Beständige Praxis

Über das Potenzial kleiner Einheiten - ein Gespräch mit Yogalehrer Patrick Broome
Interview: Winfried Kretschmer

Yoga gilt als zeitintensive und anspruchsvolle Praxis. Keine Übungsstunde unter 60 oder 90 Minuten ist die Regel. Ein bekannter Yogalehrer sagt nun: 15 Minuten täglich reichen, um eine beständige Praxis aufzubauen. Essenziell sind die Wiederholung und die Regelmäßigkeit. Ein Beispiel für das Potenzial kleiner Übungseinheiten - wenn man sie nur mit Beständigkeit verfolgt. Ein Mikroansatz.

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Mikro, das steht für einen kleinteiligen, kleinschrittigen, angepassten Modus, Dinge zu tun, der offensichtlich in ganz unterschiedlichen Bereichen an Bedeutung gewinnt. Wenn Patrick Broome eine Yogapraxis von 15 Minuten täglich empfiehlt, spricht er zwar nicht von Mikro, aber sein Ansatz lässt sich unter dieser Signatur verorten. Wie unser Gespräch zeigt. 

Patrick Broome, promovierter Psychologe und Yogalehrer, praktiziert und lehrt seit mehr als 20 Jahren Yoga. Seit 2005 ist der Autor mehrerer Bücher und einer App zudem Yogalehrer der deutschen Fußballnationalmannschaft. In seinem neuen Buch will er zeigen, dass schon 15 Minuten am Tag reichen, um Yoga zu einem festen Bestandteil des Lebens zu machen.
 

Yoga gilt als eine zeitintensive und anspruchsvolle Praxis. Bei Kursangeboten im Yogastudio oder der Volkshochschule sind 60 Minuten das Minimum, anderthalb Stunden der Standard. Da überrascht die Botschaft, dass 15 Minuten täglich reichen sollen. Reicht das wirklich? 

Es reicht, um eine eigene, beständige Praxis aufzubauen. 15 Minuten Yoga täglich ist wesentlich effektiver, geht tiefer und wirkt länger als ein- oder zweimal die Woche 90 Minuten. Denn ganz wichtig im Yoga ist die Regelmäßigkeit. Doch mit einer Regelmäßigkeit von einmal die Woche 90 Minuten kommen wir nicht an die Punkte, die Yoga berühren kann, wenn wir es jeden Tag machen würden. Und es gelingt eher, dranzubleiben, wenn man sich jeden Tag 15 Minuten Zeit nimmt.
 

Welche besonderen Punkte sind das, die Yoga berühren kann? 

Yoga wirkt auf mehreren Ebenen: körperlich, mental, geistig. Wenn wir eine langfristige Wirkung auf die autonomen Prozesse, die vom Gehirn gesteuert werden, erreichen möchten, dann braucht es diese Regelmäßigkeit. Wenn wir Themen wie Stress, Spannungskopfschmerzen, körperliche Verspannung, Verdauungsbeschwerden, schlechtes Ein- und Durchschlafen, nachlassender sexueller Hunger angehen wollen, dann erreichen wir das nur durch eine beständige, am besten tägliche Praxis. Sonst verharrt der Körper in festgesteckten Routinen. Setze ich aber jeden Tag einen gerne auch kürzeren Impuls, dann beginnt das System, sich allmählich umzubauen - hin zu einem Zustand von Gleichgewicht und Gesundheit.
 

Es ist einfacher, eine Gewohnheit zu entwickeln, wenn man eine tägliche Routine etabliert. 

Absolut. Für jemanden, der einmal die Woche eine Stunde Yoga in einem Studio macht, ist es besser als gar nichts. Der- oder diejenige wird sich sehr schnell körperlich besser fühlen. Aber um wirklich an diese tiefer liegenden Themen zu kommen, müssen wir alte Gewohnheiten brechen und durch neue Gewohnheiten ersetzen. Und das funktioniert eben leichter, wenn wir täglich üben. Und die Erfahrung ist, dass aus den 15 Minuten dann schnell 20 Minuten oder eine halbe Stunde werden. Die psychologische Hemmschwelle, zu beginnen, ist bei 15 Minuten aber viel geringer als bei einer längeren Einheit, die sich nicht so gut in den Alltag einbauen lässt.
 

Das ist auch meine Erfahrung: Schon eine sehr kleine Einheit reicht, um zu beginnen, und wenn sich das als neue Gewohnheit etabliert hat, kann man die Praxis erweitern. Der erste Impuls kann aber tatsächlich sehr kurz sein. 

Genau. Das ist das Ziel: Menschen dazu zu bringen, mit diesem kurzen Impuls zu starten und die Praxis dann vielleicht auszubauen. Die Erfahrung ist, dass 90 Prozent der Menschen sagen: Dieser kleine Impuls jeden Tag hat so einen positiven Effekt auf mein Wohlbefinden, dass ich weitermachen möchte.
 

Wie kam es denn zu der Idee dieser 15-Minuten-Einheiten? 

Der Anstoß kam über einen neuseeländischen Yogalehrer, Mark Whitwell, der das Buch Das 7-Minuten-Versprechen verfasst hat. Dieses Versprechen ist, jeden Tag wenigstens sieben Minuten in Form von Atmen und Bewegung etwas für sich zu tun. Ich mochte seine Praxis sehr, habe aber gemerkt: Sie dauert nicht sieben Minuten, sondern 15 Minuten. (Lacht) Dann habe ich mir gesagt: "Okay, dann lass es eben 15 Minuten sein." Ein weiterer Impuls war das Sieben-Minuten-High-Intensity-Training, das ich als körperlichen Work-out sehr schätze. Dabei wird empfohlen, zwei Sätze zu machen - das sind wieder 15 Minuten. 15 Minuten sind auch eine gute Zeit zum Meditieren; das schreckt nicht ab wie langes Sitzen, aber man kommt schon ganz gut in die Tiefe. So tauchten diese 15 Minuten wiederholt auf, und ich dachte: Jetzt schaue ich mal, was im Yoga alles in dieser Zeitspanne möglich ist.
 

Hat dabei auch die Entwicklung im Coaching- und Trainingsbereich hin zu Mikrotraining und Mikrolernen eine Rolle gespielt? 

Da bin ich nicht versiert drin; meine Ausbildung in Pädagogik und Psychologie liegt schon länger zurück. Aber ich bin ein absoluter Fan von kurz und intensiv. In allen Bereichen, schon immer. Insofern bin ich bei einem entsprechenden Ansatz, Inhalte kompakt zu vermitteln, sofort dabei. Denn ich denke, dass die Aufmerksamkeitsspanne der Menschen, die Zeit, sich intensiv konzentrieren zu können, sehr überschätzt wird. Nach 15 bis 30 Minuten intensiver Beschäftigung mit einer Sache schwindet die Aufmerksamkeit, und die Intensität geht verloren. 

Meine Arbeit mit den Fußballern weist ebenfalls in diese Richtung. Denn dabei wurde mir klar, dass ich die Praxis sehr verknappen muss, weil die Spieler schlicht wenig Zeit haben und alles sehr effektiv wollen. In der kurzen Zeit, die ich mit den Spielern arbeiten kann, meistens zwischen 15 und 60 Minuten, versuche ich, ihnen nach einem Spiel zu helfen, wieder runterzukommen von der hohen Anspannung, die sie im Wettbewerb haben, damit sie einen erholsamen Schlaf finden und in eine gute Regeneration kommen. Das passt gut in diesen Mikroansatz.
 

Ich denke, das ist eine generelle Entwicklung. Ich beobachte in unterschiedlichen Bereichen einen Trend zu kleinteiligeren, kleinschrittigen Vorgehensweisen, zum Beispiel in der Projektarbeit. 

Das kann ich nur unterstützen. Ich denke, es hat sich gezeigt, dass diese langfristige Planerei eh nicht funktioniert, weil nicht alle Variablen kontrolliert werden können und immer Dinge geschehen, die alles durcheinanderwerfen. Da ist es viel sinnvoller, in kleinen Mikroschritten zu planen, flexibel zu bleiben, um sich immer wieder neu auf die sich verändernde Situation einstellen zu können.
 

Und wie sieht das jetzt bezogen auf Yoga konkret aus? Es gibt ja eine ganze Fülle von Asanas. Wie baut man sich daraus ein Übungsset zusammen? 

In meinem Buch habe ich eine Reihe von Sequenzen zusammengestellt, die alle um die zehn, 15 Minuten dauern. Zentral dabei ist der Atem. Er steht immer im Vordergrund. Die moderne Forschung, die sich mit Yoga und dessen Wirkung beschäftigt, fokussiert sich immer mehr auf den Atem als zentrales Merkmal, das die positiven Wirkungen von Yoga erklärt. Das ist die eine Sache. Hinzu kommt: Im Yoga ist die Wiederholung ein ganz entscheidender Faktor. Es ist überhaupt kein Problem, über Jahre hinweg die gleichen Übungen zu machen. Es zeigt sich sogar, dass die Übungen durch die Wiederholung ihre Wirkung aus einer größeren Tiefe heraus entfalten können. Es braucht gar nicht immer wieder neuen Input, man muss nicht immer wieder etwas anderes ausprobieren. Das Essenzielle ist die Wiederholung.
 

Die Veränderung der Arbeit in der Coronapandemie, Stichwort Homeoffice, eröffnet ganz neue Möglichkeiten, den Tag zu gestalten. Dieser Ansatz der 15-Minuten-Einheiten erleichtert es, eine Yogapause in den Arbeitsalltag zu integrieren? 

Aktive Pausen sind viel erholsamer, als nichts zu tun, Zeitung zu lesen oder fernzusehen. Wir sind nach einer 15-minütigen Einheit viel klarer, bewusster, zentrierter, fokussierter als vorher. Das lässt sich also sehr gut in den Arbeitsalltag einbauen. 

Noch eine Beobachtung: Yogaunterricht im Studio hat coronabedingt im letzten Jahr kaum stattgefunden, sondern alles hat sich auf Zoom und andere Videoplattformen verlegt. Am Anfang waren das noch relativ lange Einheiten - weil die Anbieter wohl dachten, die Nutzer wollen das. Jetzt im letzten halben Jahr sind die Angebote dann aber immer kürzer und konzentrierter geworden, sind auf 15-, 20-, 30-Minuten-Einheiten heruntergeschmolzen. Weil man gemerkt hat, dass dafür viel mehr Bedarf da ist: für die kleine, intensive, aktive Pause, um sich wieder neu auszurichten.
 

Das ist interessant, dass es in diese Richtung geht … 

… es geht in diese Richtung. Die meisten Klicks auf YouTube haben die Einheiten, die klein und knapp sind, von 15 bis 25 Minuten. Die finden am meisten Zuspruch.
 

Dennoch: Liegt nicht eine gewisse Gefahr darin, dass die jahrtausendealte Praxis des Yoga zu einer Art Baukasten für zeitgeistadäquate Übungseinheiten wird? 

Yoga berührt ja viele verschiedene Aspekte. Und ich denke, es ist kein Problem, daraus auszuwählen und das, was einem am besten tut, zu praktizieren. Hier im Westen haben wir die letzten 20 Jahre hauptsächlich den körperlichen Aspekt des Yoga herausgestellt. Seit etwa vier, fünf Jahren vollzieht sich unter dem Schlagwort Mindfulness - also Achtsamkeit, Meditation - ein Umschwenken hin zu dem mentalen Aspekt, der heute immer mehr in den Vordergrund rückt. Es gibt sehr effektive kleine Sequenzen, die beides bedienen, den körperlichen und den mentalen Aspekt. Und die es erleichtern, indem man eine gewisse Zeit körperlich aktiv ist, dann besser in die Stille eintauchen zu können. 

Ein anderer Aspekt, der in Indien sehr verbreitet ist, nämlich Yoga als eine religiöse Zeremonie zu praktizieren, hat sich hier im Westen nie richtig durchgesetzt. Im traditionellen indischen Yoga gibt es die Praxis des ein-, zwei-, dreistündigen Übens, wie es hier im Westen vor ein paar Jahren dominant war, überhaupt nicht. Insofern gibt es "das Yoga" als einheitliche Praxis gar nicht.
 

Ein zweiter Einwand wäre: Auch wenn es diese Entwicklung hin zu der meditativen Komponente gibt, besteht bei kurzen 15-Minuten-Einheiten nicht die Gefahr, dass gerade dieses Moment zu kurz kommt? 

Weiß ich nicht. Es gibt auch die andere Möglichkeit, den körperlichen Anteil zu verkürzen. Sagen wir so: Man kann Yoga sehr sportlich betreiben, braucht aber viel Zeit, um wirklich ins Schwitzen zu kommen. Wenn wir diesen vordergründig körperlichen Aspekt aber etwas zurücknehmen und das sportliche Training wieder auf Joggen, Laufen oder Radfahren verlagern, dann führen wir Yoga auf das zurück, was es besonders macht: die mentale Wirkung. Und benötigen dann viel weniger Zeit dafür. Es braucht nur einen kleinen körperlichen Impuls, um anschließend in eine Atemübung und in eine Konzentration zu gehen.
 

Interessant ist, dass sich auch im Bereich Meditation eine Entwicklung hin zu kleinteiligeren, kürzeren Elementen beobachten lässt, oft verbunden mit digitalen Formaten. 7Mind zum Beispiel oder andere Apps. 

Ich habe in meiner Ausbildung noch gelernt: Damit Meditation wirkt, muss man sehr lange still sitzen, am besten in einem Yogasitz, der bei uns Westlern die Knie kaputt macht. Ich habe das auch lange praktiziert, ich habe aber die Erfahrung gemacht, dass diese neuen Apps und themengeführte Meditationen, die mit ihrer Konzentration auf Mitempfinden, auf Vergebung, auf geistige Klarheit einen mentalen Input in die Meditation hineingeben, einen schnell viel weiter bringen, als nur still zu sitzen. Die Einheiten der Meditation sind dadurch kürzer geworden, aber auch tiefer.
 

Wie setzt man diesen Mikroansatz am besten in der Praxis um? 

Beginnen mit kleinen Einheiten. Sich aus den Übungen, die einen ansprechen, ein eigenes kleines Programm zusammenstellen. Und schauen: Was für eine Wirkung hat das auf mein tägliches Leben? Geht es mir jetzt besser als vorher oder nicht?
 

Das Interview haben wir telefonisch geführt. 


Zitate


"15 Minuten Yoga täglich ist wesentlich effektiver, geht tiefer und wirkt länger als ein- oder zweimal die Woche 90 Minuten." Patrick Broome: Beständige Praxis

"Die Aufmerksamkeitsspanne der Menschen, die Zeit, sich intensiv konzentrieren zu können, wird sehr überschätzt. Nach 15 bis 30 Minuten intensiver Beschäftigung mit einer Sache schwindet die Aufmerksamkeit, und die Intensität geht verloren." Patrick Broome: Beständige Praxis

"Zentral ist der Atem. Er steht im Yoga immer im Vordergrund." Patrick Broome: Beständige Praxis

"Aktive Pausen sind viel erholsamer, als nichts zu tun, Zeitung zu lesen oder fernzusehen. Wir sind nach einer 15-minütigen Einheit viel klarer, bewusster, zentrierter, fokussierter als vorher. Das lässt sich also sehr gut in den Arbeitsalltag einbauen." Patrick Broome: Beständige Praxis

"Im Yoga ist die Wiederholung ein ganz entscheidender Faktor. Durch die Wiederholung können die Übungen ihre Wirkung aus einer größeren Tiefe heraus entfalten." Patrick Broome: Beständige Praxis

 

changeX 29.04.2021. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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Quellenangaben

Zum Buch

: Patrick Broome Yoga für dich. So einfach ist es, täglich Yoga zu üben. Knaur Balance, München 2020, 176 Seiten, 20 Euro (D), ISBN 978-3-426-67592-2

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Autor

Winfried Kretschmer
Kretschmer

Winfried Kretschmer ist Chefredakteur und Geschäftsführer von changeX.

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