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Wenn’s die Masse macht

Christian Rauch über Schwarmintelligenz und Schwarmdummheit
Text: Christian Rauch

Das Web-2.0-Zeitalter hat bewiesen: Die Masse kann kreativer und intelligenter sein als Einzelne. "Crowds" können Produkte designen, Prognosen erstellen und Projekte finanzieren. Doch ohne Anreiz und Pflege verursacht die Masse Schaden - manchmal auch absichtlich …

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Den klügsten Köpfen ist die Masse meist suspekt. "Der Irrsinn ist bei Einzelnen etwas Seltenes - aber bei Gruppen, Parteien, Völkern, Zeiten die Regel", urteilte etwa Friedrich Nietzsche; und zwei Weltkriege bald danach schienen ihm recht zu geben. Gustave Le Bons Psychologie der Massen und Vance Packards Die geheimen Verführer gaben den klugen (oder rücksichtslosen) Einzelnen das Handwerkszeug, um die dummen Vielen zu manipulieren. "Zehn Deutsche sind natürlich dümmer als fünf Deutsche", knurrte 1991 schließlich der Dramatiker Heiner Müller, weil seine ostdeutschen Landsleute sich nach dem Sturz des Kommunismus jubelnd dem Kapitalismus ergeben hatten.  

Doch das 21. Jahrhundert brachte eine Renaissance der Masse. "Die Menge entscheidet in der Regel intelligenter und effizienter als der klügste Einzelne in ihren Reihen", stellte der US-Journalist James Surowiecki 2004 in seinem Buch Die Weisheit der Vielen klar. Die Kommunikationsrevolution und insbesondere das Internet führten dazu, dass eine Masse aus vielen Nutzern, die sogenannte Crowd, kollektive Intelligenz entwickeln kann. So haben sich bis heute viele Spielarten herausgebildet: Crowdsourcing, Crowdvoting, Crowdfunding oder Crowdcreation. Die "Weisheit der Vielen" soll bessere Ideen und Ergebnisse bringen - bei Prognosen und Trends, bei Spendenbereitschaft und Projektfinanzierung, bei wissenschaftlichen Auswertungen, Design- und Produktideen.  

Besonders Letzteres ist für Unternehmen verlockend. So beispielsweise Fiat in Brasilien: Bei der Entwicklung des neuen Konzeptautos Mio beteiligten sich mehr als 17.000 Menschen aus über 40 Ländern mit rund 11.000 Ideen. Der Mio wird seitdem gern als "open source car" bezeichnet, und in der Tat: Die Analogie zur verteilten und freien Entwicklung von Software ist unübersehbar. "Open Source" ist längst ein Klassiker im Bereich kollektive Intelligenz.  


Blutwurst-Schokolade


Doch natürlich garantiert Masse allein noch keine Intelligenz. So konnte sich der deutsche Schokoladenhersteller Ritter Sport über rege Beteiligung an einem Crowdsourcing-Projekt freuen, bei dem jeder im Web Vorschläge für neue Geschmacksrichtungen und Verpackungsdesigns machen durfte. Doch plötzlich geisterten gefälschte Ritter-Sport-Produkte durch das Netz: "Döner-Kebap mit ,ein bisschen‘ scharf", "Blutwurst mit 50 % Blut" oder "Zwiebelmett" etwa. Das Unternehmen trug es mit Fassung, mahnte niemanden ab, sondern nahm die fürchterlichen Geschmacksbeispiele in seinen Blog auf und kommentierte sie humorvoll.  

Ein weniger glückliches Händchen bewies der Waschmittelriese Henkel. Über Facebook rief der Konzern dazu auf, Design-Ideen für die Pril-Flasche einzureichen, und versprach, die Vorschläge mit den meisten Stimmen in den Handel zu bringen. Als der Vorschlag eines "Spülmittels mit Grillhähnchen-Geschmack" von der Crowd an die Spitze gevotet wurde, stellte Henkel jedoch klar, dass nachträglich eine Jury die Entscheidung treffen werde - das Hähnchen blieb chancenlos. Die Folge: Viele enttäuschte Facebook-Nutzer machten ihrem Ärger Luft, die PR-Aktion ging nach hinten los.  

Im vergangenen Jahr übrigens zog Henkel Lehren aus dem "Grillhähnchen-Fiasko". Als L’Oréal in einem öffentlichen Model-Contest den Vorschlag der Crowd, die 71-jährige Renate ablehnte, war das zwar im Rahmen des zuvor definierten Regelwerks, verärgerte aber dennoch die Teilnehmer. Daraufhin sprang Henkel in die Bresche und sicherte sich die beliebte Renate als das Gesicht des Unternehmens für Haarpflege.  

Während Unternehmen immer unter dem Verdacht stehen, die Masse nur für ihren eigenen Profit zu mobilisieren, können Forschungseinrichtungen und Universitäten damit argumentieren, dass man sich dort für Fortschritt und Erkenntnis engagieren kann. Und sie finden damit große Resonanz: Als die amerikanische Raumsonde Stardust 2006 eine Rückkehrkapsel vom Kometen Wild 2 zur Erde gesandt hatte, scannte die Universität Berkeley 1,5 Millionen Bilder von den Detektorplatten ein und stellte sie ins Web. Seitdem identifiziert eine astronomisch interessierte Crowd mit virtuellen Mikroskopen vom heimischen Bildschirm aus die Spuren des Staubs, die der Komet aus den Tiefen des Weltalls aufgesammelt hat. In einer ähnlichen Projektreihe, "Galaxy Zoo", sollen Hunderttausende Galaxien klassifiziert werden.


Proteinfalter


Sind es bei diesen Projekten eher einfache Routineaufgaben, die an die Crowd verteilt werden, ist bei anderen "Science@Home"-Projekten echte Kreativität gefragt. Im Computerspiel Foldit der Universität Washington geht es darum, Proteine (Eiweißmoleküle) zu "falten". Ein Protein ist aus mehreren Tausend Aminosäuren aufgebaut und kann entsprechend unzählige räumliche Zustände einnehmen. Selbst die leistungsstärksten Computernetzwerke scheitern, wenn es darum geht, bestimmte Zustände zu "falten", die für die medizinische Forschung wichtig sind. Doch menschliche Intuition und Spieltrieb, multipliziert auf eine Crowd und gepaart mit Computerspiel-Algorithmen und einem Highscore, ermöglichten, was reine Logik nicht vermag: Unter mehr als 200.000 Mitspielern gelang es zuletzt einem Team, die Proteinstruktur eines Virus zu rekonstruieren, das Aids bei Rhesusaffen auslöst - ein unschätzbarer Vorteil bei der Entwicklung von Medikamenten gegen die Immunschwächekrankheit. Zehn Jahre war mit klassischen Forschungsmethoden vergeblich versucht worden, das Rätsel des Virus zu lösen. Und so prophezeit der preisgekrönte Wissenschaftsjournalist Gareth Cook mit Foldit bereits einen Paradigmenwechsel zur "Citizen Science", in welcher die traditionelle Wissenschaftselite von einer weltweit verteilten Crowd aus Amateurwissenschaftlern in bahnbrechenden Fragen herausgefordert werden wird.  

Plattformen wie Blue Patent und Peer To Patent nutzen ihre Crowd, um Patentrechtsverletzungen aufzuzeigen. Attackiert werden sollen allerdings auch bestehende Patente, die womöglich zu Unrecht erteilt wurden. Die Grundidee klingt plausibel: In einer immer schnelllebigeren und globaleren Welt haben viele Prüfer gar keine Chance mehr, alle Kriterien bei der Erteilung zu berücksichtigen. Einer weltweit verteilten Crowd hingegen entgeht nichts, "von der verstaubten Doktorarbeit in einer Bibliothek in der Ukraine über die taiwanesische Fachzeitschrift bis hin zum Produktkatalog einer konkurrierenden Firma", so Blue Patent.


Ochsen-Schätzung


Bekannt ist schon seit mehr als 100 Jahren, dass die gebündelte Intuition und Erfahrung vieler Menschen die logischen Fähigkeiten Einzelner weit übertreffen kann. Ein klassisches Experiment hierzu führte im Jahr 1906 der britische Wissenschaftler Francis Galton durch: Auf einer Nutztiershow in Plymouth ließ er 800 Personen das Gewicht eines Ochsen schätzen. Obgleich viele Schätzungen deutlich danebenlagen, betrug der Medianwert am Ende 1.207 Pfund, nur wenige Pfund mehr als das wahre Gewicht. In der Tat liegt besonders der Medianwert bei kollektiven Schätzungen meist richtig, bestätigt Professor Dirk Helbing von der ETH Zürich. Im Unterschied zum Mittelwert, der den gewichteten Durchschnitt aller Aussagen einer Befragung errechnet, sortiert man beim Medianwert alle Aussagen in eine Reihe und wählt den Wert in der Mitte. Vorteil: Extreme "Ausreißer" nach oben oder unten machen sich nicht bemerkbar.  

Im Jahr 2008 stellte das Team der ETH 144 Schweizern konkrete Fragen, zum Beispiel, wie hoch die Bevölkerungsdichte des Landes sei oder wie lang die Grenze zum Nachbarn Italien. Die kollektive Schätzung, die über mehrere Runden wiederholt wurde, funktionierte erwartungsgemäß gut - jedoch nur, solange die einzelnen Teilnehmer nicht wussten, was die anderen dachten. Denn die Vergleichsgruppe, in der die Teilnehmer die Schätzungen der anderen erfuhren, schnitt überwiegend schlechter ab. In einigen Fällen wich der Median nach mehreren Runden sogar deutlich vom richtigen Wert ab. Eine regelrechte "Schwarmdummheit" entstand. Dirk Helbing erklärt den Effekt folgendermaßen: "Durch die Kenntnis der anderen Schätzungen gleicht sich das Individuum an die anderen an. Mit der Zeit rücken die Schätzungen immer mehr zusammen. Es entsteht so etwas wie ein kollektiver ,Tunnelblick‘." Ein solcher "Herdentrieb" mag sich im Laufe der Evolution zwar bewährt haben, bei Crowdvoting-Prozessen aber ist der soziale Einfluss kontraproduktiv. "Es wäre durchaus vorstellbar, dass die Crowd verlässlichere Wirtschaftsprognosen aufstellen kann als kleine Expertengremien", meint Jan Lorenz, der die Studie mit betreute. Doch müsse man Vormeinungen und Beeinflussungen möglichst eliminieren - ein schwieriges Unterfangen, wenn es um gewichtige Zahlen geht, die medial laufend diskutiert und bewertet werden und sich in die Köpfe der Bevölkerung kontinuierlich "einbrennen".


Prognoseplattformen


Einen zusätzlichen Anreiz für möglichst korrekte kollektive Schätzungen bieten elektronische Prognosemärkte. Hier setzen die Teilnehmer Spielgeld auf ihre Prognose. Wer immer nahe an der Wahrheit ist, gewinnt Geld hinzu. Wer immer schlecht schätzt, hat irgendwann sein Spielgeld aufgebraucht und verlässt die Plattform. Besonders gute Schätzer können überdies Preise gewinnen. Zahlreiche große Unternehmen, wie die Deutsche Telekom, laden ihre Mitarbeiter zu elektronischen Prognosemärkten ein, um beispielsweise Absatzchancen neuer Produkte zu prognostizieren. Professor Ryan Riordan vom Karlsruhe Institute of Technology betreut gemeinsam mit dem Handelsblatt eine Prognosebörse, in der Teilnehmer den Wert ökonomischer Indikatoren voraussagen, wie Arbeitslosenzahl oder Bruttoinlandsprodukt. "Wir liegen häufig besser als Bloomberg", erklärt Riordan. Verglichen mit den Expertenmeinungen, die vielfach auch durch Eigeninteresse beeinflusst werden, gehe es den Teilnehmern der Prognosebörse um nichts anderes, als möglichst nahe an der Wahrheit zu sein, denn nur so können sie gewinnen. Spielgeld - und Ansehen.  

Eine Gewinnchance ohne Risiko - diesen smarten Ansatz bieten die Finanzmärkte selbst nicht. Dort kann das Herdenverhalten richtig verhängnisvoll werden, wenn aus dem Verhalten der Anleger-Crowd im schlimmsten Fall Spekulationsblasen und Crashs entstehen. In solchen Szenarien folgen Anleger der Herde nicht nur, weil sie diese für besser informiert oder professioneller halten. Im Zeitalter der Rettungsschirme kann es aus Sicht des Einzelnen auch "vernünftig" sein, der Herde zu folgen, um anschließend vom Staat gerettet zu werden, erklärt Professor Manuel Ammann vom Swiss Institute of Banking and Finance an der Universität St. Gallen. So wurden bei der Intervention durch die Schweizer Nationalbank zur Stabilisierung des Frankens im August 2011 insbesondere diejenigen Exporteure "belohnt", die sich nicht selbst gegen Wechselkursrisiken abgesichert hatten. Neben das bekannte "too big to fail"-Konzept stellt Ammann daher sein "too many to fail"-Konzept und kritisiert, dass zunehmend nicht nur einzelne große Marktakteure, sondern auch "Herden" vieler kleinerer Marktteilnehmer ihre marktverzerrenden Rettungsschirme erhalten.


Projektspenden


Der Herdentrieb - in einem anderen Anwendungsbereich ist er gerade erwünscht. Crowdfunding nämlich funktioniert dann, wenn die Menschen sehen, dass andere bereits Geld investiert haben. Vor mehr als zehn Jahren gründete der US-Musiker Brian Camelio die Plattform ArtistShare, auf der Fans Geld für die Produktion neuer Musikstücke spenden. Bis heute sammeln zahlreiche Crowdfunding-Plattformen Geld für Projekte, die sich sonst vielleicht nicht realisieren ließen. Neben Musikstücken sind es längst auch technische Erfindungen, Entwicklungshilfeprojekte oder Kulturzentren, die ihr Investment aus der Internet-Community beziehen. Der Facebook-Konkurrent Diaspora sammelte 2011 binnen weniger Wochen 200.000 Dollar von mehr als 6.000 Crowd-Spendern, weit mehr als zunächst veranschlagt. Auch Wikipedia gewinnt seit mehr als zehn Jahren nicht nur ihre Inhalte aus der Crowd. Auch das jährliche Budget der Online-Enzyklopädie wird einzig durch Spenden eingesammelt.  

Im Journalismus wird inzwischen ebenfalls mit Crowdfunding experimentiert. Nicht der Chefredakteur, sondern die Crowd entscheidet mit ihren Spenden, welche Themen behandelt und welche Reportagen Wirklichkeit werden sollen. Doch die Crowd kann noch mehr. "Wir wollen Nutzerinnen und Nutzer nicht nur für die Finanzierung gewinnen, sondern auch für Recherchen mobilisieren. Neben das Crowdfunding stellen wir also ein Crowdsourcing von Inhalten und Quellen", erklärt Stefan Hertach aus St. Gallen, Gründer der neuen Crowdfunding-Plattform Media Funders. Er folgt damit ersten Erfolgsbeispielen, etwa bei der britischen Zeitung Guardian. Für sie nahmen 2011 mehr als 10.000 Leser rund 450.000 Abrechnungsbelege von Parlamentariern unter die Lupe, um Missbrauch aufzudecken.  

Plattformen wie Media Funders jedoch haben zum Ziel, mit der "Weisheit der Vielen" die wirklich wichtigen Themen in die Welt zu bringen. Entsprechend sieht die finnische Journalistin Tanja Aitamurto im Crowdfunding einen höheren gesellschaftlichen Wert. Ihrer Erfahrung nach spenden Menschen dann Geld, wenn sie "hochqualitativen Journalismus" unabhängig von den finanziellen Sachzwängen der Verlage ermöglichen wollen. "Die Crowd ermöglicht es dem Journalisten, Bündler und Katalysator zu sein, etwa um gesellschaftliche Missstände aufzuzeigen", so Tanja Aitamurto.  

Eindrucksvoll bewiesen hat das Tomas van Houtryve. Er finanzierte seine Fotoreportage "21st Century Communism - Laos" über die Crowdfunding-Plattform Emphas.is. Statt der benötigten 8.800 Dollar sammelte er mehr als 10.000 ein. Der US-Journalistin Lindsey Hoshaw spendierte die Crowd über die Plattform Spot.us mehr als 6.000 Dollar Reisekosten, um in der New York Times über den pazifischen Müllteppich zu berichten. Obwohl die Zeitung nur einen Bruchteil der Gesamtkosten trug, beanspruchte sie anschließend sämtliche Nutzungsrechte für die Fotos. Ob das der Crowd gefiel?


Verschenken, was man weiß


Sicher ist, dass Projekte mit der Crowd auf Dauer nur erfolgreich sein können, wenn ein transparenter und fairer Umgang mit Ressourcen, Geld und Lizenzen sichergestellt ist. Dies bestätigte jüngst auch eine Studie der Wirtschaftsuniversität Wien. "Wir haben in unseren empirischen Tests den Fairness-Aspekt vom Eigeninteresse isoliert und die Wirkungen getrennt betrachtet", erklärt Professor Nikolaus Franke. Die Experimente zeigen, dass Verteilungs- und Prozessgerechtigkeit eine ebenso wichtige Rolle spielen wie der "egoistische" Nutzen der Teilnehmer. Entscheidend bei der Fairness ist also, wie gerecht die Vorteile einer gemeinsamen Entwicklung aufgeteilt werden und wie klar die Regeln und Entscheidungsprozesse sind. Sind Letztere klar, könne das "Unternehmen aber durchaus das letzte Wort" bei Crowdsourcing-Projekten haben, so Franke.  

Auch die Kommunikationsberaterin Kerstin Hoffmann plädiert für einen fairen Umgang mit der Crowd: "Verschenken, was man weiß, verkaufen, was man nur selbst kann." Es mag verlockend klingen, die geballten "anonymen" Ressourcen des Internets ohne Gegenleistung zu nutzen, doch Erfolg prophezeit sie nur denen, die auch etwas "in die Crowd hineingeben". Geld oder andere materielle Vorteile müssen es gar nicht unbedingt sein, entscheidend sind immer auch die Freude am Wissensgewinn und das "Dabeisein". Besonders die Beispiele um "Citizen Science" und Crowdfunding zeigen, dass die Mitwirkung an bedeutsamen Forschungs- und Reportageprozessen vielen Teilnehmern ein hohes Maß an Motivation und Stolz vermittelt.  

Gemeinsam die Welt verbessern ist einer der aussichtsreichsten Ansprüche für Crowdsourcing-Projekte. So lief es bei Wheelmap.org, einer Berliner Plattform, die in gut einem Jahr mehr als 150.000 öffentliche Plätze in Großstädten kartieren und auf ihre Rollstuhltauglichkeit abklopfen konnte. Und so lief es auch bei jenen Hunderten von Freiwilligen, die in der Initiative Safecast seit März 2011 die verteilte Radioaktivität in der Provinz Fukushima messen. Wo immer Wirtschaft, Gesellschaft und Politik sich der Lösung eines Problems verweigern, werden sie in Zukunft damit rechnen müssen, dass eine Masse ihre Weisheit und Kraft dafür mobilisiert - und das nicht nur in arabischen Diktaturen.


Summary


Galt im 20. Jahrhundert die Masse als dumm und manipulierbar, führte die Kommunikationsrevolution dazu, dass eine Masse aus vielen Nutzern (Crowd) kollektive Intelligenz entwickeln kann. Während Unternehmen dabei häufig unter dem Verdacht stehen, die Masse nur für ihren eigenen Profit zu mobilisieren, können Forschungseinrichtungen und Universitäten erfolgreich damit argumentieren, dass man sich dort für Fortschritt und Erkenntnis engagieren kann. Unternehmensintern setzen manche Konzerne bereits auf elektronische Prognosemärkte, an denen sich alle Mitarbeiter beteiligen können, um beispielsweise Absatzchancen neuer Produkte zu prognostizieren. Jüngster Zuwachs bei den Crowd-Aktivitäten ist die Projektfinanzierung durch Crowdfunding.  


Textkasten: Crowd-Hacking mit Fawkes-Maske


"Anonymous" nennt sich eine kaum greifbare Crowd zahlloser Internetaktivisten, die gern zur Selbstjustiz schreiten und vor allem dort losschlagen, wo sie die Freiheit des Webs verletzt sehen. So wurden im Jahr 2010 Seiten von Kreditkartenfirmen lahmgelegt, die zuvor Konten von Wikileaks gesperrt hatten. 2011 wurden unter anderem Sony und die Beratungsfirma Stratfor zur Zielscheibe kollektiver Angriffe von Anonymous-Hackern. Allerdings griff Anonymous auch die Server staatlicher Stellen im Iran an, um gegen Menschenrechtsverletzungen anzugehen, sowie Seiten mit kinderpornografischen oder rechtsextremistischen Inhalten. Über Hierarchie oder Organisationsstruktur der Bewegung ist nichts bekannt. Treten Anonymous-Aktivisten in der realen Welt auf, tragen sie häufig eine Guy-Fawkes-Maske. Fawkes ist eine reale historische Figur: ein englischer Offizier, der 1605 das englische Parlament mitsamt der Königsfamilie in die Luft sprengen wollte. Die Gesichtszüge der Maske zeigen aber nicht die des Offiziers von 1605, sondern wurden 1982 von David Lloyd gezeichnet - für die Comic-Serie "V wie Vendetta", in der Fawkes eine Hauptperson war.

Der Beitrag von Christian Rauch ist erschienen in GDI Impuls 1/12, Seite 18-23


changeX 30.03.2012. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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Autor

Christian Rauch

Christian Rauch war zehn Jahre Projektmanager in der Forschung und Entwicklung des Mobilfunkkonzerns Vodafone. Seit 2010 schreibt er als freiberuflicher Publizist für verschiedene deutsche Tageszeitungen und Zeitschriften in den Bereichen Wissenschaft, Gesellschaft und Reisen. Rauch ist freier Mitarbeiter der Content5 AG, eines international agierenden Wissensdienstleisters in München. www.content5.com

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