass wir lernen müssen, sie neu zu verstehen. Das ist der Ansatz des neuen Buchs von Wolf Lotter. Es will zeigen, wie sich in unserer unübersichtlich gewordenen Welt Zusammenhänge neu herstellen lassen, ohne die Komplexität dieser Welt zu verleugnen. Denn bisher sei Komplexität nur verschieden reduziert worden, nun gehe es darum, sie zu erschließen. Das aber erfordert eine "Generalinventur unserer Weltsicht". Wir müssen neu lernen, in Zusammenhängen zu denken, so der Appell Lotters.
 

(Ent-)Demokratisierung der Demokratie von Philip Manow (Suhrkamp Verlag): Ist die Demokratie wirklich im Krisenmodus? Warum feiern populistische Parteien gerade jetzt Erfolge? Philip Manow argumentiert, dass wir es weniger mit einer Krise der Demokratie als einer Krise der Repräsentation zu tun haben. Die besteht darin, dass Menschen oder Teile der Bevölkerung sich nicht gehört, nicht verstanden und im System der politischen Willensbildung nicht repräsentiert fühlen. Ein Buch, das einlädt, die oft beklagte Krise der Demokratie mit anderen Augen zu sehen.
 

Das neue Land von Verena Pausder (Murmann Publishers): Verena Pausder, eines der bekanntesten Gesichter der Gründerszene in Deutschland, hat ein Manifest für den Wandel geschrieben. Es ist ein Appell, dieses Land zukunftsfähiger zu machen. Nun endlich anzufangen damit. Und es ist ein Plädoyer für eine neue Haltung, an Probleme ranzugehen: mit vielen kleinen Schritten, statt auf die perfekte, mit allen abgestimmte Lösung zu warten. Mit diesem Gestus erörtert die Autorin die zentralen Themen des Wandels: Innovationen fördern, Bildung neu denken, Digitalisierung voranbringen, Gleichberechtigung leben, die Work-Life-Balance neu austarieren, Start-ups gründen, Klima schützen, Chancengerechtigkeit für alle realisieren - das alles beinhaltet der Entwurf einer neuen Gesellschaft, den Pausder kurzweilig skizziert. Prägnant, präzise und auf den Punkt gebracht.
 

Capriccio von Hans A. Wüthrich (Versus Verlag/Vahlen Verlag): Führung heute fordert heraus. Denn sie führt ins Unbekannte. Neue Wege abseits ausgetretener Pfade zu suchen, erfordert Mut und Risikobereitschaft. "Experimentelle Führung" nennt das der Managementforscher Hans A. Wüthrich. Das bedeutet, sich auf Handeln unter Ungewissheit einzulassen: auf Lernen unter Realbedingungen, auf versuchsweises Vorgehen in kleinen Schritten. Erschienen vor der Coronakrise vermittelt dieses lesenswerte Buch dennoch viel Lehrreiches über die derzeitige Lage, deren zentrales Kennzeichen eben Ungewissheit und Nichtwissen sind.
 


Die Bücher, in Kurzrezensionen vorgestellt


Nachhaltig nicht-nachhaltig 

Nachhaltige Nicht-Nachhaltigkeit von Ingolfur Blühdorn u.a. 

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Er bleibe Optimist, aber als Sozialwissenschaftler versuche er, die Dinge nüchtern zu analysieren, schreibt Ingolfur Blühdorn, der hier mit Kolleginnen und Kollegen seine Skepsis in Bezug auf den ökologischen Wandel begründet. Die mangelnde Steuerungsfähigkeit unserer komplexen ausdifferenzierten Gesellschaften, bestehende Herrschaftsverhältnisse in unserem Wirtschaftssystem oder zu wenig Aufklärung mögen Gründe dafür sein, dass die ökologische Wende nicht gelingt. Der entscheidende Punkt sei jedoch, dass unsere Vorstellungen von Freiheit und einem guten Leben der Nachhaltigkeit diametral entgegenstehen. Und diese Vorstellungen seien unverhandelbar, der gebotene Wandel sei daher nicht mehrheitsfähig. Deswegen sei das einzig Nachhaltige eben die Nicht-Nachhaltigkeit. Das Buch argumentiert, dass es in unserer Gesellschaft einen breiten Konsens gebe, keine Abstriche bei der eigenen Lebensweise machen zu wollen. So sei die Verschärfung der Krise unausweichlich. Notwendig sei ein attraktives Gegenmodell einer besseren Welt - und dessen nachhaltige Vermittlung. Von Stefan Wally
 

Die Frauen fragen 

Unsichtbare Frauen von Caroline Criado-Perez 

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Es geht um Systeme und Prozesse, die von Männern geschaffen wurden. Und es geht vor allem darum, wie die Ignoranz der weiblichen Perspektive in diesen Systemen vorerst das Leben der Frauen in unserer Welt gefährlicher, einsamer, unglücklicher und sogar tödlicher macht. Darüber hinaus führt sie zu schlechteren politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Entscheidungen. Die zentrale These des Buchs ist, dass "eine geschlechterbezogene Lücke in den wissenschaftlichen Daten, eine "Gender Data Gap" existiert, und dass eben diese Lücke eine "dezidiert weibliche Form" hat. In dem, was folgt, schreibt Criado-Perez ein eindrucksvoll recherchiertes Sachbuch, das für alle relevant ist, die unsere Welt gerechter machen wollen. In sechs gesellschaftlichen Bereichen (Alltag, Arbeit, Design, Medizin, Politik, Krisen) prüft die Autorin umfassend die wissenschaftliche Datenlage und zeigt auf, dass uns geschlechterspezifische Daten fehlen - was in der Konsequenz häufig zu schlechteren Entscheidungen führt. Ein Buch, das zum Nach- und Weiterdenken sowie zum Dialog anregt. Von Martin Fladerer
 

Eine Ökonomie der Fürsorge 

Die verkannten Grundlagen der Ökonomie von Riane Eisler 

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Ökonomie kommt von oikos. oikos, das war die Haus- und Wirtschaftsgemeinschaft der Menschen im alten Griechenland. Als Modell für heute taugt diese Form des Wirtschaftens nicht. Vor allem, weil der Gedanke der Innovation dieser in sich geschlossenen, selbstgenügsamen Wirtschaftsweise fremd war. Sie war eher auf Erhalt denn auf Verbesserung ausgerichtet. Lehrreich ist aber ein Prinzip, das bis zum Beginn der Industrialisierung Bestand hatte: Zu einer Wirtschaftsgemeinschaft zählen alle Tätigkeiten, die im Rahmen dieser Gemeinschaft verrichtet werden. Das meinten die alten Griechen mit oikos, und das meinte die bis vor der Industrialisierung geläufige Rede vom "ganzen Haus". Mit der industriellen Revolution und zunehmender Arbeitsteilung rückte dann aber die (von Männern geleistete) Erwerbsarbeit ins Zentrum und drängte die häuslichen Tätigkeiten an den Rand. Sie blieben den Frauen als unbezahlte Arbeit. 

Dies sind "die verkannten Grundlagen der Ökonomie", von denen die Sozial- und Systemwissenschaftlerin Riane Eisler spricht: die ganzen Tätigkeiten, die mit Sorge, mit Care, zu tun haben. Und die entscheidend sind für die Gesellschaft: "Ohne Fürsorge und Care-Arbeit gäbe es keinen von uns. Es gäbe keine Privathaushalte, keine Arbeitskräfte, keine Wirtschaft - nichts davon. Und dennoch wird Fürsorge und Care-Arbeit in kaum einer der aktuellen Wirtschaftsdebatten auch nur erwähnt." In ihrem Buch, das 2007 bereits erschienen ist und nun auf Deutsch vorliegt, wendet sich Eisler gegen "das Ausblenden von Fürsorge und Care-Arbeit in der etablierten Wirtschaftstheorie und -praxis". Ihr Entwurf einer Caring Economy rückt nun diese, heute meist unbezahlte und von Frauen verrichtete Arbeit wieder ins Zentrum. Damit verändern sich die Vorzeichen des Wirtschaftens: Füreinander da sein wird wichtiger als Erwerbsstreben. Fürsorge wichtiger als Konkurrenz. Auf individueller Ebene beinhaltet dieser Entwurf die Chance, die Trennung der Lebenssphären wieder aufzuheben. Ein brennend aktueller Gedanke für die Gestaltung der Post-Corona-Ökonomie. Von Winfried Kretschmer
 

Eine neue Realität 

Unsere Welt neu denken von Maja Göpel 

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Einer breiteren Öffentlichkeit bekannt geworden ist Maja Göpel, als sie im März 2019 vor der Bundespressekonferenz die Initiative Scientists for Future vorgestellt hat. Als Generalsekretärin des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) ist die 1976 geborene Politikökonomin eine der renommiertesten Klimaexperten in Deutschland. Gleichwohl ist sie keine Natur-, sondern eine Gesellschaftswissenschaftlerin mit Schwerpunkt gesellschaftliche Transformation. Ihr besonderes Augenmerk gilt den großen verbindenden Leitbildern, die den Möglichkeitsraum für die Entwicklung von Gesellschaften abstecken und (im Rückblick) diese erst verständlich machen. Mit Blick auf die Zukunft braucht es ein solches Leitbild, wenn die Entwicklung einer Gesellschaft sich nicht im Blindflug vollziehen soll. 

Das ist das Thema von Maja Göpels erstem populären Sachbuch Unsere Welt neu denken, mit dem ihr gleich ein großer Wurf gelungen ist. Unaufgeregt, aber mit klarer Haltung und einem sicheren Gespür für die großen Entwicklungslinien und eindrücklichen Bilder erklärt sie den Wandel der Welt, die, so ihre These, heute in einer neuen Realität angekommen ist. Das Verhältnis von Mensch und Natur habe sich grundlegend geändert, so Göpel in Anlehnung an ein Bild des Ökonomen Herman Daly: Wir lebten nicht mehr in einer "leeren Welt", die unserer Expansion offensteht, sondern in einer "vollen Welt", in der Ressourcen und Entwicklungsmöglichkeiten beschränkt sind: "Will die Menschheit nicht ihren eigenen Zusammenbruch herbeiführen, muss sie lernen, in einer vollen Welt zu wirtschaften, auf einem einzigen Planeten, mit begrenzten Ressourcen. Das ist eine neue Realität." 

Diese neue Realität anzuerkennen bedeutet, dass unsere Gesellschaften ihr Verständnis von Wohlstand und Fortschritt neu verhandeln müssen. Und zwar in einer Weise, die nicht ein Prinzip absolut setzt (siehe Wachstum), nicht das eine gegen das andere ausspielt (Ökologie gehen Soziales), sondern verbindet, was bisher getrennt gedacht wurde. Gewohnte Denkschablonen verlassen, scheinbar unumstößliche Modelle und Weltsichten hinterfragen, neue Perspektiven eröffnen, Themen aus neuen Blickwinkeln betrachten und - insbesondere - genau hinschauen und uns dem Ernst der Lage stellen, so lässt sich die Aufforderung der System- und Nachhaltigkeitsforscherin zusammenfassen. Die Einladung, die Welt neu zu denken, sollten wir annehmen - jeder für sich und die Gesellschaft für alle. Von Winfried Kretschmer mit Hans Holzinger
 

Die Sicht auf die Welt verändern 

102 grüne Karten zur Rettung der Welt von KATAPULT 

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KATAPULT ist jenes Magazin, das Statistiken und Sozialwissenschaft in Form von vereinfachten Infografiken und Karten darstellt. Das Team rund um Chefredakteur Benjamin Fredrich macht so wissenschaftliche Forschungsergebnisse einfach zugänglich - seit 2016 sehr erfolgreich im Zeitschriftenformat. 2019 erschien dann mit 100 Karten, die deine Sicht auf die Welt verändern das erste Buch, auch sehr erfolgreich, nun liegt mit 102 grüne Karten zur Rettung der Welt das zweite vor. Diesmal geht es um Klima und Umwelt. Und wieder lädt der Band zum Lachen und Nachdenken ein. Amüsante, scheinbar belanglose Grafiken wechseln sich mit erschreckend wachrüttelnden ab: Wir wissen jetzt zum Beispiel, dass es in Kanada eine Insel in einem See auf einer Insel in einem See auf einer Insel gibt. Oder dass Baumringe fast so aussehen wie Fingerabdrücke. Außerdem wird gezeigt, wo weltweit aktive Kohlekraftwerke stehen, wo Aufforstung möglich wäre und dass die größte Müllinsel (Great Pacific Garbage Patch) viereinhalbmal so groß wie Deutschland ist. Wie hier Wissen aufbereitet wird, überzeugt. Weil es eine neue Art der Vermittlung, eine andere Art der Klimakommunikation ist. Und vor allem schafft KATAPULT mittels Überraschung und Humor, Menschen miteinander ins Gespräch zu bringen. Von Katharina Kiening
 

Philosophie der Mensch-Tier-Beziehungen 

Politische Philosophie der Tierrechte von Bernd Ladwig 

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Bernd Ladwig, Professor für politische Theorie und Philosophie in Berlin, legt ein gehaltvolles Werk zu Tierrechten vor. Er beginnt mit einer Bestandsaufnahme tierischer Unterwerfung unter menschliche Bedürfnisse. Diese Unterwerfung ist institutionalisiert; die industrielle Fleischproduktion ist das beste Beispiel dafür. Diese Institutionalisierung von Tierleid ist das zentrale Argument für eine politische Philosophie der Tierrechte. Eine solche entwickelt der Autor in zwei Schritten: mit der Klärung des moralischen Status von Tieren und mit Fragen zu Rechtspflichten von Menschen gegenüber Tieren. Am Ende seiner Ausführungen spricht sich der Autor für einen radikalisierten Tierschutz mit Differenzierungen aus. Um einen solchen umzusetzen, braucht es zivilgesellschaftliches Engagement bis hin zum zivilen Ungehorsam, solange dieser wirklich den Interessen von Tieren nützt. Gewaltlosigkeit bleibt dabei oberstes Prinzip, ebenso wie die Dialogfähigkeit. Ladwigs Buch kontextualisiert so die mannigfaltigen Debatten rund um Mensch-Tier-Beziehungen in eine politische Theorie, die sich sowohl durch Radikalität als auch durch Augenmaß auszeichnet. Von Birgit Bahtić-Kunrath
 

Generalinventur unserer Weltsicht 

Zusammenhänge von Wolf Lotter 

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Wenn viele Menschen meinen, die Welt nicht mehr zu verstehen - liegt das dann an der Welt oder an der Denkweise, mit der sie zu verstehen versuchen? Auf jeden Fall ist etwas verloren gegangen: das Gefühl, in Einklang mit der Welt zu sein. Der Zusammenhang zwischen Ich und Welt. Zusammenhänge heißt das neue Buch von Wolf Lotter, und es will zeigen, wie diese sich in unserer unübersichtlich gewordenen Welt (wieder) herstellen lassen, ohne deren Komplexität zu verleugnen. Denn Komplexität ist die entscheidende Kategorie. Die Tür zum Verständnis der Welt. Bisher wurde Komplexität nur verschieden reduziert, es geht aber darum, sie zu erschließen - das ist der wohl zentrale Gedanke des Buchs. Der Schlüssel dafür ist Kontextkompetenz. Denn Wissen entfaltet sich nur in Kontexten, in Zusammenhängen. "Kontextkompetenz heißt, Komplexität zu erschließen, sie lauffähig zu machen für sich und für andere", schreibt Lotter, der mit seinen Büchern und brand eins-Grundsatzartikeln zum Vordenker der Entwicklung von der alten Industriegesellschaft hin zur neuen Wissensgesellschaft geworden ist. Diese Transformation von der Industrie- zur Wissensgesellschaft bildet auch den großen Rahmen, in dem der Autor sein Thema aufhängt. Diese Transformation führt dazu, dass unser überkommenes Denken nicht mehr zu der sich verändernden Welt passt. Es brauche daher eine "Generalinventur unserer Weltsicht". Und das bedeutet zuallererst, Komplexität anzuerkennen, verlangt aber auch ein Verständnis dafür, warum diese Denkweise an ihre Grenzen stößt. Beides will Lotters Buch vermitteln. Das gelingt. Von Winfried Kretschmer
 

Eine Krise der Repräsentation 

(Ent-)Demokratisierung der Demokratie von Philip Manow 

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Vielfach wird heutzutage über die Krise der Demokratie diskutiert. Doch ist die Demokratie wirklich im Krisenmodus? Warum feiern populistische Parteien gerade jetzt Erfolge? Philip Manow zeigt in seinem Buch, dass Populismus nicht immer anti-demokratisch sein muss, und dass Globalisierung und Denationalisierung wichtige Erklärungsfaktoren für den Erfolg dieser Bewegungen sind. Manow erkennt weniger eine Krise der Demokratie als eine der Repräsentation. Die darin besteht, dass Menschen oder Teile der Bevölkerung sich nicht gehört oder verstanden fühlen und im System der politischen Willensbildung nicht repräsentiert sehen. Dass es zu einer Krisenwahrnehmung komme, sei dem Versagen der Mitte geschuldet, aber nicht dem Populismus: "Die Populisten sind nicht das Problem der repräsentativen Demokratie. Sie zeigen nur an, dass sie eines hat." Manow beanstandet somit, dass sich entsprechende Kritikerinnen und Kritiker am Populismus abarbeiten, die aktuellen Schwächen der repräsentativen Demokratie aber nicht erkennen und thematisieren würden. Ein Buch, das einlädt, die oft beklagte Krise der Demokratie mit anderen Augen zu sehen. Von Birgit Bahtić-Kunrath
 

Anfangen, schauen, weitermachen 

Das neue Land von Verena Pausder 

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Vollkommen zu Recht wurde dieses Buch beim Deutschen Wirtschaftsbuchpreis 2020 als "Unternehmerbuch des Jahres" ausgezeichnet. Verena Pausder, eines der bekanntesten Gesichter der Gründerszene in Deutschland (so der Verlag), hat ein Manifest für den Wandel geschrieben. Es ist ein Appell, dieses Land zukunftsfähiger zu machen, nun endlich anzufangen damit. Anzufangen, darum geht es. Es ist vor allem eine andere, neue Haltung, an Probleme ranzugehen: mit vielen kleinen Schritten, statt auf die perfekte, mit allen abgestimmte Lösung zu warten. Dieses iterative Vorgehen, dieses versuchsweise Handeln ist es, was dieses Buch auszeichnet. Das verlangt die Bereitschaft, ein Risiko einzugehen und Fehler machen zu dürfen, und ist verbunden mit dem Eingeständnis, Komplexität oftmals nicht beherrschen zu können. Fehler sind dabei keine Fehler, sondern Teil der Vorgehensweise, sind Bedingung des Lernens. Das spiegelt sich auch im Buch. Es ist kein ziselierter, ausgefeilter Sachbuchtext. Sondern eine Rede, eher hingeworfen wirkend und gestaltet wie ein Manuskript, mit Absätzen und Pausen und großer Typo. 

Mit diesem Gestus erörtert die Autorin die zentralen Themen des Wandels: Innovationen fördern, Bildung neu denken, Digitalisierung voranbringen, Gleichberechtigung leben, die Work-Life-Balance neu austarieren, Start-ups gründen, Klima schützen, Chancengerechtigkeit für alle realisieren - das alles beinhaltet der Entwurf einer neuen Gesellschaft, den Pausder kurzweilig skizziert. Kurz, prägnant, präzise und auf den Punkt. So kann das kürzeste Kapitel des Buches selbst in dieser Kurzrezension komplett zitiert werden. Es behandelt die Klimapolitik. Und die geht so: "Das Leitinstrument der Klimapolitik im Neuen Land ist der CO2-Preis. | Und der Preis für eine Tonne CO2 | beträgt ab morgen 50 Euro | und steigt bis 2030 auf 130 Euro an." Anfangen, schauen, weitermachen. Von Winfried Kretschmer
 

Experimentelle Führung 

Capriccio von Hans A. Wüthrich 

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Capriccio. In der Kunstgeschichte bezeichnet dieser Begriff all das, was dem Kunstkanon der Zeit widerspricht. Wenn Hans A. Wüthrich diesen Terminus nun in die Managementlehre einführt, zielt er genau auf diese Bedeutung: eine Führung, die sich nicht einfügt in den Kanon der tradierten und geltenden Managementnormen. Die sich dem widersetzt. Es geht also wieder um Wüthrichs Lebensthema, den Musterbruch. Den absichtlichen, lustvollen Regelverstoß, die fantasievolle, spielerische und freche Überschreitung der Normen, für die der Begriff Capriccio in der Kunsttheorie steht. Es geht um "ver-rückte und experimentelle Führung", wobei man den Bindestrich in "ver-rückt" nicht überlesen (nicht: verrückt) und das Augenmerk auf den Begriff "experimentell" legen sollte. "Experimentell" meint, sich auf versuchsweises Handeln unter Ungewissheit einzulassen: auf Lernen unter Realbedingungen statt Best Practice von der Stange, auf versuchsweises Vorgehen in kleinen Schritten statt des Ausrollens eines Masterplans. 

Der Autor benennt dabei drei Megakompetenzen, die Unternehmen zukunftsfähig machen sollen: erstens das Finden viabler Lösungen, also von Lösungen, die gangbar, passend, brauchbar statt perfekt sind, zweitens die Mobilisierung dezentraler Intelligenz im Sinne von Selbstorganisation und drittens die Erhöhung organisationaler Resilienz als Fähigkeit, mit überraschenden Störungen selbstregulierend umzugehen. Eine solche Führung abseits ausgetretener Pfade fordert die Führenden im besonderen Maße. Denn sie führt ins Unbekannte. Das erfordert Mut und Risikobereitschaft. Dieses sehr lesenswerte Buch gibt Handreichungen für Verantwortliche in Organisationen, die zu dieser Souveränität des Handelns finden wollen. Erschienen vor der Coronakrise vermittelt es dennoch viel Lehrreiches über die derzeitige Lage, deren zentrales Kennzeichen eben Ungewissheit und Nichtwissen sind. Von Winfried Kretschmer
 


Zitate


"Bioprodukte zu essen ist gut, aber wer das Klima retten will, sollte lieber wählen gehen." Ingolfur Blühdorn et al.: Nachhaltige Nicht-Nachhaltigkeit

"Die Datenlücke (…) lässt sich recht einfach schließen, nämlich indem man die Frauen fragt." Caroline Criado-Perez: Unsichtbare Frauen

"Ohne Fürsorge und Care-Arbeit gäbe es keinen von uns. Es gäbe keine Privathaushalte, keine Arbeitskräfte, keine Wirtschaft - nichts davon. Und dennoch wird Fürsorge und Care-Arbeit in kaum einer der aktuellen Wirtschaftsdebatten auch nur erwähnt." Riane Eisler: Die verkannten Grundlagen der Ökonomie

"Will die Menschheit nicht ihren eigenen Zusammenbruch herbeiführen, muss sie lernen, in einer vollen Welt zu wirtschaften, auf einem einzigen Planeten, mit begrenzten Ressourcen. Das ist eine neue Realität." Maja Göpel: Unsere Welt neu denken

"In diesem Buch findet ihr keine Handlungsanweisungen, keine Tipps, keine Top Ten der besten Umweltschutzaktivitäten. KATAPULT verzichtet darauf und liefert nur Fakten." KATAPULT: 102 grüne Karten zur Rettung der Welt

Über Tiere: "Wir konsumieren sie, weil uns der Geschmack zusagt, aus Gewohnheit oder ähnlich schwachen Gründen." Bernd Ladwig: Politische Philosophie der Tierrechte

"Wissen ist eine Frage des Kontextes, des Zusammenhangs. Wissen ist Kontext, es strebt nach Beziehungen. Zusammenhänge machen die Welt aus." Wolf Lotter: Zusammenhänge

"Die Populisten sind nicht das Problem der repräsentativen Demokratie. Sie zeigen nur an, dass sie eines hat." Philip Manow: (Ent-)Demokratisierung der Demokratie

"Das Ziel zu erreichen bedarf vieler, kleiner iterativer Schritte, vieler Meilensteine und überschaubarer Arbeitspakete. Einfach mal anfangen, statt zu lange darüber zu sprechen. Das ist die neue Haltung." Verena Pausder: Das neue Land

"Organisationen sind gut beraten, ihre jeweils eigene Form der zukünftigen Führung und Managementarchitektur zu (er)finden und Führungsexzellenz in einem nie endenden Experimentierprozess zu erreichen." Hans A. Wüthrich: Capriccio

 

changeX 09.12.2020. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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Quellenangaben

Zu den Büchern

: Nachhaltige Nicht-Nachhaltigkeit. Warum die ökologische Transformation der Gesellschaft nicht stattfindet. transcript Verlag, Bielefeld 2020, 334 Seiten, 19.99 Euro (D), ISBN 978-3-8376-4516-3

Nachhaltige Nicht-Nachhaltigkeit

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: Unsichtbare Frauen. Wie eine von Daten beherrschte Welt die Hälfte der Bevölkerung ignoriert. btb Verlag, München 2020, 496 Seiten, 15 Euro (D), ISBN 978-3-442-71887-0

Unsichtbare Frauen

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: Die verkannten Grundlagen der Ökonomie. Wege zu einer Caring Economy. Büchner-Verlag, Marburg 2020, 234 Seiten, 22 Euro (D), ISBN 978-3-96317-215-1

Die verkannten Grundlagen der Ökonomie

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: Unsere Welt neu denken. Eine Einladung. Ullstein Verlag, Berlin 2020, 208 Seiten, 17.99 Euro (D), ISBN 978-3-550200793

Unsere Welt neu denken

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: 102 grüne Karten zur Rettung der Welt. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020, 203 Seiten, 22 Euro (D), ISBN 978-3-518-47083-1

102 grüne Karten zur Rettung der Welt

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: Politische Philosophie der Tierrechte. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020, 411 Seiten, 22 Euro (D), ISBN 978-3-518-29915-9

Politische Philosophie der Tierrechte

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: Zusammenhänge. Wie wir lernen, die Welt wieder zu verstehen. Edition Körber, Hamburg 2020, 296 Seiten, 20 Euro (D), ISBN 978-3-89684-281-7

Zusammenhänge

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: (Ent-)Demokratisierung der Demokratie. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020, 160 Seiten, 16 Euro (D), ISBN 978-3-518-12753-7

(Ent-)Demokratisierung der Demokratie

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: Das neue Land. Wie es jetzt weitergeht. Murmann Publishers, Hamburg 2020, 200 Seiten, 20 Euro (D), ISBN 978-3-86774-655-7

Das neue Land

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: Capriccio. Ein Plädoyer für die ver-rückte und experimentelle Führung. Verlage Vahlen und Versus, München und Zürich 2020, 157 Seiten, 22.90 Euro (D), ISBN 978-3-8006-6253-1

Capriccio

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