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Unsichtbare Arbeit

Mental Load: Arbeit, die nicht gesehen wird - ein Gespräch mit Patricia Cammarata
Interview: Winfried Kretschmer

Mental Load, das ist die endlose To-do-Liste im Kopf. Voll mit Arbeiten, die getan werden müssen, die aber nicht gesehen werden. Weil sie selbstverständlich sind: unsichtbare Arbeit, wie es sie überall gibt, in der Familie, in der Pflege, in Klein- und Kleinstunternehmen. Das Konzept des Mental Load nutzt Erkenntnisse aus der Projektorganisation, um Familienarbeit besser zu verstehen.

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Patricia Cammarata ist Autorin, Bloggerin und Podcasterin. Die ausgebildete Psychologin hat das Konzept des "Mental Load" in Vorträgen, Workshops und Artikeln im deutschsprachigen Raum bekannt gemacht. In ihrem Buch Raus aus der Mental Load-Falle beschreibt sie, wie gerechte Arbeitsteilung in der Familie gelingt, so der Untertitel. Ihr Blog dasnuf wurde mehrfach ausgezeichnet. Patricia Cammarata lebt mit ihren Kindern und ihrem Partner in Berlin.
 

Frau Cammarata, was verbirgt sich hinter dem Begriff Mental Load? 

Mental Load ist die Verantwortungslast, die meist eine Person in der Familie trägt, damit alle Prozesse rund um Haushalt und Kinder laufen und die gewünschten Ergebnisse bringen. In der freien Wirtschaft sagt man dazu Projektmanagement.
 

Sie machen eine Parallele auf zwischen Projekt und Familie. Das heißt, die Organisation einer Familie lässt sich als ein Projekt begreifen? 

Ja, das kann man vergleichen. Eine wichtige Erkenntnis für mich war die Einsicht, ein kleines Familienunternehmen zu leiten.
 

Diese eine Person, die die Verantwortungslast für die Familienorganisation trägt, ist meist die Frau. Wie erfahren Frauen diesen Mental Load? 

Mental Load, das ist diese endlose To-do-Liste, die permanent vor sich hin rattert. Auch, wenn man abends auf dem Sofa sitzt oder einzuschlafen versucht. Das entwickelt sich schleichend. Es kommen mehr To-dos, es kommt mehr Koordinationsaufwand, mit dem ersten gemeinsamen Kind zum Beispiel. Das kommt einfach auf ein Paar zu, und es versucht, damit umzugehen. Wie gut das gelingt, hängt immer auch von den persönlichen Ressourcen und Möglichkeiten ab. Es kann gut sein, dass sich alles super organisieren lässt - bis man beim zweiten oder dritten Kind plötzlich merkt: Jetzt wird es wirklich zu viel. So war das bei mir. Das ist ein schleichender Prozess, und das macht es so schwierig.
 

Wo, würden Sie sagen, liegt der Unterschied zum Burnout? 

Burnout ist ein sehr fortgeschrittenes Stadium von Mental Load. Die ersten Symptome sind deckungsgleich. Angefangen von einer Dauererschöpfung, die nicht mehr auf Schlafmangel allein zurückzuführen ist. Hinzu kommt eine Dauergereiztheit, weil das engmaschige Organisationssystem, in das man eingebunden ist, ständig Druck entstehen lässt. Das sind klare Warnsignale. Wer dann nicht aktiv wird, läuft Gefahr, in einen Burnout hineinzurutschen. Frauen müssen lernen, sich nicht immer zuständig zu fühlen.
 

Mental Load - woher stammt der Begriff eigentlich? 

Den Begriff gibt es schon länger, in der Soziologie vor allem. Populär geworden ist er 2017 durch einen Comic der französischen Zeichnerin Emma, der viral gegangen und mehrere Millionen Mal gelesen worden ist. Dadurch hat das Wort Einzug in die Allgemeinsprache gehalten.
 

Was hat Sie daran angesprochen? 

Der Aha-Moment. Zunächst habe ich dies als erfundene Geschichte einer fremden Frau wahrgenommen - dann aber feststellt: Huch, das ist ja genau mein Leben! Das hat mich aufwachen lassen. Der Comic schildert eben nicht die individuelle Situation einer bestimmten Frau, sondern betrifft ganz viele Frauen. Ihnen kommt diese Situation sehr bekannt vor: Es gibt eine gewissermaßen unsichtbare Arbeit, die auch deshalb wenig Wertschätzung genießt, aber doch sehr belastend ist. Es ist eine Belastung, die man spürt, aber nicht so richtig greifen kann. Für mich fühlte sich das an wie eine Diagnose, auf die ich lang gewartet hatte - endlich ein Wort zu bekommen für eine Belastung, die sehr, sehr präsent ist.
 

Inwiefern ist diese Arbeit unsichtbar? Weil es so selbstverständlich ist, dass sie getan wird? 

Ganz viele Tätigkeiten werden getan, ohne dass der Handelnde ausspricht, was er gerade tut. Es wird auch vieles koordiniert, ohne dass man die einzelnen Schritte formuliert. Diese koordinativen Tätigkeiten laufen automatisiert im Hintergrund ab. Es kommt ein neues To-do und muss in die bestehenden To-dos eingeordnet werden. Dieser koordinative Anteil ist es aber, der die unsichtbaren To-dos zusammenhält. Dieser Prozess wird in der Regel nicht verbalisiert. Genau das macht Mental Load aus.
 

Ist das ein geschlechtsspezifisches Phänomen insofern, als Männer oftmals nicht sehen, was an Hausarbeit alles dranhängt? 

Es ist ein geschlechtsspezifisches Problem, weil wir von klein auf beigebracht bekommen, wer für was zuständig ist. In unserer Sozialisation bekommen wir Rollenstereotype vermittelt. Mit diesen weiblichen und männlichen Rollen, die wir zu übernehmen haben, ist eine Aufgabenspezialisierung verbunden. Allein dadurch, dass wir diese Rollen ausfüllen, leben wir den Kindern vor, wofür sie in ihrer Zukunft zuständig sein werden. 

Diese Schieflage trat erst durch die steigende Erwerbstätigkeit von Frauen ans Tageslicht. In Westdeutschland war es ja nicht so verbreitet, dass Frauen gleichermaßen erwerbstätig sind. Damit war dieser Mental Load mit den ganzen To-dos auch leichter zu bewältigen. Aber mit zunehmender Berufstätigkeit von Frauen tritt dann einfach eine Überlastung ein.
 

Dieser unsichtbare Anteil erinnert an das bekannte Bild eines Eisbergs, dessen größter Teil sich unter der Wasseroberfläche verbirgt. 

Das ist ein aussagekräftiges Bild. Ganz viele Tätigkeiten sind so alltäglich, dass sie nicht gesehen werden. Im Berufsleben ist es genauso. Wenn alles läuft, nimmt die Arbeit niemand wahr. Klappt mal etwas nicht, wird plötzlich klar, wie komplex diese Aufgabe eigentlich ist, die sonst einfach erledigt wird.
 

Ist Mental Load Frauensache? In erster Linie zumindest? Grundsätzlich ist das nicht nur Frauensache. Natürlich gibt es auch Dinge, für die Männer sich verantwortlich fühlen und ebenso nicht jedes Mal erklären, was sie tun. Das ist der Punkt beim Mental Load: Hier geht es nicht um Schuldzuweisungen. Sondern darum, transparent zu machen, was sich durch Kompetenzaufbau an Wissen angesammelt hat. Dann erst wird der unsichtbare Teil klar. Unsichtbar heißt auch, dass dem Mann der Umfang bestimmter Tätigkeiten oft erst klar wird, wenn er sie einfach mal selber ausprobiert. Und so Kompetenz aufbaut.
 

Ist der Mental Load in der Coronakrise gewachsen? Untersuchungen weisen darauf hin, dass Homeoffice stark zulasten der Frauen geht. Also ihre Belastung steigt, weil der Anteil der Betreuungsarbeit wesentlich höher ist als bei Männern. 

Das würde ich auch so sehen. Das entspricht meiner subjektiven Wahrnehmung und deckt sich mit den Studien, die ich gelesen habe. In der Krise ist ein Großteil der Arbeitslast auf die Frauen zurückgefallen. Zum Beispiel Akademikerhaushalte. Gleichberechtigung bedeutet dort vielfach nicht, dass Paare sich die Belastung gleichermaßen aufteilen würden. Sondern dass genug Geld da ist, um einige der Belastungsanteile, die auf die Frauen fallen, aussourcen zu können: durch Lieferdienste fürs Essen, durch Wäschedienste, durch externe Betreuung oder andere Formen, Leistung hinzuzukaufen. Das aber ist durch den Lockdown auf einen Schlag weggefallen - und es gab kein Konzept, wie die Arbeitslast unter Partnern neu aufgeteilt werden könnte. Sie ist dann einfach wieder auf die Frauen zurückgefallen.
 

Was kann man nun tun? Oder, um den Untertitel Ihres Buchs zu zitieren: Wie kann eine gerechte Arbeitsteilung in der Familie gelingen? 

Das gelingt am besten durch regelmäßige Gespräche, so banal das klingt. Es geht erst einmal darum, Transparenz zu schaffen. Also eine Form zu finden, das Unsichtbare sichtbar zu machen. Das kann sein - wenn man Excel mag wie ich -, die Tätigkeiten umfassend in Excel-Listen zu hinterlegen. Oder indem man eine Mental-Load-Map anlegt und alle Tätigkeiten an einer Wand anträgt. Das ist der erste Schritt: Erst mal einen Überblick schaffen. Das kann schon recht eindrucksvoll sein, wenn man sieht, was da zusammenkommt - und über das eigentlich nie gesprochen wird! 

Zweitens ist es extrem hilfreich, einmal wöchentlich eine Planung zu machen - dabei eben auch das Thema Verantwortlichkeiten anzugehen. Es gilt also, die ganze Aufgabe zu übertragen, einschließlich der Verantwortung dafür! Sonst fällt es auf die ursprünglich verantwortliche Person zurück, wenn etwas schiefgeht. 

Erst wenn Planung und Koordination mit übernommen wird, weicht langsam der Druck aus dem Kopf. Und, ganz wichtig: Mit der Übernahme der Aufgabe inklusive Verantwortung kann der Partner die erforderliche Kompetenz aufbauen. Und der andere lernt das Zutrauen, das es braucht, um die Verantwortung wirklich loslassen zu können. Das ist aber ein Prozess, der ein bisschen dauert. Und der am Anfang natürlich auch erst mal noch Energie zusätzlich kostet.
 

Sie haben vorhin recht plastisch beschrieben, wie der Mental Load gewachsen ist vom ersten zum zweiten zum dritten Kind. Eine ironische Frage: Haben Sie es denn mit einem besseren Zeitmanagement versucht? 

Schon. Das Tolle ist: Das funktioniert nicht. "Getting things done" oder andere Wundersysteme scheitern beim Thema Mental Load. Denn hier geht es ja nicht darum, Aufgaben besser zu koordinieren, sondern Verantwortung zu teilen. Und Verantwortung teilen geht nicht durch Trennung und Spezialisierung, sondern paradoxerweise durch das Gegenteil: indem man Dinge zusammen macht. Dieses Zusammenmachen ist eben nicht maximal effizient, sondern gibt das Wissen und die Verantwortung auf zwei Personen. Die Last halbiert sich dadurch. 

Das ist etwas ganz anderes, als über To-dos zu sprechen. Bei To-dos ist Aufgabenspezialisierung das Thema. Das kennt man aus Fabriken. Da soll Spezialisierung sicherstellen, dass die Produktion läuft. Aber so funktioniert das in einer Familie eben nicht. Hier braucht es geteilte Verantwortung und eine Doppelung der Kompetenzen.
 

Effizient ist das ja nicht gerade, wenn zwei Personen dasselbe tun. 

Das ist richtig. Aber man kann ja dieses Effizienzparadigma infrage stellen. Effizienz ist also nicht immer sinnvoll. In der Familie geht es eben nicht ums Optimieren. Sondern darum, dass beide Partner wissen, was zu tun ist, dass beide die einzelnen Schritte kennen und beide alle Informationen haben, die notwendig sind, um diese Aufgaben ordentlich zu erfüllen."
 

Wenn Sie Ideen aus der Projektorganisation auf die Familienorganisation anwenden - agile Methoden in der Projektarbeit zielen darauf, transparent zu machen, was getan wird, von wem es getan wird, wann es getan wird, und ein gemeinsames Verständnis darüber herzustellen. Ist das der Punkt?? 

Mental Load reduzieren geht nicht ohne ständiges Verhandeln und Miteinandersprechen. Es geht nicht darum, Haushalt und Kinder besser zu organisieren. Im Gegenteil: Es geht um Transparenz und um ein gemeinsames Verständnis. Und: Weglassen, Freiräume schaffen, loslassen, das schafft Erleichterung.
 

Das Interview ist die Kurzfassung eines längeren Gesprächs, das im Magazin erschienen ist. Es wurde per Telefon geführt. 


changeX 23.10.2020. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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Quellenangaben

Zum Buch

: Raus aus der Mental Load-Falle. Wie gerechte Arbeitsteilung in der Familie gelingt. Mit Illustrationen von Teresa Holtmann. Beltz Verlag, Weinheim und Basel 2020 2020, 224 Seiten, 17.95 Euro (D), ISBN 978-3-407-86632-5

Raus aus der Mental Load-Falle

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Autor

Winfried Kretschmer
Kretschmer

Winfried Kretschmer ist Chefredakteur und Geschäftsführer von changeX.

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